Lutz Seiler - Kruso

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Inselabenteuer und Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft: Kruso, der erste, lang erwartete Roman von Lutz Seiler, schlägt einen Bogen vom Sommer 89 bis in die Gegenwart. Die einzigartige Recherche, die diesem Buch zugrunde liegt, folgt den Spuren jener Menschen, die bei ihrer Flucht über die Ostsee verschollen sind, und führt uns dabei bis nach Kopenhagen, in die Katakomben der dänischen Staatspolizei. Als das Unglück geschieht, flieht Edgar Bendler aus seinem Leben. Er wird Abwäscher auf Hiddensee, jener legendenumwogten Insel, die, wie es heißt, schon außerhalb der Zeit und» jenseits der Nachrichten «liegt. Im Abwasch des Klausners, einer Kneipe hoch über dem Meer, lernt Ed Alexander Krusowitsch kennen — Kruso. Eine schwierige, zärtliche Freundschaft beginnt. Von Kruso, dem Meister und Inselpaten, wird Ed eingeweiht in die Rituale der Saisonarbeiter auf Hiddensee und die Gesetze ihrer Nächte, in denen Ed seine sexuelle Initiation erlebt. Geheimer Motor dieser Gemeinschaft ist Krusos Utopie, die verspricht, jeden Schiffbrüchigen des Landes (und des Lebens) in drei Nächten zu den Wurzeln der Freiheit zu führen. Doch der Herbst 1989 erschüttert die Insel Hiddensee. Am Ende steht ein Kampf auf Leben und Tod — und ein Versprechen.

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Lutz Seiler

Kruso

Für Charlotta

«Um jedoch auf meinen neuen Gefährten zurückzukommen,

so gefiel mir dieser außerordentlich.«

Daniel Defoe, Robinson Crusoe

Kleiner Mond

Seit er aufgebrochen war, befand sich Ed in einem Zustand übertriebener Wachsamkeit, der es ihm verboten hatte, im Zug zu schlafen. Vor dem Ostbahnhof, der im neuen Fahrplan Hauptbahnhof hieß, gab es zwei Laternen, eine am Postgebäude schräg gegenüber und eine über dem Haupteingang, wo ein Lieferwagen parkte, mit laufendem Motor. Die Leere dieser Nacht widersprach seinen Vorstellungen von Berlin, aber was wusste er schon von Berlin. Bald kehrte er in die Schalterhalle zurück und verkroch sich auf einer der breiten Fensterbänke. In der Halle war es so still, dass er von seinem Platz aus das Knattern hören konnte, mit dem der Lieferwagen draußen abfuhr.

Er träumte von einer Wüste. Am Horizont ein Kamel, das näher kam. Es schwebte in der Luft und wurde dabei von vier oder fünf Beduinen gehalten, was ihnen einige Mühe zu bereiten schien. Die Beduinen trugen Sonnenbrillen, sie beachteten ihn nicht. Als Ed die Augen aufschlug, sah er das cremeglänzende Gesicht eines Mannes, so nah, dass er es zuerst nicht überblicken konnte. Der Mann war alt und sein Mund gespitzt, als wollte er pfeifen — oder als hätte er gerade geküsst. Augenblicklich zuckte Ed zurück, und der Küsser hob die Arme.

«Oh, Verzeihung, Verzeihung, tut mir sehr leid, ich möchte — wirklich nicht stören, junger Mann.«

Ed rieb sich die Stirn, die sich feucht anfühlte, und raffte seine Sachen zusammen. Der Alte roch nach Florena-Creme, sein braunes Haar war in einem steifen glänzenden Bogen nach hinten gelegt.

«Es ist nur so«, begann seine flötende Rede,»dass ich gerade mitten in einem Umzug bin, einem großen Umzug, und jetzt haben wir schon Nacht, Mitternacht, viel zu spät, dummerweise, und von meinen Möbeln steht noch ein Schrank, ein wirklich guter, wirklich großer Schrank, draußen auf der Straße …«

Während Ed sich erhob, zeigte der Mann auf den Ausgang des Bahnhofs.»Es ist ganz in der Nähe, gar nicht weit, wo ich wohne, keine Angst, nur vier, fünf Minuten von hier, bitte, danke, junger Mann.«

Für einen Moment hatte er das Anliegen des Alten ernst genommen. Seine Hand zupfte an Eds überlangem Pulloverarm, als wollte er ihn führen.»Ach kommen Sie, bitte!«Dabei begann er die Wolle langsam nach oben zu riffeln, unmerklich, mit Bewegungen, die allein im Radius seiner talgweichen Fingerspitzen angesiedelt waren, und schließlich spürte Ed ein sanftes, elliptisches Reiben am Puls.»Du willst doch mit …«

Fast hätte Ed den Alten umgestoßen, beiseitegerammt, jedenfalls war er viel zu heftig gewesen.

«Man wird doch noch fragen dürfen!«, kreischte der Küsser, aber nicht laut, eher zischelnd, fast stumm. Auch sein Taumeln wirkte gespielt, wie ein kleiner, einstudierter Tanz. Sein Haar war ihm in den Nacken gerutscht, und im ersten Moment begriff Ed nicht, wie das geschehen konnte, und erschrak über den Anblick des plötzlich kahlen Schädels, der wie ein kleiner, unbekannter Mond im Halbdunkel der Schalterhalle schwebte.

