Das Schreiben hatte ihn leer gemacht. Ein Gefühl, als gäbe es nichts mehr zu tun im Leben. Ohne weiteres kroch er in sein Bett und fiel in tiefen, traumlosen Schlaf.
Am Abend weckte ihn Gekläff. Einer von Vosskamps Hunden. Er bellte mechanisch, ohne nachzulassen. Vielleicht ein Fuchs am Sicherheitszaun, dachte Ed, oder Wildschweine. Vielleicht sind nur noch die Tiere da, die Tiere und ich. Seltsamerweise beruhigte ihn der Gedanke. Er rollte sich ein und wollte zurück in den Schlaf, aber es klopfte.
Die Kontrollkommission.
Eine Weile blieb Ed still und lauschte in den Regen. Keiner mehr da.
Dann klopfte es wieder.
Ed schaltete die Außenbeleuchtung ein und spähte an der Gardine vorbei nach draußen. Vor der Tür stand der gute Soldat. Er trug seine Ausgangsuniform und hatte keine Waffe dabei.
«Machs gut, Ed, alles Gute«, sagte der gute Soldat.
«Was ist los?«, fragte Ed.
«Nur falls du morgen nicht mehr da bist, sage ich machs gut. Also, machs gut.«
Ed wusste nicht, was er erwidern sollte, und legte seine flache Hand auf die Tür.
«Machs gut«, murmelte er schließlich und» es tut mir leid«, ohne zu wissen, weshalb. Der gute Soldat machte kehrt und verschwand in der Nacht. Ed sah ihm nach. Er nahm die Abkürzung, den kleinen Pfad durch die Swantewitschlucht, direkt zur Kaserne.
«Machs gut.«
Eine Weile blieb er noch an der Tür und lauschte.
Dann tappte er in den Abwasch und holte sich die Flasche mit der Creme. Von seinen Fingerkuppen löste sich Haut, und zwei Nagelbetten hatten sich entzündet, winzige rötliche Wülste. Vielleicht bin ich auch zu großzügig gewesen mit der Creme, dachte Ed. Er rieb sich die schlierige Schmiere zwischen die Finger und klatschte ein wenig in die Hände. Sofort trat die Stille hervor, weshalb das Klatschen Überwindung zu kosten begann. Die Stille verlangte die Stille, so war es,»und so ist es immer gewesen«, murmelte Ed. Andererseits tat das Klatschen gut. Es wärmte seine Hände, in den Fingern summte das Blut, das Klatschen machte Mut. Und so klatschte er weiter, während er ziellos durch die Finsternis des Klausners streifte — wie ein verdammtes Gespenst, dachte Ed, das mit seinen Ketten rasselt. Er klatschte und sah Ettenburg, den Urklausner, dessen Asche ins Meer geschüttet worden war, Ettenburg, der Wiedergänger. Er streifte die Steilküste entlang in seinem Mönchsgewand; ab und zu rammte er verzweifelt einen Fuß in den Sand, und ein großes Stück Land brach ab und rutschte ins Meer. Es war seine Rache; nach und nach würde auch die Insel im Meer verschwinden.
Ed stieg die Dienstbotentreppe nach oben. Der Wind hatte aufgefrischt, Krusos Gardine bewegte sich. Er versuchte, seine zerstörten Fingerspitzen in ihre groben Maschen zu stecken, aber auch die Gardine wollte sich nicht beruhigen lassen. Am Abend der letzten Vergabe war Ed in Krusos Zimmer geschlichen und hatte nach unten auf die Terrasse geschaut. Die Kutte, die er Kruso umgelegt hatte, war im Regen zu einem Spiegel geschmolzen, durch den ab und zu ein Rucken ging, ein Schütteln, eine Art Stottern mit dem Rücken, ein kaltes, nasses, einsames Stottern. Das hatte Ed wehgetan, aber dann war er doch eingeschlafen in seinem Bett. Dabei hatte er sich nur einen Moment ausruhen wollen, nur die Haare getrocknet, die Hände eingecremt …
Zögernd begann er wieder mit dem Klatschen. Er gab acht, nicht noch einmal so nah ans Fenster zu treten.
Keiner mehr da.
Keiner mehr da.
Als er wieder nach unten kam, fiel sein Blick auf das Manuskript. Krusos Band . Sein Buch. Ed lächelte ihm zu, quer durch die Gaststube. Auf irgendeine Weise hatte es die Stelle der alten Besatzung eingenommen, die Stelle ihrer versammelten Abwesenheit, ihres ganzen alten Lebens, obwohl es, genau besehen, nicht mehr war als ein kleiner Stapel Papier, Schrift mit blutigen Mützen, sauber auf Eck gelegt. Plötzlich hatte Ed eine Vergangenheit.
