Männer gingen sie an. Männer mit irrlichternden Blicken; Männer mit Dreitagebärten und schmatzenden Lippen; Männer mit verhärteten Rotzresten in den Walrossschnurrbärten, die leise grunzten, wenn sie vorbeischlich oder trotzig herumstapfte. Männer auch mit schlauen Augen und wächsernen Fingernägeln; alle Männer gingen sie an?
Fast ließ sie sich auf den einen oder anderen tatsächlichen oder nur vorgestellten gomorrhischen Ringelreigen, der sich ihr darbot, ein. Magnus aber bewahrte sie davor, indem er sich für sie interessierte, ohne gierig zu sein, indem er zuhörte, antwortete, erkannte, verstand. Er konnte auch gar nicht anders.
Mit Berentzen Saurer Apfel wankte Thorsten über den Ku’damm. Die Bilder stürzten zusammen. Erst hatte er sich zum Weitertrinken überwinden müssen. Dann floss es wie von selbst. So betrunken war er seit Tagen nicht mehr gewesen, dachte er. Die Autos verschwammen zu einem Pinselstrich. Die Lichter blinkten ihn an. Er stolperte. Sein Bauch blähte. Seine Gurgel war offen. Hier war irgendwo — hier kannte er doch wen? Hier wohnte jemand. Wer? Er drückte alle Klingeln. Stimmengewirr aus dem Lautsprecher, er antwortete etwas. Jemand öffnete. Er legte sich in den Hinterhof unter einen Baum und schlief ein.
Als er aufwachte, war seine Hose nass, und der Kopf schmerzte heiß. Er stand auf und ging in einen Tengelmann. Dort bezahlte er etwas, das er sofort trank. Er ging in den WOM und kaufte drei CDs, über die er nichts wusste. Er ging an einen Kiosk, um Magazine zu kaufen, Herrenmagazine und Motorradhefte, die er auf einer Parkbank durchblätterte und liegen ließ, als die Bierflasche leer war.
Er stieg in ein Taxi und fuhr an seinem Arbeitsplatz vorbei. Ein Unternehmen, das strahlt, ist auch ein Cash-Moloch. Er lachte das Logo aus. Wie dezent es war! Der Taxifahrer fragte, ob er auch genug Geld habe für diese Zickzack-Fahrt. «In rauen Mengen», lachte Thorsten und verschluckte sich am Piccolo.
Zu Hause stieg er in den Keller, urinierte in eine unbeleuchtete Ecke und trank dann, auf einem Bierkasten sitzend, Rotwein. Die Dunkelheit und der modrige Geruch taten ihm gut. Er stolperte durch die Katakomben und spielte mit sich selbst Indianer. Wo waren denn diese Sachen? , fragte er sich ständig im Mantramodus (aber eher so, als spielte er eine verwirrte Oma in ihrem stadtverplanten Geburtskiez nach), ja, wo waren sie denn, wo , fragte er auf der Suche nach irgendwelchen alten Unterlagen oder Fotos oder egal . Statt im eigenen Keller corpora delicti einer entfernten, gemeinsamen Vergangenheit zu suchen, trat er einen Verschlag auf, weil er meinte, dort eine Gummipuppe gesehen zu haben, mit der er auf dem Ku’damm Walzer tanzen wollte. Er hätte das momentan witzig gefunden. Es war aber nur ein Schlauchboot. «Ein knall- rumms! — rootees Gummiboooot!», sang er und torkelte mit den schlaffen Schläuchen durch die Gänge. Er schlug sich den Kopf an einem Rohr auf und sank nieder. Der Wein war zu alt und schwer und bitter, seine Speiseröhre brannte. Jetzt aber kehrte Frieden ein.
Als er aufwachte, oben in der Wohnung, stand der Kühlschrank offen. Er fühlte nicht mehr, ob es kalt oder warm war im Raum. Er hatte den Verdacht, es sei wärmer geworden. Er hatte da mal was bei Pilawa oder Jauch gehört. So stand er zehn Minuten. Dann rief er: «Laura?»
Er bestellte ein Taxi. Während er auf das Klingeln wartete, trank er den letzten Rest Gin. Er erinnerte sich, wie die Wärme früher ein angenehmes Gefühl gewesen war. Hinter seiner Stirn fühlte sich alles taub an.
Als er ins Taxi stieg, bekam er einen Hustenanfall. «Zur Charité», sagte er ohne Stimme.
«Nein, doch nicht», sagte er fünf Minuten später.
« Doch! , doch, doch», sagte er dann.
«Nein. Nein, nein, nein », sofort hinterher.
Der Fahrer hörte gar nicht mehr hin und bog in die Schumannstraße ein und hielt vor der Charité.
