In einer Morgenrunde kündigte Magnus dann an, er wolle einen kurzen Vortrag zum Thema halten, und zwar als Beitrag zum nahenden Sommerfest. Wer wolle, der möge kommen. Traditionell war das Sommerfest der Psychiatrie eine zwanglose Begegnungsmöglichkeit zwischen Personal, Ärzten, Verwandten und Patienten. Alles sollte leicht, handhabbar und sonnenbetupft sein. Die Patienten zeigten ihre frühsportlichen Übungen mit den Hula-Hoops und den Plastikkeulen, die Verwandten applaudierten und machten mit, später kamen sie bei Mürbeteig und Erdbeertee mit den Ärzten, die sie nur aus der zeitoptimierten Sprechstunde kannten, ins Gespräch.
Die Sonne war prall, der Andrang groß, auch und gerade vor Magnussens improvisiertem Infostand. Er stand da, das Mikro in der Hand, mit Plakaten und Bannern hinter sich, den Tisch voller Erzeugnisse aus den Therapien, und wartete, bis die Menge leiser wurde. Dann hob er an, die Fassbrause in der Hand:
«Werte Damen und Herren! Liebe Mitpatienten, sehr geehrte Pfleger, Schwestern, Ärztinnen und Ärzte, geliebte Putzfrauen und Köche, werte Fahrer und Pförtner, liebe Leute! Es ist nicht viel, was ich zu sagen habe, und ich will weder Ihre Gemüter noch Ihre Herzen oder Geister lange traktieren, denn der Tag ist zu schön, um ihn mit den Donnerwolken der Faktenlage zu verdüstern. Und dennoch: Lassen Sie mich ein paar Worte an Sie richten, die erklären mögen, von welcher Art und Beschaffenheit, neben all den schönen und zerstreuenden Schauplätzen, die dieses Sommerfest Ihnen sonst in Hülle und Fülle zu bieten hat, der bescheidene Projekttisch ist, vor dem zu stehen Sie uns gerade die Ehre erweisen. Das Öl wird immer teurer. Die Preisexplosion belastet Konjunktur und Börsen. Kriege werden im Namen des Öls, seiner räudigen Geschwister und gierigen Väter geführt. Was wir auch anfassen, es kommt vom Öl und geht zum Öl zurück. Wir nun von der Station 5.1 haben uns in den letzten Wochen und im Rahmen unserer Möglichkeiten Gedanken zu diesem Komplex gemacht, ein jeder auf ihre oder seine Weise. Die Produkte dieses gemeinsamen Gedankenspiels können Sie hier bestaunen und für einen Euro das Stück erstehen.»
Das Publikum rückte näher. Gegenstände wurden in die Hand genommen und freundlich begutachtet.
«Noch immer ist es der Ölpreis, der alles prägt. Oh, der Ölpreis! Ein wahres Swamp Thing ist er, ein schleimiges Monster aus dem Morast des vergangenen Jahrhunderts, aus dem Moor der letzten Jahrmillionen, ein bloßes Spekulationsobjekt, das erstens vom Staat, nämlich den Steuern, zweitens von der menschlichen Psyche, nämlich den Erwartungen, Hysterien und Krisen der Märkte, und drittens von der Marge, also der notwendigen Gewinnsucht und Überbietungslogik der Unternehmen, geformt wird. Und dieses Etwas bestimmt unser Leben? Bestimmt die Preise der Äpfel, die wir essen, die Miete der Wohnungen, in denen wir leben, die Wahl der Partner, die wir ehelichen? Und das, wo die Ölquellen derzeit rasant versiegen? In fünf Jahren, werte Damen und Herren, ist eh Zapfenstreich im Ölgewese. Und die Wüste, sie wird leben.»
Magnus zwinkerte Thorsten beiläufig zu, der mit Strohhut und Sonnenbrille getarnt am Rande der Menschentraube lungerte und Whiskey aus einer Colaflasche trank.
«Wir sind es, die den Ölpreis festsetzen sollten. Wir, die wir ihn zahlen, wir, die wir ihn täglich mitbestimmen. Wir und niemand anders. Wir müssen uns nur unserer Kraft bewusst werden. Das habe ich, Magnus Taue, zusammen mit meinen Mitstreitern auf der Station 5.1, während meiner erfreulichen Wiederherstellung an diesem schönen Ort der Heilung gelernt. Und diese Erkenntnis ist Teil meiner Genesung. Und einen Splitter von dieser Erkenntnis, von dieser Einsicht und Gesundung wollte ich Ihnen, wertes Publikum, eröffnen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe, wir konnten Ihnen einen Gedankenanstoß mit auf den Weg geben, und wünsche Ihnen nichts weniger als einen wunderschönen Tag.»
