Es knackt hinter mir, und ich zucke zusammen. Vielleicht habe ich doch zu viel »LOST« geguckt, und kurzfristig denke ich darüber nach, ob es auch bei uns »die Anderen« geben mag oder irgendwelche schrecklichen Kreaturen, die einen in den Wald ziehen.
Morgen früh bei Tageslicht würden sie dann meine Leiche finden, blutüberströmt, mit Stricken in den Baumwipfeln aufgehängt …
Wieder knackt es, und ich zucke zusammen. Doch dann erkenne ich die Gestalt von Flensen, der aus dem Nebel herbeigestapft kommt, spärlich von den Rücklichtern angestrahlt.
»Ein Ast, Sie hatten recht, nur ein dicker Ast«, sagt er, macht hinten die Klappe vom Auto auf und wirft mir eine der beiden Schaufeln zu. Männer müssen in solchen Situationen nicht viel reden, und so scharren wir mehr als wir schaufeln den lehmigen Waldboden um die eingesunkenen Räder weg.
»Wenn wir da noch die Fußmatten drunterlegen und ich feste schiebe, kommen wir vielleicht raus«, meint Flensen.
Ich schaue mir Flensen an, und in Anbetracht seiner schmächtigen Figur sage ich: »Nee, ich schiebe, und Sie fahren.«
Er nickt, und ich weiß in diesem Moment, dass er später in der Firma stolz erzählen wird, dass der Chef die Karre in den Dreck gefahren hat und er sie dann wieder rausfahren musste. Aber das ist mir jetzt gerade egal, Hauptsache, wir kriegen die Karre wieder flott.
Flensen legt den Rückwärtsgang ein, gibt Gas, ich drücke vorne an der Haube, doch der schwere Wagen bewegt sich kaum, der Boden ist viel zu glatt und matschig, und Winterreifen haben wir noch nicht montiert. Das glatte Profil der normalen Reifen rutscht nur so durch.
»Mehr links drücken, rechts packt er, glaub ich!«, ruft mir Flensen zu, und ich drücke auf der linken Seite. Flensen gibt ordentlich Gas, und endlich greift auch das linke Vorderrad, mit einem Satz befreit sich der Wagen, nicht ohne mich von oben bis unten mit Lehm zu bespritzen.
Ich habe zwar Lehm zwischen den Zähnen und im Gesicht, aber ich bin glücklich, dass wir weiterfahren können. Flensen bleibt am Steuer, ich werfe die Schaufel wieder hinten auf die Decke neben dem weißen Sarg für Schwester Klara, schließe die Klappe, und wenig später sitze ich wieder vorne neben Flensen, und wir fahren langsam rückwärts durch den nebligen Wald.
An ein Wenden des langen Wagens ist gar nicht zu denken, und ich bewundere meinen Angestellten, wie er nur mit den beiden Außenspiegeln trotz der schlechten Sicht klarkommt.
Ich bin sicher kein schlechter Fahrer, aber die Jungs vom Fahrdienst haben das besser drauf.
Es kommt mir vor, als wären wir fast eine halbe Stunde langsam rückwärts gefahren, da hält Flensen an, deutet vor uns in den Nebel: »Da, da hängt das blaue Schild.« Doch sosehr ich mich bemühe, ich kann in der Nebelsuppe nichts erkennen.
»Chef, Sie hätten Ihre Brille aufsetzen sollen!« Jetzt fängt der auch noch an! Reicht es nicht, dass meine Frau immer auf meiner angeblichen Kurzsichtigkeit herumreitet?
Er dreht das Steuerrad und biegt in den Seitenweg ein, und im letzten Moment sehe ich tatsächlich auch so etwas wie ein blaues Schild. Ich fluche insgeheim, weil ausgerechnet im Volvo keine Taschenlampe mehr liegt. Gekauft habe ich von den sündhaft teuren Handscheinwerfern erst zwei, und die wandern jetzt ständig von einem Auto zum anderen, was zur Folge hat, dass sie immer in den Wagen liegen, die im Keller stehen.
Aus dem Dunkel taucht ein weiterer Wegweiser auf, und jetzt können wir sicher sein, wirklich auf dem richtigen Weg zu sein. Die Fahrt, die bei Tag nur ein paar Minuten dauert, kommt mir vor, als wären wir Stunden unterwegs, alles sieht bei Dunkelheit und Nebel fremd und unbekannt aus. Vor allem kann man die Geräusche der Nacht noch weniger orten als sonst. Es fehlt einem jegliches Gefühl dafür, woher die Geräusche kommen.
Unvermittelt teilen sich Nebelschwaden, und direkt vor uns ragt das alte Gemäuer des Klosters auf. Es hat aber nicht diese friedliche Atmosphäre, die es tagsüber ausstrahlt, sondern irgendwie wirkt es heute beunruhigend auf mich.
Flensen schaut mich fragend an, ich sage: »Hupen Sie, das sollte reichen.« Er hupt, und selbst die Hupe des Wagens klingt quäkend und dumpf.
