Auf dem letzten Stück der Treppe, jenem, das in der Luft hing über dem Strand, entglitt der Verletzte den Soldaten um ein Haar. Ed konnte die Sowjetmuskeln zittern sehen, die Anspannung unter den Uniformen, die Hand des Generals in seltsamer Verrenkung, sein fliegender Mantel, momentlang glich er einem großen, lustigen Puppenspieler, an dessen Faden der Personaltisch tanzte und mit ihm die ganze Geschichte dieser endlosen Saison, begleitet vom Tanz vier junger Lakaien in ihren Matrosenkostümen, Kasachen vielleicht, ja, Kasachen wären angebracht, dachte Ed.
Er sah, dass Krusos Augen offen waren — sein großes Gesicht, glatt und weiß, mit ungläubigen Augen; es war ein jungenhaftes und doch bleiernes Gesicht, ein Kindsgesicht mit Friedhofsblick, es war — das Gesicht Georg Trakls. Nur Ed und sein Irrsinn konnten so denken.
Im ersten Moment war kein Boot zu entdecken, nur der Panzerkreuzer, riesig im Nebel, weshalb Ed zunächst glaubte, die Männer würden Kruso mit der Tischplatte aufs Meer hinausschieben, bis an den dunklen Rumpf heran, auf dem die Zahl 141 geschrieben stand. Nie hatte er ein so großes Schiff so nah vor der Küste gesehen. Am Bug ragte es hoch empor, das Heck hingegen schien kaum über Wasser zu liegen. Dazwischen zwei Zyklopenschädel, aus denen ein paar Kanonenrohre ragten, lang und dünn wie Speere. Dann sah er das Beiboot. Es lag nur hundert Meter nördlich, an Eds Badestelle, wo es einen von Steinen halbwegs freien Weg ins Tiefe gab.
Ohne Überlegung hatte Ed einen Fuß auf den Bug gesetzt. Er, wer sonst, gehörte zu Kruso. Zuerst die verschreckten Blicke der Kasachen (er hasste sie in diesem Moment), dann die Hand des Generals auf seiner Schulter. Nicht zur Anerkennung, nicht zum Trost.
Was von da an geschah, nahm Ed nur noch in einzelnen Bildern wahr. Der schwebende Tropf. Der stählerne Nachen. Die Übergabe der Infusion. Das dunkle, hohle Geräusch der Personaltischplatte auf den Ruderbänken. Der Sanitäter, der ihm wortlos die Tasche aus der Hand nahm. Die glänzenden Schuhe des Generals im Sand, halb eingesunken. Eine Welle und die dunklen, nassen Ränder seiner Hosenbeine. Die nassen Ränder seiner sowjetischen Hosenbeine — in diesem Bild blieb die Geschichte stehen, es enthielt die ganze Geschichte.
Die Hand des Generals hatte ihn festgenagelt am Strand. Er spürte sie noch, als das Beiboot vom Mutterschiff eingeholt wurde und der Diesel aufheulte und der Panzerkreuzer oder was immer diese Festung auf dem Wasser darstellen sollte, langsam Fahrt aufnahm. Sein Körper wurde schwer. Um seiner Starre irgendeinen Ausdruck zu geben, senkte Ed den Blick. Steine, Algen, fauliges Haar. Die Schwere floss jetzt von überall her auf ihn zu, und auch das Hämmern des Diesels ließ nicht nach, es endete nicht.
Dann der Schuss.
Der verrückte Junge im Hafen, mit offenem Mund und erhobenem Arm, dann der Schuss. Der Kutscher Mäcki im Stall, mit einer Flasche und dem Bärenpferd, dann der Schuss. Das Tresenehepaar, mit ihren Koffern und Taschen zwischen den Büschen, mitten im Rätsel der Grenze, dann der Schuss. Chris? Rolf? Speiche? Der Schuss. Koch-Mike mit seiner Familie? Und Rimbaud irgendwo, weder lesend noch schreibend? Dann der Schuss. Mona und Cavallo auf dem Weg Richtung Süden — Rom, Neapel, die Meeresstation, dann der Schuss.
Wie getroffen, hatte sich Ed zu Boden geworfen und sein Gesicht in den Sand gepresst. Für Sekunden stand die Brandung still, die Landschaft wie vom Donner gerührt. Auch der General war verrückt geworden. Die Bahn des Geschosses musste weit über ihm verlaufen sein, weit über dem Kliff, dem Land — der ganze hermetische Raum, angefüllt vom Widerhall. Der ganze verrottete Raum, den sie behausten.
Ein neuer Schuss und sein Echo in der Bucht.
Dann Schuss für Schuss, in respektvoller Folge. Als ahmten die Kanonen den ersterbenden Herzschlag eines Riesen nach. Dazwischen leises Pfeifen, wie von Düsenfliegern, die weit oben, fast im Weltall flogen. Nur Einschläge keine; keine Explosionen.
Mit jedem Donnerschlag wurde der Himmel ein Stück angehoben. Luft strömte ein. Ein Äther von berauschender Frische und Reinheit. Ed schmeckte den Sand; ein paar Algenhaare klebten in seinem Gesicht, und er spürte, wie sein verkrampftes Herz sich lösen wollte. Einundzwanzig Donnerschläge. Vielleicht verlor er den Verstand. Er kapitulierte, endlich, er kicherte in den Sand: Salut, Salut!
Schiffbruch, Salut! Zwei Klappen, Salut! Abwasch, Salut!
Salut! Salut!
Er hatte verstanden. Es war das Signal.
Das alles konnte untergehen.
