«Entschuldigung, bitte Entschuldigung. «Irgendwann hatte meine Rede begonnen. Zuerst entschuldigte ich mich bei Kruso — dafür, dass ich nicht standgehalten hatte. Ich erklärte es ihm. Ich versuchte, nichts auszusparen. Ich versuchte, es zusammenzufassen: Angst und eine irre Abscheu (Abscheu vor den Toten) auf der einen, Trauer und ein irres Mitleid (Mitleid mit den Toten) auf der anderen Seite. Plötzlich konnte ich reden. Da ich betrunken war, sagte ich ein paar Sätze, die ich nicht geplant, ja, die ich noch nie ausgesprochen hatte, Dinge, die nur uns betrafen, Losch und mich, die zwei beiden . Auch Tränen waren nicht geplant gewesen. Schließlich bat ich Kruso um Erlaubnis für die Sache mit Speiche . Ich erklärte, was ich mir vorgenommen hatte (es lag einfach nah, Speiche» ausm Heim«, das Waisenkind, irgendwann war mir klar geworden, dass es für ihn keinen anderen Angehörigen gab, keinen anderen geben würde als mich, seinen Nachfolger im Abwasch des Klausners) und warum es das Andenken Valentina Krusowitschs oder das Andenken Sonjas (ich formulierte es so) nicht beschädigen würde, im Gegenteil. Ich konnte jetzt regelmäßig hier sein und würde mich kümmern , wie versprochen, hier wäre der richtige Platz dafür, Abteilung Gefunden. Dann entschuldigte ich mich bei Speiche selbst, zunächst für den Pullover und die Schuhe. Dann, stellvertretend, für die üble Nachrede, den Spott (Heimkind, Hampelmann, Versager), all die schäbigen Witze über jemanden, der, wie Kruso es ausgedrückt hatte,»auch darüber hinaus nicht geeignet gewesen war«.
Im Verlauf der Herbstwochen hatte sich Wulf D. Wätjen vom Kirchenrat in Kopenhagen noch einmal gemeldet.»Es tut mir immer noch sehr leid, dass ich Ihnen bei Ihrer Recherche nicht mehr helfen konnte …«, so begann seine Mail, und ich muss zugeben, dass ich gerührt war von diesem Satz. In der dänischen Tageszeitung POLITIKEN habe er eine Mitteilung über ein Projekt des Berliner Mauermuseums gelesen. Es gehe um die DDR-Flüchtlinge nach Dänemark. Das Museum habe den Verfasser des soeben erschienenen Buches Flugtrute Østersøen , Jesper Clemmensen, damit beauftragt, Gegenstände, Namen und andere Tatsachen zu erkunden. Ein Kontakt zum Mauermuseum, so Wätjen, brächte mich vielleicht ein Stück weiter. Noch einmal telefonierte ich mit Jesper, der mir erklärte, dass die Berliner zunächst versuchen wollten, die entsprechenden Anträge zu stellen für die Finanzierung des Projekts . Ich drückte das Telefon noch fester an mein Ohr und behauptete, vollkommen sicher zu sein, dass es Geld geben würde dafür, Geld ohne Ende,»wofür sonst, Jesper?«
In diesem Frühjahr wurde der Russische Friedhof renoviert. Die Gräber leuchten jetzt wie neu. Auch die Friedhofstore hat man frisch überstrichen (die beiden Sowjetsterne sind jetzt grau) und einen stabileren Zaun gegen die Wildschweine gebaut, die diese Gegend beherrschen.
Meist hocke ich nur da am Grab, und mir fällt nicht viel ein. Keine Hymnen , kein Psalm . Der Wald hält still oder rauscht mit den alten Sätzen:
«Die Toten warten auf uns, Ed, was sagst du dazu?«
oder
«Denk an das grüne Licht«
oder
«Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg«.
«Ich verspreche es«, murmele ich, und irgendwann kommen Speiche und ich auf den Klausner zu sprechen, die Arbeit im Abwasch, Schöpfkellen, Viola, Koch-Mike und irgendetwas, was nur dort, auf der Insel, zu haben gewesen war, und auch nur damals. Und warum er es trotzdem versuchen musste, warum es keinen anderen Weg für ihn gegeben hatte.
