»Lassen Sie mich mal!«, sagt Flensen und kommt herum, zieht auch ein bisschen am Tau, und tatsächlich, es gibt etwas nach, und wir können es 20 oder 30 Zentimeter herausziehen.
Flensen beugt sich zur Seite, nimmt die Handlampe, die inzwischen nur noch spärlich Licht spendet, und leuchtet in das dunkle Grab.
Schon wieder flucht er: »Ach du Scheiße!«, und weicht einen Schritt zurück.
Da stehen zwei erwachsene Männer in der Halloween-Nacht neben einem frisch ausgehobenen Grab. Eine Szene wie im Mittelalter, nur dass die Lampe, mit der wir ins Grab leuchten, aus schlagfestem Kunststoff ist und kein brennender mit Pech getränkter Lappen an einem Holzprügel … Obwohl, viel mehr Licht als eine mittelalterliche Fackel spendet diese moderne Handlampe auch nicht mehr.
»Ich fasse es nicht!«, staunt Flensen und deutet in das Grab.
Im schwachen Schein der Lampe sehe ich, was passiert ist: das Tau hat das Tuch beiseitegeschoben oder gerissen und Schwester Klaras rechten Arm freigelegt. Mit knochigen, starren Fingern hält sie den Strick fest umklammert.
»Das ist nur ein Reflex«, beruhige ich meinen Mitarbeiter und überlege fieberhaft, ob das wirklich sein kann. Sicher, Tote zeigen oft noch Reflexe, wenn man sie bewegt, und wenn der Arm gebeugt wird, kann es durchaus sein, dass die Hand sich öffnet oder schließt.
»Und was, wenn die nicht tot ist?«, will Flensen wissen.
»Dann hätte sie bestimmt schon was gesagt, das ist nur ein Reflex!«
»Und jetzt?«
»Jetzt muss einer von uns beiden da runter und den Strick aus ihrer Hand lösen. Außerdem muss der Arm wieder in den Sarg, sonst bekommen wir den Deckel nicht drauf«, sage ich.
»Ja klar, und der eine, der da runtermuss, das bin ich oder?«
»Hmmm«, ist alles, was ich dazu sage, und »Scheiße« ist alles, was Flensen zu sagen hat.
Ein paar Minuten später steht Flensen breitbeinig über der Leiche von Schwester Klara, die Füße auf dem Rand des Sarges und versucht, die starren Finger der Toten zu lösen.
»Ziehen Sie mal am Strick!«
Ich ziehe, und siehe da, endlich geht es.
»Verfluchte Kacke«, tönt es aus dem Grab, und ich helfe Flensen heraus. »Chef, an manchen Tagen hasse ich meinen Job!« Ich weiß ganz genau, was er meint, ganz genau.
Den Deckel können wir gut von oben auflegen, und ich schiebe ihn noch mit der Latte genau in die Nut des Unterkastens, da fängt Flensen schon an, das Grab zuzuschaufeln.
Ich helfe ihm. Das geht wesentlich schneller als das Ausheben, viel schneller.
Kaum eine halbe Stunde später ist alles erledigt, und wir klopfen die Erde auf dem neuen Grabhügel noch etwas fest. Dann räumen wir unseren Krempel zusammen.
Gerade ist alles im Auto verstaut, da taucht die ältere Nonne wieder auf. »Ist Ihnen alles gut von der Hand gegangen?«, will sie wissen, und Flensen und ich schauen uns nur an. Ich nicke müde: »Ja, alles wunschgemäß erledigt.«
»Vergelt’s Gott!«, sagt die Klosterfrau und bittet uns, ihr zu folgen.
Ich darf mich etwas säubern, und dann gibt es endlich die langersehnte heiße Suppe.
Eine Kürbisrahmsuppe. Wie passend zu Halloween.
Wie schnell redet man abfällig über Menschen, die einfach nur anders sind als man selbst. Wie schnell vergisst man, dass jeder das Recht hat, auf seine Weise glücklich zu werden. Herr Rose hat mir da auf sehr berührende Weise gezeigt, dass anders auch schön ist.
Sandy kommt zu mir ins Büro, grinst etwas merkwürdig und meint, da draußen sei ein Kunde, der genau das Richtige für mich sei. Also gehe ich in die Halle und treffe dort auf eine Mischung zwischen Rudi Carrell und Charlys Tante.
Der große, grauhaarige Mann ist bunter angezogen, als man es sich vorstellen kann; besonders seine zweifarbig gestreiften Schuhe fesseln meinen Blick. An den Ohren trägt er wenigstens zehn Zentimeter lange Ohrringe aus Glitzerklunkern. In meinem dunklen Anzug komme ich mir fast deplaziert vor.
