Jens heißt der junge Mann, der von der Brücke gesprungen ist, und seine Eltern heißen Dieter und Carola. Wir brauchten gar nicht bei ihnen anrufen, sie kommen gegen Abend von selbst vorbei, bringen eine Mappe voller Dokumente mit und sitzen einfach nur fassungslos da.
Muss ich sagen, dass Dieter und Carola unisono berichten, es gäbe auch nicht den geringsten Anlass für Jens’ Todessprung?
»Wir sind doch eine ganz normale Familie, so was hat es bei uns noch nie gegeben«, sagt Vater Dieter, und Mutter Carola schüttelt nur immer wieder den Kopf, wischt sich ihre Tränen ab und beteuert: »Wir haben doch alles für ihn getan.«
Einmal mehr zeigt sich, dass man niemanden so wirklich kennt, niemanden, manchmal nicht mal sich selbst …
Dieter und Carola Eisner sind leer. Welche Eltern machen sich schon Gedanken darüber, was mal sein wird, wenn sie eines ihrer Kinder beerdigen müssen? Es gibt genügend ältere Menschen, die sich keine Gedanken über ihr Ableben machen, und sie hinterlassen oft Angehörige, die hilflos beim Bestatter sitzen und noch nicht einmal wissen, ob der Verstorbene verbrannt werden wollte oder nicht.
Bei Älteren denke ich dann manchmal, dass die sich ja nun wirklich schon mal mit dem Thema hätten beschäftigen können, schließlich sehen sie, das sich um sie herum der Bekannten- und Verwandtenkreis immer mehr ausdünnt.
Zunächst einmal kann ich den Eisners nur helfen, indem ich sie durch die Vorbereitungen der Trauerfeier leite und sie berate. Ich frage also nach der Bestattungsart, und Frau Eisner und Herr Eisner antworten gleichzeitig, sie sagt: »Jens soll verbrannt werden«, und er sagt: »Auf keinen Fall einäschern.«
Das Ehepaar schaut sich an, er fasst ihre Hand, sie zuckt mit den Achseln.
Ich versuche zu beraten, weise auf die Laufzeiten der Gräber und die Ruhezeiten hin, erkläre den Ablauf der Trauerfeier und zeige die Unterschiede zwischen einer Erd- und einer Feuerbestattung auf. Vielleicht ergibt sich daraus eine Entscheidungshilfe für die Eisners.
Sie sind immer noch unschlüssig, diskutieren miteinander, und jeder von ihnen erinnert sich daran, dass ihr Sohn bei irgendwelchen Gelegenheiten mal das eine, mal das andere gesagt haben soll.
»Was für ein Grab soll es denn sein?«, erkundige ich mich.
Herr Eisner sagt: »So ein großes, für die ganze Familie.«
Ich rechne ihnen vor, was so ein Familiengrab kostet, weise auf ihr junges Alter hin und zeige ihnen auf, dass sie dreißig Jahre oder länger ein großes Familiengrab bezahlen und pflegen müssten, obwohl da nur ein Verstorbener bestattet wäre.
»Das wäre ja auch Quatsch, oder was meinst du«, fragt Herr Eisner seine Frau, doch die zuckt wieder nur mit den Achseln und schüttelt den Kopf.
»Wer soll denn noch alles in das Grab?«, frage ich nochmals nach, und Herr Eisner sagt: »Na, der Opa, also der Vater meiner Frau. Die Oma ist ja schon vor zehn Jahren gestorben, und ihre Urne ist in so einem kleinen Minigrab, so was wollen wir auf keinen Fall.«
»Wenn das so ist, dann könnte man doch ein Familiengrab nehmen. Ich wusste ja nicht, dass es da noch Eltern gibt. Also würde man jetzt den Jens dort beisetzen, dann den Großvater, wenn man mal von der normalerweise zu erwartenden Reihenfolge ausgeht, und wenn Sie das so wollen, können wir in ein paar Jahren auch die Urne der Oma noch dort mit hineingeben.«
Frau Eisner fasst sich etwas, nickt heftig und sagt: »Das wäre schön, so habe ich mir das eigentlich immer gewünscht.«
»Ja, dann …«, sagt Herr Eisner, bricht ab und schaut seine Frau an, während er ihre Hände hält. Sie sagt mit fragendem Ton: »Kevin?«, und er nickt. Dann wendet er sich an mich: »Es ist nämlich so, dass wir vor dreiundzwanzig Jahren schon einmal ein Kind hatten. Kevin ist mit vier Monaten gestorben, das Grab ist auch noch da.«
»Hm, dreiundzwanzig Jahre ist aber an der Grenze, normalerweise sind Kindergräber da schon abgelaufen.«