Auferstehung
9. November. Er bediente im Gastraum, nicht durch die Klappen, die Klappen blieben verriegelt. Er hatte provisorisch Ordnung geschaffen, den Ofen geheizt und Kaffee gekocht. Er tat das alles sehr langsam, eins nach dem anderen, jede Bewegung für sich. Er machte eine provisorische Soljanka, dazu Mischbrot. Teile seines Körpers hatten Mühe, aus ihrer Schockstarre zurück in den üblichen Ablauf zu finden, weshalb er sich etwas breitbeinig und steif zwischen Tresen und Tischen hin und her schob. Es gab etwas, das mitging in ihm , das seine Augen benutzte und seine Ohren, bei allem, was er tat, etwas, das jetzt sehr vorsichtig und gut behandelt werden musste.
Sein erster Tag brachte sieben Gäste. Stille, schweigsame Inselliebhaber, Einzelgänger, die ihre Hände am Kaffee wärmten und durch die grobe Gardine auf die Terrasse starrten, während Ed seine Tassen und Gläser spülte oder regungslos am Tresen stand, bei laufendem Wasser. Das leise Strömen tat ihm gut, dazu das zarte Schnorcheln und Flöten des kleinen Wasserfalls im Überlauf. Richtete doch einmal jemand das Wort an ihn, erwiderte Ed» Genau!«oder» Warum nicht?«, als stünde auch er mitten im Leben. Es gab sogar einen Moment, in dem er alles vergaß und sich vorstellte, selbst eine Gaststätte zu führen; die Kontrollkommission aus Berlin-Schweineöde, vielleicht tauchte sie niemals auf …
Sein letzter Gast war eine junge Frau, die nach Kruso fragte, auf jene Weise, mit der die Schiffbrüchigen sich vor Wochen noch zu Dutzenden nach dem König der Insel erkundigt hatten. Sie war sehr klein und hatte langes braunes Haar, feucht vom Regen. Für zwei Sekunden sah Ed sie in seinem Zimmer, ihr Haar in seinem Kissen. Dann wies er sie schroff auf das Ende der Saison hin. November — das Ende jeder Saison, wie er betonte, was überflüssig war.
Überflüssig gewesen war auch, die kleine Frau anzuschreien. Er hieß nicht Rimbaud. Sein Schmerz, seine Trauer — der ganze Verlust. Er schämte sich. Er dachte an die letzte Schiffbrüchige in seinem Zimmer, eine Frau namens B., die in den Nächten vor dem Tag der Insel, Tag der Parade, Tag des Anfangs vom Ende, bei ihm geschlafen hatte. Sie war mindestens vierzig, vielleicht sogar älter gewesen. Kaum ein Satz, zu dem B. nicht Rauch ausblies, sie rauchte einfach ununterbrochen. Sie sagte, sie wolle nicht mehr das Mädchen für alles sein, andererseits sei es auch schön, das Mädchen für alles zu sein. Sie redete und zitierte Losch:»Aufgegebene und wertvolle Menschen. Erleuchtete und Finsterlinge. «Sie hatte etwas Wegwerfendes an sich, und jetzt war sie dabei, alles wegzuwerfen. Ed schlief auf dem Boden, B. im Bett. Sie schlief, wachte auf, redete, rauchte und schlief wieder. Irgendwann hatte Ed die Vorstellung, B.s rauchigen Mund zu schmecken. Selbst im Dunkeln konnte er ihre schmale Hakennase erkennen und den langen steilen Nacken, fast ohne Übergang zum Hinterkopf, als gäbe es keinen Hinterkopf, nur langen endlosen Nacken, der immerzu flüsterte: Leg deine Hand dorthin, versuch doch mal, die flache Hand dort aufzulegen. B. lachte über Kruso. Sie nannte ihn» Majestät, Fürst und Beherrscher der ganzen Insel«. Sie nannte ihn auch einen Lumpensammler und verglich die Vergabe mit dem letzten Bus nach Hause, aber ohne, dass noch irgendjemand genauer sagen könnte, wo oder was das eigentlich sei — daheim. Pension zur Freiheit? Fremdenheim für verlorene Seelen? Solche Dinge plapperte sie in einem fort und blies Rauch aus. Alles war ein Spiel für sie, ein Intermezzo. Sie sagte, sie hätte nicht vor, für irgendjemanden Schmuck zu fabrizieren, und sie verweigerte die heilige Suppe. Sie sagte:»Ich esse meine Suppe nicht«, und lachte. Sie hätte ihre eigenen Methoden, sich zu berauschen, ohne Alchemie, und außerdem stinke die heilige Suppe nach Kot. Das kränkte Ed, obwohl er zugeben musste, dass die Suppe ungut roch. Ed hielt B. für verzweifelt. Zwölf Jahre verheiratet, seit drei Monaten getrennt. Es sei von ihr ausgegangen, sagte sie. Am Tag der Trennung hätte sie nicht schlafen können, vor Aufregung und Freude. Sie verstünden sich noch gut, sagte sie, sie träfen sich noch, ab und zu. Ed war schon ganz steif vor Müdigkeit, steif . Zwölf Jahre. Ihr Mann sei eifersüchtig, hätte aber schon etwas anderes am Laufen. Weil sie immer so ekstatisch tanze, habe man sie schon öfter für verrückt gehalten, besonders bei den Weihnachtsfeiern im Betrieb. Aber sie sei nicht verrückt, kein bisschen, nur käme sie inzwischen nicht mehr weiter. Und jetzt sei nichts anderes mehr denkbar. Hier hätte sie nichts mehr verloren. Hier gäbe es nur noch diese Insel. Der letzte Ort.
Читать дальше