Die Menge lockerte sich auf. Einige kauften noch ein Batikhemd, eine Schachfigur oder ein mit Tippfehlern gespicktes Pamphlet. Der Niedlichkeitsfaktor war erheblich. Man redete darüber, wie wahr im Kern die Rede des Patienten T. doch sei, und wohlformuliert, und so frei wie druckreif vorgetragen; aber was solle man machen, als zum Trost einen Euro dazulassen für den mit gutem Willen gefertigten Tand. Dann nickten manche in sich hinein und wunderten sich, zu was für Gedanken die Patienten in ihrer Hospitalisierung doch imstande waren. Eine Besucherin beschloss, das Auto erst morgen abzuholen und lieber in der nächsten Bar noch einen Wein zu trinken, ganz so wie früher. Nebenan sprangen blonde Kinder auf einem Trampolin herum, und je tiefer die Sonne stand, desto flacher wurden auch ihre Sprünge.
Magnussens Hyperaktionismus und Renitenz schienen nun langsam erschöpft, der Überschuss an quasi-revolutionärem Potenzial sein harmonisches Ende gefunden zu haben: Ein Vortrag über das Öl war es gewesen, ein höflicher, freundlicher und informativer Feiertagshinweis, mehr nicht. Die Ärzte registrierten dies zufrieden. Die Pfleger freuten sich nüchtern. Die Schwestern tuschelten und kicherten und zerstreuten sich dann auch.
In dieser Atmosphäre der Erleichterung kamen Laura und Magnus schließlich tatsächlich zusammen, auf die zarteste Weise: Sie küssten einander kurz und innig. Es passierte abseits des Standes, in einer Ecke zwischen Sophienhaus und Notaufnahme, jenseits des Gewimmels und zwischen flimmernden Schatten. Sie hatte ihm, der leicht aufgewühlt in dieser Ecke stand und die rote Ziegelwand betrachtete, ein paar Früchte und Wasser mitgebracht. Zum Dank hatte er ihre Hand genommen. Dann war es passiert.
Laura hatte dabei das erste Mal seit langem eine Empfindung, die nicht nur ihre Haut, ihr Fleisch, die Narben und Haare und Blicke betraf, sondern die von innen her kam und doch nicht unordentlich war. Sie fühlte etwas.
Sich, unter anderem.
Das war neu.
ACHTER TEIL STEIG NACH UNTEN, SCHWARZER KAISER
Ein Unternehmen, das täglich Profite braucht wie ein Süchtiger seine Dosis, ist eben auch ein unbelehrbarer Psychopath. Sein Wille ist fest und trotzig, sein Blut kein Blut, sondern siedend heißes Gold: Gold aus den Erzen, Grubengold, Schmiergeld, schwarzer Diamant und verzinstes Herzblut, denkbar menschlich. Ein gepanzertes Hirn hat teil am großen Puls der Welt, der durch die Pipelines strömt, in den Kabeln sirrt, über die Tabellen wabert, aus dem die Medien tickern — so wie alle ticken und weben und spannen und leben.
Karin hatte es von Eva gehört, und zwar, dass Raoul mit Franz gesprochen hatte, und zwar von wegen Annie und Thomas, weil Valery und Karl am Ku’damm gesehen hatten, dass Peter über Walter mit Claire, als Magnus dann mit Hanne, weil Laura ja Viola; während x von y wusste, dass b a geküsst hatte, als Laura es Thorsten ansah, dass p φ q, und zwar via Skype.
Kurz und gut: Eine Telefonlawine war in Gang gesetzt worden. Oder nennen wir es, der längst vollbrachten Medienrevolution gewahr, eine Medienlawine.
Magnus hatte Thorsten, der inzwischen willenlos und besoffen im Aufenthaltsraum vor dem Stationsfernseher herumhing und still vor sich hin rülpste (der Fernseher, der die Patienten mit seinen ständigen Welt-Updates und hysterischen Nachrichtenpartikeln kirre machte, sagte ihm nichts), endgültig von seinem Plan überzeugt.
Und zwar so:
«Thorsten, ich habe da eine Idee», sagte Magnus.
«Ach, nee. Der Herr, eine Idee? Eine Magnus-Idee? Das Magnum-Eis neu erfinden, vielleicht?»
«Ich würde eher sagen: eine maximale Idee.»
«Ah so. Aaah so. Na dann.» Thorsten hatte seinen skeptischen Blick aufgesetzt, verengte Sehschlitze, Blick zur Seite, bei ihm nur in der alkoholverglasten Version und also weniger scharf und nachdrücklich.
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