»Gute Reise, mein Schatz!«
Räto hilft mir noch, ein paar Gestecke vor den Sarg zu stellen, dann bleiben wir einfach eine kurze Zeit vor dem Sarg stehen. Daniela nickt auf einmal, sagt »So!« und dreht sich um, Räto tut es ihr nach, und wir gehen.
»Wissen Sie«, sagt Daniela, »jetzt weiß ich, dass Beat auf seine Reise gehen muss, manchmal kann man es sich nicht aussuchen, wann und wohin man reist. Ich habe den Fehler gemacht, dass ich gedacht habe, er würde einfach ohne mich weggehen. Aber ich bin inzwischen dahintergekommen, dass er mein Mann geworden ist, in guten wie in schlechten Zeiten. Jetzt ist es vielleicht eine schlechte Zeit, und er kann jetzt nicht mehr mein Mann sein, aber vielleicht treffen wir uns eines Tages irgendwo, irgendwie wieder, das weiß doch keiner. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich im Jenseits wiedersieht, ist zumindest genauso groß wie die, dass man sich nicht wiedersieht, also hoffe ich mal das Beste. Hier und jetzt ist er weg und für mich unerreichbar, das Leben geht aber weiter, und hier in dieser Welt muss ich ohne ihn klarkommen. Es hat keinen Zweck, jetzt erzwingen zu wollen, gemeinsam irgendwohin zu gehen.«
»Vor allem«, sage ich, »beträgt die Wahrscheinlichkeit, Ihrer Theorie nach 50 Prozent, und es wäre Dummheit, hätten Sie Ihr Leben für eine fünfzigprozentige Chance weggeworfen. Wenn es im Jenseits ein Wiedersehen gibt, dann gibt es das in vierzig Jahren auch noch.«
Danielas Schwiegervater klopft mir auf den Rücken, nennt mich einen Pfundskerl und bewundert Daniela, weil sie sich so viele Gedanken gemacht hat. »Morgen geht Beat dann?«, sagt er mehr, als dass er es fragt, und ich nicke.
»Gut, dann gehen wir jetzt nach Hause, damit wir morgen fit sind für den allerletzten Abschied«, sagt er.
Daniela tritt vor, streichelt noch einmal über den Sarg, dreht sich dann abrupt um und geht mit Räto hinaus. Über die Schulter wirft sie nochmals einen Blick auf den Sarg und ruft leise: »Tschüss!«
Stoffel und die Autonummern
Einer meiner Cousins hat einen Sohn, der das Down-Syndrom hat, früher sagte man, diese Menschen seien mongoloid. Ich liebe diesen jungen Mann, der – wenngleich nach Jahren schon erwachsen – immer einen total abgegriffenen Teddybären mit sich herumschleppt und zu jedermann lieb und freundlich ist. Ihm fehlt die Fähigkeit zu abstrahieren, und so kommt es, dass manchmal kleine Ereignisse des Tages für ihn zu einer Katastrophe werden können, etwa wenn sein Löffel beim Essen auf der falschen Seite des Tellers liegt. Aber, man mag es glauben oder nicht, das sind auch schon seine größten Sorgen. Ansonsten hat er keine, macht sich keine, und sein Vater sagte mir einmal: »Manchmal beneide ich ihn, der steht jeden Morgen frohgelaunt auf, und ihm scheint die Sonne aus dem Arsch.«
Den Stoffel kennt in unserem Stadtteil jeder. Stoffel heißt eigentlich Herbert und ist behindert. Wie man diese Behinderung nennt, weiß ich nicht, aber offensichtlich ist er mit etwa 14 Jahren im körperlichen Wachstum stehengeblieben und nur noch gealtert. Seine geistige Entwicklung entspricht wohl der eines Vier- oder Fünfjährigen. Ich kenne Stoffel seit mindestens zwanzig Jahren, er muss jetzt ungefähr 40 sein, vielleicht auch etwas älter, so genau kann man das nicht einschätzen. Stoffel ist also geistig behindert, kann etwas sprechen, kurze Sätze, aber keine längeren Unterhaltungen führen.
Am allerliebsten schreibt er Autonummern auf und hat zu diesem Zweck immer ein Notizbuch und einen Bleistift dabei. An einer Schnur um seinen Hals hängt ein Anspitzer, und ab und zu spricht er wildfremde Leute an: »Onkel, kannst du mal schreiben?« Dann deutet er auf das Kennzeichen eines Autos und freut sich ein Loch in den Bauch, wenn man ihm das Kennzeichen in sein Buch schreibt. Er selbst schreibt natürlich auch, doch das ist nur Gekritzel. Man tut aber gut daran, seine Schreibkünste immer zu loben, wenn er sie einem zeigt, denn sonst ist Stoffel traurig, und das will ja keiner.