»Ach, endlich kommt da jemand«, begrüßt er mich, und dabei hält er mir seine Hand hin, die ich ergreife und schüttele. »Mein Name ist Rose, aber Sie können mich Röschen nennen, mich nennen alle so.«
Daniel Edmund Rose ist 62 Jahre alt und hat den Tod seines Lebenspartners zu beklagen. Der ist gestern im Krankenhaus mit 59 Jahren an den Folgen eines Diabetes verstorben.
»Sie werden mich für einen Paradiesvogel halten, und ich bin genau das, ein Paradiesvogel, und mein Kalli war das auch. Ich will die schönste, bunteste und schrillste Beerdigung der ganzen, weiten Welt.«
Na, machen wir doch!
Röschen bezeichnet sich selbst und seinen verstorbenen Partner als schwul, und als ich das Wort »homosexuell« verwende, sagt er: »Sie können ruhig schwul sagen! Wir haben das immer ausgelebt, und ich will nicht, dass man irgendwas verstecken muss.«
Die Überführung des Verstorbenen werden wir heute noch vornehmen. Morgen früh bringt Röschen die Kleidung, die der Verstorbene tragen soll, und wird mir dann auch sagen, wie der Blumenschmuck aussehen soll. Die Trauerfeier ist bei uns im Haus, und Röschen erwartet rund vierzig bis sechzig Trauergäste.
»Sie brauchen keine Angst zu haben, wir machen hier nicht ›Ein Käfig voller Narren‹, aber ich will, dass es absolut perfekt wird«, sagt Röschen, entscheidet sich für einen grünen Sarg und wählt ein Doppelgrab, damit sie später mal zusammenliegen können.
Der grüne Sarg ist fast mein Lieblingssarg. Von der Form her ist er nur ein kleines bisschen größer als ein ganz schlichter Sarg, hat aber sechs schwere chromfarbene Griffe. Er ist in einer Technik lackiert, die man auch von Autos kennt: bicolor. Das Grün ist dunkel, und je nach Blickwinkel kippt die Farbe in ein ganz dunkles Blau um, wie bei einem Wackelbild. Das sieht sehr edel aus und ist mal ganz was anderes als das ewige holzfarbene Allerlei.
Ich muss ehrlich sagen, dass mich Röschen beeindruckt hat. Ich habe schon viele Homosexuelle gesehen, die sich sehr tuntig gegeben haben, aber der war so was von authentisch und dabei würdevoll, dass man das nicht mal komisch finden konnte. Morgen früh erfahre ich mehr darüber, wie sich Röschen eine »absolut schrille Beerdigung« vorstellt.
Am Nachmittag dann trifft Kalli bei uns ein, und eigentlich will ich mich entspannt zurücklehnen und abwarten, wie sich dieser Fall morgen weiterentwickelt. Doch die Sache hat eine unangenehme Wendung bekommen: Vor wenigen Minuten hat sich der Vater des Verstorbenen gemeldet. Er habe erfahren, dass sein Sohn gestorben sei, und trotz seiner 83 Jahre wolle er die Sache nun in die Hand nehmen.
»Da war aber schon jemand da und hat so weit schon alles geregelt«, sage ich vorsichtig.
»Jaja, da kann ja jeder kommen! Es ist ja wohl selbstverständlich, dass ich mich selbst darum kümmere. Sie müssen wissen, mein Sohn ist krank gewesen.«
»Das weiß ich. Man sagte mir, er habe Diabetes gehabt …«
»Ach was, daran ist er bloß gestorben. Der hatte diese andere Krankheit … Sie wissen schon.«
Ich stelle mich dumm und sage: »Nein, ich weiß ich nicht.«
»Der hatte diese, diese … na eben diese Männerkrankheit, meine Güte.«
Soll ich dem alten Mann, der offensichtlich mit der Homosexualität seines Sohnes nicht zurechtkommt und auch nichts darüber weiß, jetzt sagen, dass er ein bornierter Blödmann ist? Das kann ich nicht. Wenn ich richtig verstanden habe, dann waren Röschen und Kalli »verpartnert«, sind also vor einem Standesbeamten eine der Ehe ähnliche und gesetzlich vollständig gültige Bindung eingegangen. Damit verbunden ist, dass Röschen nunmehr – so weit mein Kenntnisstand – auch der Bestattungspflichtige und -berechtigte ist.
Genau das muss ich dem alten Herrn nun klarmachen: »Bitte verstehen Sie, dass der Lebenspartner Ihres Sohnes bei mir war und uns bereits einen Auftrag erteilt hat. Wenn Sie möchten, kann ich mit Herrn Rose sprechen, ob Sie nicht morgen bei der Besprechung dabei sein können und wir …«
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