«Ist Edwin eigentlich noch mit — wie hieß sie noch?»
«Lara?»
«Zusammen?»
«Nein, er hat da irgendjemand anderes jetzt. Wir werden ja sehen.»
«Keks?»
«Ja?»
«Kannst du die Lüftung —?»
«Ja.»
Dachte sie ans Rauchen, dachte sie an Atemwege. Dachte sie an Atemwege, dachte sie an Luftröhre, Flimmerhärchen, Lungenkapillaren, dachte Pneumokokken, Tuberkulose, Embolie, nein, ihr Auge ein Endoskop, nein, nicht. Ihr Auge, das Endoskop, bohrt sich durch die Luftröhre und andere Körperkanäle in das graue Gewebe der Lungen. Verletzt das Zwerchfell, stößt in die Aorta, ins Herz. Alles dreckig, ein Stauen und Schieben dort, die Klappen knattern, nein, nicht. Das Radio anschalten, auf das Gerede hören, sich vom Gerede der Welt dezentrieren lassen, ja: Radio Blitz, Power-News, das Wetterjingle, die Dance-Charts. Das Gerede seine Wirkung entfalten lassen. Das Gerede soll die Verknotung lösen, die Erinnerung zerstäuben. Selber reden hilft auch.
«Gibt es da überhaupt Parkplätze?»
«Wir werden sehen.»
«Wie viele Leute werden denn da sein?»
«Nicht viele. Ich glaube, Edwin und seine neue Flamme, und ein Partner aus seiner Kanzlei.»
«Ich kann jetzt auf keinen Fall viele Leute ertragen.»
«Ist gut, Keks.»
«Ist gut?»
«Ja. Es werden nicht viele sein.»
Thorsten strich sich über die Nase, massierte sie. Laura zündete sich noch eine Zigarette an.
Laura hatte nicht auf diesen Ball gewollt. Thorsten hatte sie, nach dem ohnehin säuerlich verkrampften und leicht männerbündlerischen Essen bei Edwin, dazu überredet, auf seine unverschämt einnehmende Weise, schnell und lethargisierend wie eine weiche Droge. Jetzt war sie hier, und er war weg, er und seine Worte und sein Lächeln, auf der Toilette wahrscheinlich, oder auf Flirtfang.
Dann kam eine auf sie zu, die Sarah hieß und Laura anscheinend kannte. Sie gab ihr die Hand, deutete eine Umarmung an und spielte überschwängliche Wiedersehensfreude. Laura lachte, driftete durch die Leute weiter zum DJ, den sie vom Sehen her zu kennen meinte. Sie fühlte sich fremd. Doch wer beim DJ herumhängt, kann nicht ganz fremd sein. Mit einem Glas Champagner tänzelte Laura wieder fort, um sich alles genau anzusehen: den neuen Feudalismus, die Marmorfugen, die Holzvertäfelung, die blendende Weißheit der Tischdecken, die blanke Frechheit der jungalten Gesichter, die Manschettenknöpfe, die Frisur-Frisuren, die dezenten Dekolletés.
Sie wünschte sich einen noblen Experten herbei, einen ironischen Insider, der das alles kategorisieren und mit ein paar schönen Markennamen wie «Brook Brothers» oder «Ermenegildo Zegna» festzurren würde. Das wäre eine Freude, dachte sie, und eine Sicherheit. Aber statt dieses Experten traf sie nur den schmierigen Cousin eines unbestimmten Bekannten. Sein Name wollte ihr partout nicht einfallen, sie hatte ihn irgendwann auf einem Hausfest der Pfälzer kennen gelernt (und später hatte er «gepapstet», in den «Papst» hinein, wie die Studentenverbindungen ihren Kotzeimer nannten, und Laura hatte sich abfällig über diese Ritualisierung des kollektiven Sichübergebens geäußert und später, als ihr selbst übel war, lieber einsam in einer schattigen Gartenecke abgelegt, dabei an einen französischen Ausdruck für den Vorgang gedacht: faire une pizza ).
Der Cousin trug eine Michel-Friedman-Gelmatte zur Schau und schien nur aus Pflichtgefühl mit Laura, der Stehengelassenen, zu reden, was ihr auf die Nerven ging, denn sie wäre ebenfalls lieber weitergegangen.
Deine Dissertation, interessante Fragestellung, auch aus kaufmännischer Sicht: Seine glubschigen Augen sprangen zwischen ihrem Dekolleté und ihrem Gesicht hin und her, während ein galanter Schwall zwischen seinen dünnen Lippen hervorsprudelte, der weder Sinn noch Richtung hatte, nur Form, die immer gleiche, althergebrachte Form der Galanterie. Als sie nichts erwiderte, forderte er sie irritiert zum Tanzen auf. Gerade lief «I will survive» von Gloria Gaynor. Sie willigte ein.
