Nach dem Vortrag nickte er verbindlich, durchschritt den freundlichen Applaus, ließ sich kurz gratulieren von Chef und Praktikantin, lächelte, schnappte sich ein Gatorade, stürzte es, so wenig gierig wie möglich, hinunter und entschuldigte sich, in einer Stunde sei er wieder da. Er ging am Buffet entlang, möglichst unauffällig, an verwaschenen Figuren vorbei, Marmortreppen hinab auf die Toilette, dort in eine Zelle, stützte sich über die Kloschüssel und ließ das Gatorade lautlos ins Klo laufen. Es war orange und flockte. Dann spülte er sich den Mund aus, checkte fletschend seine Zähne, trank einen Jägermeister, warf ein Fisherman’s Friend ein und verließ das Klo.
Space Management auch dies: eine fast leere Plattenbauwohnung, ein leise summender Kühlschrank, ein hell lackierter Küchentisch, eine nackte Matratze auf dem Boden. Und zwei Körper, die sich aneinander rieben.
Seit Monaten unterhielt Thorsten jetzt die Affäre mit der Popjournalistin. Von außen war es offensichtlich: Anstatt sich der latenten und seltsam milden Panik, die ihn sofort nach dem Beziehen der gemeinsamen Wohnung beschlichen hatte, auf gesunde Weise zu stellen und sie gegenüber Laura offen zur Sprache zu bringen, hatte er sie verdrängt und mit Schichten von Liebesschwüren überdeckt. Hatte in einer vergessenen Nacht in einem vergessenen Club die erste Gelegenheit zur Affäre genutzt, erst mehr instinktiv als geplant die Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit ausgebaut, dann geheime Treffen arrangiert, der Frau ebenso alberne wie geschmackvolle Geschenke gemacht, sie täglich mit intelligenten E-Mails umgarnt und auf diese Weise langsam für sich gewonnen, ohne selbst zu wissen, warum. Nach ersten Stunden des (wie sie es einmal nannte) kinskihaften Klischeefickens an dreckigen Orten und in verbotenen Betten (denn auch die Popjournalistin steckte inmitten einer Beziehung) trafen sie sich inzwischen dreibis viermal in der Woche in der angemieteten, kahlen und billigen Plattenbauwohnung in der Leipziger Straße. Dort lag die Matratze, summte der Kühlschrank, schwieg der Tisch, an den sie sich gewöhnlich nach dem Akt setzten und verlegen einige Dinge ihres bisherigen Tages besprachen. Dort hing die nackte Glühbirne und beleuchtete die säuberlich über die Stuhllehne gelegte Krawatte schwach.
Und dort war er auch jetzt, in der Mittagspause, und nahm seine Affäre von hinten, ein Kitzeln in der Nase, das sich in keinem Niesen entladen wollte. Sein Rücken brannte.
Perfekte Haut, geschrumpfte Zeit. Ein Swimmingpool strahlt blau von der Leinwand herab, spiegelt sich im Augenweiß der Leute. Zwei perlweiße Zahnreihen knacken einen glänzend harten, schwarzbraunen Schokoladensplitter entzwei. Ausgeflippt tuende Kerle mit roten oder gelben Frisuren springen zackig auf und ab und freuen sich ganz wahnsinnig. Cowboys führen der Kamera ihre Lassokunststücke vor, reinste Artisten in einer Scheune unter der glühenden Sonne Nevadas.
Kaskaden von Leere stürzten durch Lauras Brust, im Hals spürte sie ein Hämmern, in den Adern Überdruck. Wort um Wort zählte sie die Sätze ab im Takt der Musik, wollte verstehen und nachdenken, verstehen und nachdenken, Assoziationsketten bilden, dann würde es besser werden. Die Werbespots schienen jedoch nicht von der Stelle zu kommen, sie liefen zäh wie alter Honig.
Die Lippen des Politikers im nächsten Spot waren verhärmt und verkniffen. Lauras Augen verguckten sich in den nach unten wegfallenden Mundwinkel. Zwar lachte der Politiker triumphal, doch sein Mund sprach eine andere Sprache. Laura wollte sich zwingen, die politische Lage zu rekapitulieren, die Biographie des Mannes abzurufen, um nicht an sich selbst denken zu müssen, wie sie da im Kino saß, neben ihr Thorsten, und zu nahe um sie herum andere dunkle Menschen.