»Das wissen wir. Das ganze Feld ist schon vor ein paar Jahren abgelaufen, aber es sind da noch ein paar Gräber am Rand, die laufen noch bis nächstes Jahr, und dann wird das ganze Feld plattgemacht. Offiziell sind die anderen Gräber schon abgelaufen, aber wir können das Grab noch pflegen, bis es dann so weit ist. Meine Frau würde das Grab am liebsten gar nicht hergeben, aber da die Ruhezeit für Kinder so kurz ist, sagen die von der Verwaltung, dass da jetzt alles vorbei ist.«
»Ich bezweifle auch, dass da noch wirklich viel in der Erde ist. Ob man da überhaupt an eine Umbettung denken sollte … Man müsste mal mit der Verwaltung sprechen. Was aber auf jeden Fall geht und machbar ist, wir können dann entweder auf den Grabstein am neuen Familiengrab Kevin mit aufführen oder noch einen kleineren Gedenkstein auf das Grab legen.«
Frau Eisner macht große Augen, tippt mit dem Finger auf meinen Notizblock und sagt: »Schreiben Sie das bitte so auf! Ich will nicht, dass da was ausgegraben wird, aber wenn wir schon ein Grab für die ganze Familie bekommen, dann soll der Kevin wenigstens mit auf dem Stein stehen.«
So diskutieren wir fast eine halbe Stunde über Gräber, Grablaufzeiten, Ruhefristen, und unten im Keller liegt ein junger Mann in der Kühlung, der von einer Brücke gesprungen ist. Über ihn verlieren die Eisners kaum ein Wort, sagen nur das Notwendigste. Offenbar hilft es ihnen momentan, sich mit dem anderen Drumherum zu beschäftigen, dann müssen sie nicht an diesen Fall denken.
Es führt aber kein Weg daran vorbei, auch für Jens müssen jetzt Entscheidungen getroffen werden.
Ich lege unser Formular wieder zuoberst auf meinen Stapel und fordere die beiden nochmals auf: »So, jetzt müssen wir aber entscheiden, ob Jens eingeäschert wird oder nicht.«
Herr Eisner ergreift das Wort: »Sie haben da vorhin so was gesagt, dass man auch eine Urnentrauerfeier machen kann. Wie war das noch mal ganz genau? Ich glaube, das wäre genau das Richtige für uns. Dann käme doch eine Feuerbestattung in Frage.«
»Nun, bei einer normalen Beerdigung steht ja der Sarg in der Trauerhalle, alle Trauergäste nehmen dort an der Trauerfeier teil, und anschließend begleiten sie den Sarg zum Grab, wo dann die Beerdigung stattfindet. Ein gemeinsamer Gang, ein Weg. Bei einer Feuerbestattung sieht das in den meisten Fällen anders aus. Da steht auch der Sarg in der Halle, es gibt ebenfalls eine Trauerfeier, aber dann ist alles ziemlich abgeschnitten. Die Trauerfeier endet, der Sarg bleibt stehen und wird später ins Krematorium gebracht. Eine oder zwei Wochen später ist dann erst die Beisetzung der Urne. Man muss wieder auf den Friedhof, geht zum Grab, hat also zwei schwere Gänge auf den Friedhof. Besser finde ich persönlich die Urnentrauerfeier. Wir würden Jens, wenn Sie sich dann für eine Feuerbestattung entscheiden würden, schon sehr bald ins Krematorium bringen und dafür sorgen, dass die Urne recht zügig zur Verfügung steht. In etwa acht bis zehn Tagen könnte dann auf dem Friedhof eine Trauerfeier stattfinden. Vorne steht dann statt des Sarges die Urne, alle Trauergäste nehmen an der Trauerfeier teil und begleiten dann die Urne zum Grab und nehmen an der Beisetzung teil. Das hat mehrere Vorteile: Zum einen braucht man für die Einäscherung keinen besonderen Sarg nehmen, das einfachste Modell genügt, denn den Sarg sieht ja niemand. Zum anderen hat man nur einen schweren Gang auf den Friedhof, weil alles zusammen passiert, diese einsame Urnenbeisetzung entfällt.«
»So machen wir das!«, sagt Frau Eisner, blickt ihren Mann an und sagt: »Dieter, ich will da vorne keinen Sarg stehen haben, ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass da Jens drinliegt. Bei einer Urne ist das irgendwie was anderes.«
Er nickt, und ich mache das Kreuz bei »Feuer«.
»Ich muss dann jetzt auch keinen Sarg raussuchen, oder?«, will Frau Eisner wissen, und ich schüttele den Kopf: »Nein, müssen Sie nicht. Vielleicht die Urne …«
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