Ich muss zugeben, an Stoffel habe ich einen kleinen Narren gefressen. Vor Monaten gab es nämlich einen hässlichen Zwischenfall mit und um Stoffel, der ihn und seine Mutter beinahe umgebracht hätte.
Die in unserer Gemeinde recht bekannte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, die mir schon mehrfach unangenehm aufgefallen ist, ging an einem Oktobertag auf den Friedhof, um ein Grab für Allerheiligen vorzubereiten. Dabei sei ihr der Stoffel gefolgt und habe ihr über den ganzen Friedhof nachgestellt. Das kann ich durchaus nachvollziehen, denn so was macht Stoffel hin und wieder. Wenn ihm jemand gut gefällt, läuft er demjenigen auch gerne mal bis zur Haustür nach und freut sich einfach, einen netten Menschen getroffen zu haben. Mehr als ein paar nette Worte oder eben eine Autonummer will er ja gar nicht von einem. Mit mir hat er das auch schon gemacht, und als ich ihm einen Schokoriegel schenkte, hat er sogar eine Seite mit Autonummern aus seinem Buch herausgerissen und sie mir voller Stolz als Gegengeschenk überreicht.
Dass Stoffel so ist, weiß hier jeder, und auch die Birnbaumer-Nüsselschweif muss es gewusst haben. Stoffel sitzt oft ganze Nachmittage mit den kleinen Kindern im Sandkasten auf dem großen Spielplatz und backt Kuchen aus Sand. An anderen Tagen fragt er auch schon mal Passanten nach einer Zigarette. Stoffel raucht nicht, weiß vermutlich gar nicht, wie das geht, aber es macht ihm Freude, mit der Zigarette im Mund herumzulaufen, und er ist dann immer ganz stolz.
Ganz besonders mag Stoffel alte Frauen, die er durchweg Omama nennt und denen er einfach die Einkaufstaschen abnimmt und nach Hause trägt. Selbstverständlich erwartet er dafür auch eine Bezahlung: ein Bonbon, ein Kaugummi oder auch einen alten Knopf – egal. Hauptsache, er bekommt seine Bezahlung. »Viel Arbeit«, sagt er dann und beeilt sich, damit er schnell wieder zur Hauptstraße kommt, um ja keine neue Autonummer zu verpassen.
Aber wie gesagt, manchmal läuft er auch Leuten, die er interessant findet, einfach hinterher, bohrt dabei ungeniert in der Nase und freut sich. Genau das muss er mit der Birnbaumer-Nüsselschweif an jenem Oktobertag gemacht haben.
Jedoch wäre das allein als Grundlage der dauernden Entrüstung der Birnbaumer-Nüsselschweif wohl nicht ausreichend gewesen, weshalb sie wenig später bei der Polizei behauptete, der Stoffel habe sich vor ihr entblößt. Daraufhin griff eine Streife den Stoffel auf und brachte ihn auf die Wache, von wo aus man seine Mutter verständigte. Frau Weiß, Stoffels Mutter, kam auch sofort und hörte sich an, was die Beamten und die ebenfalls anwesende Birnbaumer-Nüsselschweif zu berichten hatten.
Stoffel begriff gar nicht, was los war. Er hatte nur ganz rote Ohren vor Freude, weil er in einem Polizeiauto mitfahren durfte. »Lalülala«, sang er leise vor sich hin. Frau Weiß sah die Beamten skeptisch an.
»Sagen Sie, Herr Wachtmeister, haben Sie vielleicht Herberts Hose zugemacht?«
Der Beamte schaute verdutzt, schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Nein, wieso? Die war doch gar nicht auf.«
»Na, sehen Sie, dann hat sich Stoffel auch nicht entblößt. Der kann sich die Hose nämlich gar nicht selbst zumachen.«
Dann drehte sich Frau Weiß zur Beschwerdeführerin um und fragte: »Oder haben Sie, Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, meinem Sohn seine Hose wieder ordentlich mit der Sicherheitsnadel zugemacht, nachdem er sich vor Ihnen angeblich entblößt haben soll?«
»Ich werde diesen Exhibitionisten doch nicht noch anfassen«, entrüstete sich die Missbrauchte.
Die Beamten ließen die ganze Sache einfach auf sich beruhen. Stoffel durfte mit seiner Mutter nach Hause, und die Birnbaumer-Nüsselschweif tat, als sei die Sache damit für sie erledigt, unterließ es aber nicht, die Geschichte im Stadtteil breitzutreten.
In den ersten Tagen sprach man überall davon, die Mehrzahl der Leute glaubte die Geschichte jedoch nicht. Aber einige wenige meinten, man wisse »bei so einem« ja nie … Nein, weiß man wirklich nicht. Auch geistig Behinderte haben sexuelle Bedürfnisse, und möglich ist alles, aber in diesem Fall war die Sicherheitsnadel ein unüberwindbares Hindernis und Stoffels Freispruch.
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