Als er in den Raucherraum zurückkehrte, fiel ihm eine Veränderung auf; etwas an der Atmosphäre war weniger suppig und stickig, etwas war heller, lichter; hatte jemand das Fenster geöffnet? Sein Blick fiel auf Laura, die ihn gefasst ansah, die Tränensäcke noch immer dunkel, der Mund noch immer eine einzige verlaufene Flutsche. Links saßen die grauhäutige Theaterautorin und der Tabakkrümeltürke, die Depressiven und ihre schweigsamen Verwandten, alles wie gehabt.
Doch da hinten, in der Ecke am Fenster, da saß jemand, der vorher nicht da gesessen hatte. Im Gegenlicht war sein Gesicht durch den Rauch nicht gleich zu erkennen; die Haare standen ab, der Körper wirkte aufrecht und doch leicht verwachsen. Die Zigarette lässig bis elegant mit abgeknicktem Handgelenk von sich weghaltend, flötete dieser Jemand den Rauch mit fast schon angeschwulter Nonchalance aus gespitzten Lippen hervor und fixierte Thorsten mit großen, rauchblauen Augen. Der Qualm wirbelte auseinander und wurde dünner und gab den Blick frei auf das Gesicht dieses Mannes. Er fixierte ihn weiter, Thorsten starrte zurück: Diese Augen kamen ihm bekannt vor, so wie der ganze Typ. Da erkannte er ihn.
Es war Taue.
Thorsten glaubte seinen Augen nicht.
«Du, hier?», entfuhr es ihm.
Taue sagte nichts, lächelte, nickte. Er schien den Moment zu genießen wie einen lange erwarteten Galaauftritt, obwohl seine Gesichtsfarbe dem widersprach.
Dann begann Taue, fast wie aus dem Off, zu reden.
«Ja, auch du, lieber Thorsten, wirst dich fragen, was um alles in der Welt dein Bekannter Magnus hier an diesem Ort zu tun hat. Unter uns: Er weiß es selbst nicht, oder auch: Er wusste es schon immer.»
Taue stand auf, als wäre er im Büro von Françoise Starck und nicht im Raucherraum einer psychiatrischen Abteilung. «Ja, auch ich frage mich, was hier eigentlich los ist, warum ich etwa, sagen wir es offen, hier bin.»
Thorsten stutzte. Was sollte das?
«Lieber Thorsten, ich werde dir und deiner liebreizenden Gemahlin namens Laura hier — ob ihr verheiratet seid, das weiß ich freilich nicht — ein paar Dinge erzählen, die vielleicht umreißen mögen, warum und wie ich hier gelandet bin.»
Taue hatte die Hände in die Seiten gestemmt, weil er keine Hose anhatte, in deren Taschen er sie hätte verstecken können. Er trug nur ein Nachthemd.
«Erstens muss ich sagen, dass ich — um der Wahrheit Genüge zu tun und auch einmal Tacheles zu reden — nach meinem ersten Selbstmordversuch, nein, lass mich genauer zählen, es war sogar der zweite, ja, das muss der zweite gewesen sein — warum ich, als ich die 110 anrief, ja, liebe Laura, lieber Thorsten — , warum ich da eigentlich nicht von der Polizei abgeholt wurde, sondern von einem unfreundlich berlinernden Polizeibeamten an den Taxidienst weiterverwiesen wurde, dessen Nummer mir selbstredend nach sage und schreibe einhundertfünfzig Paracetamol nicht sofort einfallen wollte. Das wäre erstens zu fragen.»
Alle atmeten und rauchten. Thorsten schwieg.
« Zweitens möchte ich fragen», fuhr Magnus fort, «warum ich bereits dreimal in meinem Leben in Handschellen abgeführt wurde, obwohl ich es doch bin, der sich am meisten Gedanken über diesen verdammten Scheißstaat macht.»
Laura erschrak. «In Handschellen?»
«In Handschellen.»
«Wieso das?», fragte Thorsten gereizt.
«Ja», sagte Magnus und blickte aus dem Fenster, « das ist hier die Frage.»
Alle atmeten und rauchten.