«Tut mir leid, ich — habe jetzt keine Zeit«, Ed wiederholte» keine Zeit«. Während er hastig die Halle durchquerte, entdeckte er in jeder Ecke verhuschte Gestalten, die mit winzigen Signalen auf sich aufmerksam zu machen versuchten und gleichzeitig bemüht schienen, ihre Anwesenheit zu vertuschen. Einer hob einen braunen Dederonbeutel in die Luft, zeigte darauf und nickte ihm zu. Der Ausdruck seines Gesichts, so warmherzig wie der eines Weihnachtsmanns vor der Bescherung.

In der Mitropa roch es nach verbranntem Fett. Ein feines singendes Geräusch kam von den Neonröhren in der Vitrine, die leer war, bis auf wenige Tassen mit Soljanka auf einer Wärmeplatte. Wie Klippen standen aus der von einer blassgrauen Membran überzogenen Suppe ein paar ölige Wurst- und Gurkenbrocken hervor, die sich in der unablässig nachströmenden Hitze ein wenig auf und ab bewegten und an die Arbeit innerer Organe erinnerten — oder den Pulsschlag des Lebens, dachte Ed, kurz bevor es zu Ende geht. Unwillkürlich fasste er sich an die Stirn: Vielleicht war er doch gesprungen und das alles seine letzte Sekunde.

Transportpolizei betrat den Gastraum. Die kurzen, halbrunden Schirme ihrer Mützen glänzten, dazu das Kornblumenblau ihrer Uniformen. Sie hatten einen Hund dabei, der den Kopf gesenkt hielt, als schäme er sich seiner Rolle.»Fahrschein bitte, Ausweis bitte. «Wer keine Weiterfahrt vorweisen konnte, musste augenblicklich das Restaurant verlassen. Füßescharren, Stühlerücken, ein paar duldsame Trinker torkelten hinaus, wortlos und als wäre es nur ihre Pflicht gewesen, diese letzte Aufforderung abzuwarten. Bis zwei Uhr hatte die Mitropa des Bahnhofs fast alle Gäste eingebüßt.

Es gehörte zu den Dingen, von denen Ed wusste, dass sie nicht in Frage kamen, aber jetzt stand er auf und griff sich eines der halbvollen Gläser. Noch im Stehen trank er es aus, in einem einzigen Zug. Zufrieden kehrte er an seinen Tisch zurück. Es ist der erste Schritt, dachte Ed, das Unterwegssein tut mir gut. Er schmiegte den Kopf in seine Arme, in den stockigen Geruch des alten Leders, und schlief augenblicklich ein. Noch immer bemühten sich die Beduinen um das Kamel; aber sie zerrten es nicht in die gleiche Richtung, sondern nach allen Seiten, sie schienen sich überhaupt nicht einig zu sein.

Der erhobene Dederonbeutel — Ed hatte nicht verstanden, was er bedeuten sollte, aber schließlich war es auch das erste Mal, dass er eine Nacht im Bahnhof verbrachte. Obwohl er inzwischen beinah sicher sein konnte, dass der Schrank nicht wirklich existierte, sah Ed das Möbelstück des Alten mitten auf der Straße, und jetzt tat es ihm leid — nicht eigentlich der Mann, nur das, was von nun an damit zusammenhängen würde: der Florena-Geruch und ein kleiner Mond ohne Haare. Er sah, wie der Alte zurücktappte zu seinem Schrank, ihn aufschloss und hineinkroch, um zu schlafen, und für einen Augenblick empfand Ed die Bewegung, mit der er sich einrollte und abwandte von der Welt, so stark, dass er sich gern zu ihm gelegt hätte.

«Ihren Fahrschein bitte.«

Sie kontrollierten ihn zum zweiten Mal. Vielleicht wegen der Länge seines Haars, oder es lag an seiner Kleidung, an der schweren Lederjacke, die Ed von seinem Onkel geerbt hatte, eine Motorradjacke aus den fünfziger Jahren, ein eindrucksvolles Stück mit riesigem Kragen, weichem Futter und großen Lederknöpfen, unter Kennern als Thälmannjacke gehandelt (die Bezeichnung wurde nicht abwertend gebraucht, im Gegenteil, eher in einem mythologischen Sinn), vielleicht, weil der Arbeiterführer in allen historischen Filmaufnahmen mit einer sehr ähnlichen Jacke zu sehen war. Ed erinnerte sich: Die seltsam vor sich hin ruckenden Menschenmassen, Thälmann auf dem Podium, sein ruckender Oberkörper, vor und zurück, die ruckende Faust in der Luft, jedes Mal übermannte es ihn, wenn er diese alten Aufnahmen sah, er konnte nichts dagegen tun, irgendwann liefen die Tränen …

Umständlich zog er das kleine, schon knittrige Stück Papier hervor. Unter der Überschrift DEUTSCHE REICHSBAHN waren in verschiedenen, dünn umrandeten Kästchen Ziel, Tag, Preis und die Anzahl der Kilometer abgedruckt. Sein Zug fuhr 3.28 Uhr.

«Was wollen Sie an der Ostsee?«

«Einen Freund besuchen«, wiederholte Ed.»Ferien machen«, fügte er hinzu, weil der Transportpolizist diesmal nichts erwiderte. Immerhin, er hatte mit fester Stimme gesprochen (Thälmannstimme), obwohl ihm sein» Ferienmachen «noch im selben Moment vollkommen unzulänglich und unglaubwürdig vorkam, geradezu plump.

«Ferien, Ferien«, wiederholte der Transportpolizist.

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