Nein, das Tor öffnet sich nicht knarrend, und es steht auch keine bucklige alte Nonne mit einer windschiefen Laterne da, die uns hereinwinkt, wir sind ja nicht in der »Rocky Horror Show«, sondern es öffnet sich fast lautlos, und wir werden kurz von einer hellen Lampe geblendet, dann weist der Lichtkegel den Weg. Langsam fahren wir über den knirschenden Kies in die Einfahrt, und als ich den Lichtfinger entlangschaue, sehe ich eine sehr junge Nonne, blass, mit großen Augen und, sofern man das über eine Klosterfrau sagen darf und trotz der Ordenstracht sehen kann, hübsch.
Sie winkt mit einem Handscheinwerfer, aber hier im Klosterhof ist es bei weitem nicht so neblig wie draußen auf den Waldwegen, wo der Nebel von den Feldern in den Wald ziehen kann. Den Rest des Weges kenne ich, etwa zweimal im Jahr müssen wir dorthin.
Ich zeige Flensen, wo er hinfahren muss, und wir steigen neben dem Wirtschaftshaus aus. Dort hat früher ein Gärtner mit seiner Frau gewohnt, und soviel ich weiß, hat der auch ganz früher die Gräber ausgehoben. Aber der ist schon lange nicht mehr da, und heute wohnen die etwa dreißig Nonnen sehr abgeschieden. Mich wundert es umso mehr, dass eine junge Frau in diesen Konvent eingetreten ist.
Die hat inzwischen das Tor geschlossen, ist zu uns gekommen und fragt: »Sie wissen, was zu tun ist?« Ich nicke, und sie lächelt zufrieden und sagt: »Auf dem Friedhof haben wir die Stelle mit etwas Mehl abgestreut, etwas anderes haben wir nicht.«
»Hoffentlich können wir was sehen, wir haben keine Lampe dabei«, sage ich zu ihr, und sie hält mir wortlos ihren Handscheinwerfer hin, den ich dankbar nehme. Ich könnte mich selbst in den A* beißen, dass ich nicht vorher kontrolliert habe, ob Lampen im Wagen liegen, es kommt ja mehrmals in der Woche vor, dass wir nachts rausmüssen.
Jensen und ich holen die zwei Schaufeln und die Hacke aus dem Laderaum und gehen durch eine kleine, efeuumrankte Pforte auf den Friedhof des Klosters. Viele Gräber gibt es hier, ich schätze etwa achtzig oder neunzig. Alle neueren haben ein steinernes Kreuz, die älteren auch welche aus Schmiedeeisen. Gepflegt sind die Gräber schon, aber der gesamte Friedhof macht den Eindruck, als würde nur das Notwendigste gemacht, irgendwelchen Grabschmuck sieht man gar nicht, die Gräber sind sämtlich mit grobem Kies abgedeckt.
Weiter hinten sehe ich tatsächlich die angesprochene Markierung. So ungewöhnlich die Idee ist, so wirkungsvoll ist sie, mit einer Handvoll Mehl haben die Nonnen grob ein Rechteck auf den Boden gestreut, und so wissen wir, wo wir anfangen müssen.
»Das wird aber eine Schinderei«, mault Flensen. »Ich glaube, ich hole mir die Gummistiefel.«
»Meinetwegen«, brumme ich und probiere mit der Hacke, wie hart der Boden ist. Ich selbst vertraue lieber auf meine Arbeitsschuhe. Flensen stellt die Lampe auf ein benachbartes Kreuz und stapft zurück.
Der Boden ist nicht hart, nur pappig und klebrig. Das macht die Schaufelei schwer und mühsam, aber man muss Gott sei Dank nicht viel hacken.
Ich habe ja schon mal geschrieben, dass moderne Bestatter nichts mehr mit dem Grabbau zu tun haben. Normalerweise wenigstens. In manchen Regionen ist es aber auch heute noch so, dass ein Bestatter einen ganzen Friedhof bewirtschaftet und auch die Arbeit des Totengräbers mitmacht. Bei uns ist das aber nicht so, und deshalb war ich damals vor fast zwanzig Jahren sehr erstaunt, als mein Schwiegervater – damals noch mein Chef – mit mir zu diesem Kloster fuhr und ich von ihm lernte, wie man so etwas, nur mit Hacke und Schaufel, macht.
Das ging mir so durch den Kopf, als ich gemeinsam mit Flensen das Grab für Schwester Klara schaufelte. Was das bedeutet, das kann nur einer beurteilen, der so was schon mal gemacht hat. Kein Wunder, dass die Serienmörder im Fernsehen ihre Opfer immer nur so tief verbuddeln, dass jeder dahergelaufene Dackel schon am nächsten Morgen einen Fuß oder eine Hand der Leiche hervorscharren kann. Entweder ist nämlich der Boden oben ganz weich und wird dann steinig oder hart, oder man schafft sich erst quasi durch blanken Granit, und dann kommt leichter Sandboden. Egal wie, Plackerei hoch drei ist angesagt.
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