«Ja. Ich, zugegeben etwas druff, drüber und durch, kam am einundzwanzigsten zwölften zweitausendacht in meiner Heimatstadt an. Dort nahm ich seltsamerweise ein Hotelzimmer, um noch etwas mit mir alleine zu sein, und zwar etwa genau drei Kilometer sowohl vom Reihenhaus meiner Mutter als auch von meiner alten Schule entfernt. Seltsam, ja, aber legal, und ich zahlte auch morgens um sieben den Preis für das heruntergekommene, mehr einer Absteige als einem wirklichen Hotel gemäße Zimmer. Dann ging ich los, energetisch und elegant. Ich wollte meine alte Schule besuchen, nach all den Jahren. Den Heiligen Berg hinauf, schnell und entschlossen. Die Auffahrt hochgetrabt, ging ich auf die Schule zu, auf das eiserne Tor. Dort standen ein paar Menschen und waren untätig; auch stand da ein Polizeiwagen, der mich gleichwohl nicht kümmerte. Weshalb auch? Gerade war ich also im Begriffe, das Schulgebäude zu betreten, da zeigte ein mir unbekannter Herr auf mich, der verdächtig nach Lehrer aussah, und kaum hatte ich mich versehen, pressten mich die beiden Polizisten auch schon mit aller Kraft gegen die Wand, sodass kleine Steine und Brocken zerstiebenden Materials sich in meine Wange drückten. Sie durchsuchten mich, der ich einige CDs und Bücher in meiner Safari-Weste mit mir trug, und schmissen diese Sachen achtlos auf den Boden. Nach etwa fünf Minuten intensiven Durchsuchens ließen sie mich los. Ich sollte die Hände aber beständig oben halten, was nur schlecht gelang, da mir diese Körperhaltung erstens fremd und zweitens absolut widernatürlich ist. Aber das war nicht der Grund für die Handschellen. Die Handschellen wurden mir angelegt, weil es so Usus ist bei den Gesetzeshütern. Sie arretierten sie sehr stark; hier ist die Narbe heute noch.» Er hielt sein linkes Handgelenk hoch, eine Narbe war in dem Qualm nicht zu sehen.
«Ich landete auf der Polizeiwache, wurde dort sechs Stunden vernommen und schließlich in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie des Landeskrankenhauses Bonn gebracht. Hier enthüllte es sich. Ich hatte Pech gehabt: Ein Hauptschüler aus Unkel hatte in der Nacht zuvor eine Amokdrohung in die Netzwelt gechattet, und ich war am falschen Ort zum falschen Zeitpunkt in der falschen Verfassung gewesen. Sie behielten meinen Computer über Weihnachten ein. Vorher war mein Kopf brutal gegen die Oberkante eines Türrahmens gewuchtet worden; zudem wurde ich mit einer Pistole bedroht. Aber das tut nichts zur Sache und gehört nicht zum Sachverhalt.»
Alle atmeten und rauchten. Fragen standen in der Luft.
«Den zweiten Vorfall, einen Fall von lauter Musik um zehn Uhr abends an einem verlorenen Samstag in Berlin-Kreuzberg — ich lasse ihn aus. Er ist nichtig, wiewohl dort das erneut hochbrutale Vorgehen der Polizei aufgrund der Nichtigkeit des Anlasses noch unverständlicher erschien.» Magnus legte den Kopf schräg und lächelte.
«Und den dritten Vorfall — nun, deshalb bin ich heute hier. Es war in einer U-Bahn. Die meisten Anwesenden in diesem Raucherraum werden die Umstände und den Tathergang kennen, denn ich habe den Vorfall bereits einige Male erzählt. Hier sehe ich meinen Schuldbeitrag sogar ein. Und dennoch», sagte er, «dennoch habe ich das unerschütterliche Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt. Und dass sich so mancher, darunter ich, in dieser ehrenwerten Institution befindet, obwohl er gar nicht hier hineingehört. Und dass sich draußen einiges umkehren müsste, um sich einem Zustand, der mit dem Ideal der Gerechtigkeit wenigstens im Entferntesten etwas zu tun haben könnte, wieder anzunähern. Bis dahin aber, liebe Mitstreiter — und mir sind Tiefe und Umfang meiner Worte bestimmt bewusst —, bis dahin ist mein Zorn unendlich.»
Er sagte dies weiterhin mit leiser, gefasster Stimme und diesem müden, blassen Taue-Lächeln, das Thorsten noch vor einigen Wochen zur Weißglut treiben konnte; jetzt, schien ihm, war es seinem eigenen Lächeln, in seiner Erschlafftheit, in seiner erschöpften Coolness, gar nicht mehr so unähnlich.
Magnus wartete kurz auf Einspruch oder Antwort oder irgendeine andere Reaktion. Sie blieb aus. Die Raucher rauchten und schwiegen. Aber in dem einen oder anderen von ihnen schien es leise zu rucken, gar zu arbeiten; sie hielten seine Worte offenbar nicht für kompletten Schwachsinn. Laura hatte ihren Kopf in die Armbeuge gebettet und blickte Magnus offen und mit aufgeklarten Augen an. Thorsten stierte ins Leere und nickte still, ohne zu wissen, warum.
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