Auf der Tanzfläche schwappte Hass in ihr hoch. Wie affig sich alle bewegten! Der Cousin presste sie gewaltsam in die immergleichen Friesenrockfiguren, Drehung links, Wirbel rechts, Ranziehen, Abstoßen, mit zappelnden Armen und starrem Lächeln. Einmal kugelte er ihr fast die rechte Schulter aus.
«Wieso», schrie sie ihm ins Ohr, «sind die Sachen, die auf euren Adelspartys laufen, eigentlich so schwul?»
Der Cousin verstand nicht ganz.
«Schwul?»
«So Siebziger-Disco-Zeugs», schrie Laura, « YMCA, Streetlife, Last night a DJ saved my life ! Warum?»
Der Cousin lächelte nur, schüttelte schüchtern den Kopf und zerrte sie in eine weitere ungelenke Figur.
«Egal, los, weiter!», feuerte Laura ihn an. «Heb mich mal in die Luft! Zeig’s mir richtig! Los!»
Er lachte verwirrt auf, rief irgendetwas Entschiedenes, fasste Mut und hob Laura mit dem nächsten Taktwechsel an den Hüften hoch. Kurz stand sie über diesem Meer kehliger, fester Worte, gesteifter Kragen und matter Augen, wie eine bunte Boje im Sturm, schwankend und gepeitscht. Die Musik klang sekundenlang lauter, reiner, metallischer als unten. Dann sah sie den erschrockenen Ausdruck im Gesicht des Cousins. Er versuchte sie zu halten, aber der Schweiß in seinen Handflächen war wie ein Ölfilm. Sie entglitt ihm, kippte nach hinten. Auch die Gesichtszüge des Cousins entglitten in Panik. Die Farben über Laura verschwammen.
Ein dumpfer Klang hinter der Stirn, ein scharfer Schmerz im Hinterkopf, wie Streusalz im Schnee, ein Knistern und Ätzen. Sie roch noch herbes Männerparfüm. Dann zog sich die Welt zusammen zu einem Punkt.
Schulterschlüsse und satte Grimassen, gepeelte Gesichter, geschenkte Gefühle. Eine Pickelfresse starrte Thorsten von nahem an, ein einsamer Manschettenknopf auf dem Parkett ebenfalls. Er saß bei Falk am Tisch. Er hatte sich dazugesetzt wie die sich dazusetzende Selbstverständlichkeit, die er früher einmal gewesen war. Doch die alten Selbstverständlichkeiten, dachte er und nippte an seinem Wodka-Lemon, sind bekanntlich das Unselbstverständlichste von heute. Ebenso fühlte er sich nun, gefangen in der falschen Frechheit, sich so ohne weiteres zu Falk und seiner Begleitung gesetzt und solchermaßen eine sofort verfahrene Situation produziert zu haben. Falk, sein alter Klassenkamerad, hatte es seinerseits verpasst, die Begleitung und Thorsten einander vorzustellen, was diesen nur insofern störte, als er irgendein doppelt gezinktes Signal dahinter vermutete und nicht wusste, ob dieses nun für ihn oder für die Frau bestimmt war, die an Falks Seite saß wie eine namenlose Gipsfigur.
So tröpfelte ein Gespräch alter Freunde traurig dahin, gehemmter noch als das Schweigen der jungen Dame. Die Distanz zwischen ihnen, über die Jahre unmerklich gewachsen, war jetzt unübersehbar. Er konnte Falk kaum noch erkennen, so weit war er weg, hinter der weißen Flur des Tisches, das Gesicht aufgedunsen und in Ansätzen verfettet, der Blick fahrig und haltlos.
Schämte er sich jetzt für Thorsten oder wie? Thorstens soziale Kompetenz litt merklich unter der wachsenden Betrunkenheit. Er hatte kein Gefühl mehr für den Unterschied zwischen falschen, halbrichtigen und richtigen Kommentaren. Das fand er allerdings sehr angenehm. Er brauchte einen Wodka pur; er wollte spüren, wie es brennt.
Nach einem ellenlangen Schweigen sagte er: «Ich lass euch mal allein, Mädels», und stand auf, worauf Falk unwirsch «Wieso denn?» fragte und die Mundwinkel gepeinigt verzog, genau wie früher immer, wenn er in der Klasse vorlesen musste. Auch das Blut, das ihm ins Gesicht schoss, hatte dieselbe Farbe wie damals, knallrot in der ersten Sekunde und dann sofort ins Purpurne wechselnd.
«Wieso denn, wieso denn, wieso denn», wiederholte Thorsten leise lallend und ging weiter. Seine Beine trugen ihn überraschend sicher durch die bankettlangen Tischreihen. Bekannte Gesichter, verwischte Gefühle. Er lachte über eine Gruppe von Smokingträgern, die beieinanderstanden, schräg distanziert und zentripetal verkantet wie Mikadostäbchen in der lockeren Hand. Obwohl er einige von ihnen flüchtig kannte, stellte er sich vor sie hin, zeigte mit dem Finger auf die Gruppe und lachte gekünstelt, so wie sie es bei den Klassendeppen früher im Internat getan hatten.
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