Eine Frau gleitet durch einen Swimmingpool, auf die Zuschauer zu, taucht auf, es spritzt und sprüht. Sie blickt offen und offensiv in die Kamera, hat schwarzes Haar und gleichmäßige Züge, ihre Augen haben die Farbe des Pools: ein strahlendes, fast schmerzhaftes Türkis, sie lächelt. Sie hat sich elegant hochgestemmt und auf den Beckenrand gesetzt, während die Kamera sich mit einem Schwenk ein Stück über den Pool auf sie zubewegt hat. Jetzt scheint die Kamera über dem Wasser zu schweben, dort, wo gerade noch die Frau war. Dolly und Kran, einfacher Trick, dachte Laura und verkrampfte. Sie schaute sich um, die anderen Leute beobachteten sie nicht, und griff nach Thorsten, sie fand seinen Ärmel, dann seine Hand, und ihre Finger verschränkten sich. Laura musste ihr Gelenk leicht umknicken dafür. Sie atmete durch.
Es war in einem solchen Kino gewesen, wo sie ihren ersten Anfall erlitten hatte. Die falsche Stille, das dichte Schwarz hatten sie bedrängt, sie und ihren Atem, die Dunkelheit und das Schweigen waren stofflich geworden und bedrohlich zäh. Plötzlich wusste sie mit allen Sinnen, dass sie ein Mensch war, mit Lungen, die kurz ruhten zwischen zwei Atemzügen. Ich bin ein Organismus, dachte sie, der wie jeder Organismus plötzlich zum Stillstand kommen oder einen Kollaps erleiden kann, so dachte, nein, fühlte sie. Und fühlte sich gefangen in diesem eigenen Körper, weggesperrt, fühlte ihren Körper gefangen auch in sich, eine verwachsene Matrjoschka.
Solche Gedanken sind Verrücktheiten, dachte sie und wollte die Gedanken wegschieben. Es ging nicht. Einer winzigen Einzelheit zu grüblerisch hinterhergespürt, ein verhakter Blick, und das Hirn stürzt los wie eine Lawine ohne Lärm. Einmal zu tief in sich gegangen, und jeder Blick wird zum Endoskop. Sie bekam keine Luft, atmete zu laut und hastig, hatte Angst, dass die Leute auf sie aufmerksam würden, hatte eine Panik vor allem in und außer sich.
Das sind die Augenblicke des Kippens.
Seitdem sah sie sich keine grüblerisch-ruhigen Filme mehr an, nur noch Blockbusterware aus Amerika. Gerade gab es eine Kampfszene mit viel Blut und Glibber. Thorsten lachte. Sie schluckte und versuchte, nicht auf den Schluckreflex zu achten.
Klaustrophobie ist die kranke Version von Selbstreflexivität, gleich an Selbstreflexivität angekoppelt. Nein: Im Herzen der Selbstreflexivität liegt ein Kern, den es nicht zu berühren gilt, sonst schlägt das System Alarm und läuft heiß. Selbstreflexivität heißt im Kern Klaustrophobie. Du spinnst einen Gedankenfaden, er liegt dir leicht in der Hand, wie du ihn spinnst, und plötzlich (weshalb? ein Irrwitz) zuckst du mit der wachen Hand und peitschst den Faden zwanghaft in dein eigenes Gesicht zurück, immer wieder, bis Blut aus den feinen Schnitten tritt. Du beginnst, dir den Faden einzuverleiben, isst ihn, der nass und klebrig von deinem Blut ist, bis du würgst. Keinen Gedankenfaden, ein ganzes Netz knüpfst du und, es ist noch gar nicht fertig, lose Enden überall, wirfst es enthemmt über dich selbst, wirfst es dir über, dann sofort Panik, selbstverschuldete Panik, Zappeln. Wenn du jetzt versuchst, dich zurechtzufinden, vom Netz zu befreien, verhedderst und verwirrst du dich nur noch mehr und liegst bald regungslos am kalten Boden, zuckst nur noch, zweimal, dreimal. Ein Irrwitz, ein Reflex, konvulsivische Bewegung — Todessehnsucht? Der Körper weiß immer mehr als du.
Lauras Atemwege fühlten sich blättrig und ausgetrocknet an. Thorsten rauchte ihr zu viel, und die Klimaanlage im Auto blies stetig trockene, warme Luft in ihr Gesicht, welche die Schleimhäute reizte. Thorsten blies in kurzen Stößen den Rauch gegen das Fenster, der wirbelte zurück und verteilte sich im Wagen. Um dagegenzuhalten, rauchte Laura selbst. Sie hatte Lippenstift aufgetan. Ein roter Fleck auf dem Zigarettenfilter wurde immer dunkler. Sie stieß zwei Hauer dichten Rauches durch die Nase aus, zog wieder, inhalierte tief, blies gegen die Scheibe und beobachtete die zarten, seitlich wegstiebenden Kollisionen des Rauchs, die sie kontinuierlich nährte, während vor dem Glas triste Bretterzäune vorbeizogen.
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