Wenn ich Zeit habe, halte ich auf dem Rückweg bei» Ritas Imbiss«, einer Bretterbude an der B 2, auf halbem Weg nach Hause. Es gibt dort ein Sägewerk und eine stillgelegte Bahnstation namens Nesselgrund. Und es gibt eine Wendeschleife für Lastkraftwagen — eigentlich ist es nur ein sehr großer freier Platz, nichts als Sand, wie am Strand, drei Kilometer vor Potsdam.

Ich danke meinen ehemaligen Klausner-Kollegen Jörg Schieke, Anke Schmidt, Ramona Zynda und Viktor Zynda für die Beantwortung unzähliger Fragen. Für Gespräche und Anregungen danke ich Friedrich Christian Delius, Ralf Eichberg, Gerd Püschel und Dirk Uhlig. Friedrich Dethlefs vom Deutschen Rundfunkarchiv danke ich für die rasche und unkomplizierte Versorgung mit historischem Tonmaterial. Bei meiner Recherche für den Epilog erhielt ich wertvolle Unterstützung von Rebecca Elsäßer, Henriette Seibold und Antje Wischmann. Ein besonderer Dank gilt Jesper Clemmensen, ohne dessen Hilfsbereitschaft ich die» Abteilung Verschwunden «nicht gefunden hätte.
Die Dokumentationen Über die Ostsee in die Freiheit und Hinter dem Horizont liegt die Freiheit von Christine Vogt-Müller und Bodo Müller sowie Flugtrute Østersøen von Jesper Clemmensen haben mir viele nützliche Informationen geliefert. László F. Földényis Überlegungen zu Perspektiven der Freiheit in Europa nach 1989 beschäftigen mich noch immer.
Das Gedicht Melopee des flämischen Dichters Paul van Ostaijen wird in der Übertragung Klaus Reicherts zitiert. Verstreute Zitate aus Robinson Crusoe von Daniel Defoe folgen der Übersetzung Anna Tuhtens in einer Ausgabe des Verlags Philipp Reclam jun. Leipzig von 1950. Antonin Artaud wird in der Nachdichtung Elena Kapraliks wiedergegeben. Die Verse aus dem Werk Georg Trakls entstammen dem von Franz Fühmann herausgegebenen Band Vor Feuerschlünden. Erfahrungen mit Georg Trakls Gedicht , Hinstorff Verlag 1984. Aus Edgars» Beständen «summen Zeilen von Jürgen Becker, Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn und Peter Huchel in den Text. In einzelnen Sätzen werden Fjodor Dostojewski, Marguerite Duras, Don DeLillo, Thomas Morus, das Alte Testament sowie Nachrichten und Wetterberichte des Deutschlandfunks zitiert.
Kleiner Mond
Trakl
Matthew
Wolfstraße
Hotel am Bahnhof
Die Insel
Zum Klausner
Das Zimmer
Die Zwiebel
Das Tagebuch
Kruso
Ans Meer
Das Frühstück
Die Christkiefer
Warum ziehen der Mond und der Mann
Der Lurch
Viola
Am Enddorn
Die Schiffbrüchigen I
Trakl vorgetragen
Der Gral
Kamikaze
Eine Art kleine Laube
Die Karte der Wahrheit
Schwarze Quartiere
Die Route der Ruhetage
Drei Bären
Lippen
Die Verwandlung
Die Kruso-Energie
Das Konzert
Kobold-Marén
Die Schiffbrüchigen II
Grit
Dostojewski
Ohren
Die Wurzel
Der Tag der Insel
Bernsteinlegende
Das erste Zimmer
Kalte Hände
Tschaikowski
Unterwegs im Raum Sehnsucht
Rommstedt
Das alte Leben
Der eigene Ton
Das Blut kommt später
Pan
Die Maschine
Exodos
Deutschlandfunk
Die sieben Samurai
Der Herbst, der Herbst
Gute Nacht
Keine Gewalt
Das schwarze Band
Letzte Vergabe
Märchen des Lebens
Der letzte Esskaa
Liebe
Wir Hiergebliebenen
Die Aufgabe des Ostens
Heimholung
Auferstehung
Epilog / Abteilung Verschwunden
Dank