In der dritten Woche ließ sich Thorsten dann öfter bei Laura blicken. Er machte einen derangierten Eindruck auf die misstrauischen Schwestern, was ihm so was von egal war. Torkelnd flegelte er sich auf einen Stuhl im Raucherzimmer und glotzte alle an. Ihm kam es vor, als würde er Laura und Magnus ständig bei irgendetwas erwischen , dabei saßen sie nur da und rauchten und redeten, und das meist ohne Worte.
In der vierten Woche schlug Thorsten wie aus dem Nichts einen Dreier vor. Magnus und Laura sahen ihn nur lange an.
Einen Tag später brachte Thorsten eine Prostituierte namens Patty von der Kurfürstenstraße mit, die er als seine Schwester ausgab.
Als Magnus das sah, sagte er nur: «Alles scheiße.»
Laura meinte: «Und auch noch von der Kurfürstenstraße.»
In der fünften Woche begann Magnus, die Therapiesitzungen zu torpedieren, indem er statt Selbstwahrnehmung, Achtsamkeit und Rückfallquote die Stigmatisierung auf die Tagesordnung brachte. In den Folgestunden begann er auch, vom Ölpreis zu reden und was dieser womöglich mit den ständig steigenden Mieten zu tun habe; bald kamen die Ämter, die Politiker, ja sogar der ganze Staat zur Sprache, oder eher: Sie wurden zur Rede gestellt. Und die Mitpatienten diskutierten eifrig mit, von Magnus befeuert und angestachelt. Manche diskutierten bloß aus der eigenen Warte, manche mit weiterem Blick; aber die Beiträge wurden allesamt ernst genommen und in ihrer Subjektivität akzeptiert. Die Debatten bekamen fast einen parlamentarischen Einschlag.
«Es ist unmöglich, dass ich eine Wohnung bekomme. Man wird doch gleich aussortiert von den Hausverwaltungen, wenn da irgendwo etwas von ‹Klinik› steht.»
«Und die Schufa. Jetzt habe ich schon eine Bürgschaft von meinen Eltern, und die wollen noch deren Schufa-Auskunft.»
«Die Schufa gibt es gar nicht mehr. Die war früher unten in Tempelhof, jetzt kannst du dir bei easycredit dein Armutszeugnis ausstellen lassen.»
«Das geht alles noch viel tiefer. Natürlich entsteht da Saufdruck.»
«Den Saufdruck kannst du nur bekämpfen, indem du ihn vergisst.»
«Quatsch, dich ihm stellst, ihn bekämpfst.»
«Oder eben dich ihm beugst.»
«Ich sag mal so: Bist du einmal in der Spirale abwärts unterwegs, kommst du da so schnell nicht wieder raus. Da tut es ganz gut, quasi als Weckruf, so ganz weit unten auf dem Arsch zu landen, dass es klatscht.»
«Richtig. Ganz genau. Ganz genau.»
«Ich sag mal so: Wer bis zum Kinn in der Scheiße steht, sollte den Kopf nicht hängen lassen. Jetzt im Ernst: Die wollen uns gar nicht. Für die sind wir doch abgestempelt.»
«Und dann wirbeln die den Staub auf mit ihren Karren, in den Kreiseln, den Feinstaub, aber wir sollen nicht einmal rauchen dürfen.»
«Als ich im Knast war wegen Schwarzfahren, da war das schon ein Spiel zwischen den Kontrolleuren und mir. Die haben mich manchmal verfolgt, dreimal am Tag gekriegt, und ich habe nur die Motz verkauft.»
«Ja, der Knast.»
«Au.»
«Ja, ja.»
Einmal sprang Magnus auf — gegen die Regeln der Therapiestunden und von den Pflegern sofort mit Blicken niedergedrückt — und proklamierte: «Der Ölpreis wird von den Magnaten diktiert, die wiederum alles der Lobby verdanken, die von den Konten, die wir hier bald leer räumen werden, gesäugt werden, damit die Politiker, die eh nichts zu melden haben, etwas sagen können, das sie, wie Nussknacker, gebetsmühlenhaft in die Kameras krachen lassen können, um den Tickern etwas neues Falsches zu verklickern, die es dann gewinnbringend an die nächste Lobby oder für ihren Marktwert, der sich aus den Abos, in deren Inkassospirale sich so mancher hier befindet, speist, verbraten.»
In den folgenden Tagen war Öl das Thema: seine Geschichte, die seiner Förderung, die Mechanismen seines Preises. Die Pfleger, Schwestern und Ärzte glaubten ihren Ohren nicht. Magnus war, zusammen mit einer aus ihrem Dornröschenschlaf erwachenden Laura, die treibende Kraft, jedoch beteiligten sich stationsübergreifend mehr und mehr Patienten mit Referaten, Zeichnungen, Aquarellen, Diagrammen, Essays, Streichholzbohrtürmen, Verschwörungsskizzen und Batikhemden am Projekt.
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