Das Tor zur Kaserne war nicht verriegelt. Die Hundelaufanlage war leer. Keine Wachen, keine Hunde, nur Hundegeruch, Geruch nach Hundezwinger und faulem Fleisch. In der Wachbaracke brannte Licht, aber auch dort war niemand. Zögernd betrat Ed das Gelände. Friedhofsruhe in den Garagen. Ein Robur, eine Gulaschkanone, ein Militärmotorrad und die Fahrräder der Fahrradstreife. Daneben Kohleeimer und Kohlesäcke, wie bereitgestellt für ihre Entdeckung durch eine spätere Zivilisation.
Dann hörte er es.
Es kam aus der Erde, aus der Moräne zu Füßen des Wachturms. Er umkreiste den kleinen, fast kegelförmigen Berg und fand einen von Tarnnetzen überspannten Einstieg. Zwei Türen voller Stahlhebel, entriegelt, und eine dritte, verschlossene Tür mit einem kleinen quadratischen Fenster auf Augenhöhe.
«Draußen auf der Mole schauten sie aufs weite Meer, draußen auf der Mole warn die Herzen sehnsuchtsschwer …«
Ähnlich einer Hausbar oder einem Hobbykeller war der Bunker bis zur Decke ausgekleidet mit Holz — schmale, endlos glattgeschliffene und dick lackierte Brettchen, die sich an den Längsseiten des Raums zu bauernstubenähnlichen Bänken und an der Stirnseite zu einem extra überdachten, baudenähnlichen Tresen auswuchsen. Im Tresenregal erkannte Ed den grünschimmernden Bildschirm eines Fernsehers; er war ausgeschaltet. Cola-Bar stand über dem Ausschank, mit verzierter Schrift ins Holz gebrannt. Daneben Bierkrüge aus Wäscheklammern und eine Reihe von Laubsägearbeiten, Schwibbögen und erzgebirgische Weihnachtsmotive aus Tannen und Tieren, gehüllt in dichten Zigarettennebel.
«Draußen an der Mole …«
Nur zwei Sekunden, aber Ed hatte Vosskamp sofort entdeckt, das weit übers Ohr verschobene Käppi, daneben der gute Soldat, die gesamte Mannschaft der Beobachtungskompanie war im Freizeit-Bunker versammelt, Arm in Arm, und auf dem Boden die Meldehunde, wie erschöpft.
«Draußen an der Mole wartet abends Annegret …«
Zwanzig Mann, schätzte Ed, und hundert Flaschen, Vosskamp dirigierte. Ein Unteroffizier war zur Seite weggesunken und schlief auf einer der Bauernbänke, mit angewinkeltem Arm unter dem Kopf. Das Ganze glich einer Siegesfeier; als wäre ein Krieg zu Ende gegangen.
Einer der Hunde schlug an.
Zwischen den Windflüchtern war ein Blitzen gewesen, ein magisches Licht.»Alo-ahé, alo-ahé, so groß ist die See-hee«, wehte es von der Bunkermoräne herüber. Jemand hatte die Tür geöffnet, Gekläff, das näher rückte, als Ed seine Angst überwand und nach der eisernen Leiter griff.
Der Wachturm sei Tag und Nacht besetzt, so hatte es Losch ihm erklärt, aber der Suchscheinwerfer war ausgeschaltet, und niemand stand am Fernrohr. Jeder Schritt pflanzte ein dunkles Donnergrollen in die Konstruktion, die sanft zu wanken schien.
Schon auf halbem Weg sah Ed das Leuchten. Aber es waren nicht die Lichter der Fregatten, nicht die Lichter der Patrouillenboote. Wo sonst nur Schwärze herrschte, blinkte es in allen Farben — rot, gelb, blau und, ja: grün, grün, überall grün, das grüne Licht …
«Die Toten!«, flüsterte Ed, wahrscheinlich verlor er den Verstand.
Die Toten waren auferstanden — kein anderer Gedanke fand Platz in seinem Schädel, nach allem, was geschehen war.»Seht die Signale«, murmelte Ed, die ganze Bucht war voll davon, auferstanden, zurück vom Grund, von ihrer Flucht, von dort, wo sie gewartet hatten, all die Zeit, auf diesen Tag — das Meer gab seine Toten frei.
«Ahoi«, flüsterte Ed, dann stimmte er ein.
«Alo-ahé, alo-ahé!«
Kruso hatte recht gehabt. Keiner war verloren. Keiner blieb ewig vermisst.
«Ahoi, liebe Sonja! Alo-ahé, kleine G.!«
Kein Wunder, dass es ein Fest war. Kein Wunder, dass sie sangen im Bunker.»Kein Wunder!«, juchzte Ed — ja, er juchzte, und ihm wurde schwarz vor Augen dabei. Er umklammerte die Brüstung, er umarmte den Suchscheinwerfer. Er weinte und hatte es endlich verstanden: Es war kein Wunder.
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