Bis Ed begriffen hatte, was geschah, war alles wie gefügt aus schnellen Atemzügen. Der große Umriss neben dem Bett. Ein Mantel, der sich öffnete. Ein Koppelschloss mit Sowjetstern. Es schlug gegen das Glas auf dem Tisch und das Glas verwandelte sich: ein leise tönender Gral, voller Abschiedsmusik.
«Wir haben gewartet, die ganze Nacht, ich bin so froh, dass Sie … Wir haben gewartet und …«
Gegen das Licht der Schreibtischlampe konnte Ed zunächst nur die untere Hälfte der großen Gestalt genauer erkennen. Ein grauköpfiger Hüne, ein knielanger Mantel, der ihm nach Art der Kommandeure über die Schultern hing. Halb geblendet, heftete Ed seinen Blick auf die breiten, konturlosen Schulterstücke. Die leeren Ärmel und der leuchtend rote Streifen am Saum des Mantels, ohne Zweifel: ein General. Wie gelähmt lag er noch immer unter der Decke. Im Schlaf hatte Kruso sich gedreht und seinen rechten Arm um Eds Schultern geschlungen — als wollte er ihn halten oder beschützen.
Ein zweiter Soldat in Matrosenuniform betrat das Zimmer und schlug, ohne zu zögern, die Decke zurück. Krusos Griff wurde fester, aber das nützte nichts. Umstandslos zog der Matrose Ed aus dem Bett. Dann begann er Kruso zu untersuchen, der schwer atmete, aber nicht mehr zu frieren schien.
Als wäre auch Ed jetzt ein Teil der Truppe, nahm er Aufstellung neben dem Bett und versuchte, noch einmal seine Meldung zu machen:»Wir haben gewartet, die ganze Nacht, das Telefon war tot …«In diesem Moment überschwemmte ihn die Scham. Sein entblößter Gefährte, und er, halbnackt, ein Häuflein Elend, die Hände an der Hosennaht, wenn es Hosen gegeben hätte.
Auch der General schien verlegen; er griff nach der Flasche auf dem Tisch und las das Etikett.
«Ex-le-päng?«
Seine Stimme: ein dunkles Rollgeräusch.
«Sechzig Prozent Alkohol«, stieß Ed hervor, erleichtert über die Gelegenheit.
«Ich habe Losch, ich meine …, ich habe Alexander damit eingerieben, er hatte Schüttelfrost, er ist — verletzt.«
Ed deutete auf Kruso und berührte die Stelle an seinem eigenen Hinterkopf. Zerstreut versenkte der General die halbvolle Flasche in seiner Manteltasche. Mit einer halben Verbeugung deutete Ed auf das Heer von Reserveflaschen im Schrank, aber der große Mann bemerkte sein Angebot nicht, oder er sah darüber hinweg.
Sein ganzer Auftritt wirkte feierlich, nicht wie ein Notkommando. Für Befehle genügten die Augen. Ein kleiner brauner Riemen zog sich quer über seine Brust, von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte, wo Ed die Waffe vermutete.
Kruso stöhnte, und der Soldat machte ein Zeichen. Er hatte einen Port gelegt und einen Tropf angeschlossen, den er jetzt über dem Lager hin und her schwenkte, als gehöre das zur Behandlung. Erschrocken wich Ed zurück, aber der General, der einen schnellen Schritt gerade auf ihn zu gemacht hatte, griff nur nach dem Foto auf dem Stuhl. Dem Fetzen.
Das Gesicht des Generals. Ed erkannte Krusos große verletzliche Wangen, ihre endlose Fläche, grau und verdorrt, kasachische Steppe, darin ein Kamel, darauf Sonja und Kruso, die Geschwister, unterwegs zum Aralsee. Aber sie erreichten ihn nie, denn mit jedem Schritt wich auch das Ufer des Sees ein Stück zurück.
Was ist geschehen, damals? fragte Ed.
Die Frage war zu groß für Krombachs Kabuff. Obwohl sie nur in Gedanken gestellt worden war, überschwemmte sie augenblicklich das Zimmer, weshalb sich der General ruckartig entfernte. Das Foto hatte er zurückgelegt. Der Sanitäter, dem es gelungen war, die Infusion an einem Griff des Büroschranks zu befestigen, folgte ihm.
Im Gastraum gab es noch mehr Soldaten. Sowjetmatrosen. Sie hockten müde an verschiedenen Tischen, als warteten sie schon lange auf ihre Bestellung. Als der General erschien, sprangen sie auf und verbreiteten eine Wolke säuerlichen Geruchs. Auf Kommando begannen sie, dem Personaltisch die Beine abzuschlagen. Der Sanitäter sammelte Tischdecken ein. Dabei achtete er darauf, dass kein Aschenbecher zu Boden fiel. Die Schläge gegen den Tisch wurden gezielt, fast sorgsam ausgeführt, weshalb Ed davon ausging, dass es sich nicht um Vergeltung oder den Beginn eines Rachefeldzugs handelte.
8. November, SA 7.09 Uhr, SU 16.18 Uhr. So wäre es im Hermes-Taschenkalender zu lesen gewesen, aber sein provisorisches Tagebuch benutzte Ed schon lange nicht mehr, und wirklich hell wurde es auch nicht an diesem Tag. Wie letzte vergessene Gäste eines endlosen Herbstes hockten der Fregattenkapitän und zwei seiner Soldaten auf der Terrasse. Als der General erschien, sprang Vosskamp auf und machte seine Ehrenbezeigung. Einer der Soldaten schaffte es nicht, seine Waffe über die Schulter zu bugsieren, weshalb er sie gerade vor die Brust hielt und in dieser Haltung erstarrte. Der General tippte an sein Mützenschild und rief etwas auf Russisch über die Biergartentische.»Pletschom ka pletschu«, brüllte der Fregattenkapitän zurück, was die wenigen Vögel, die sich dieses Morgens angenommen hatten, augenblicklich zum Verstummen brachte. Vosskamp salutierte noch einmal, in den Rücken des Generals, sah dabei aber bereits zu Edgar hin. Ed empfing Unverständnis, aber auch Güte. Der Blick eines entsetzten Elternteils.
Pletschom ka pletschu.
Der Sanitäter hatte Kruso mit Tischdecken auf die Platte des Personaltischs gebunden. Ihre großblumigen Muster waren mit Speisekrusten und Bierflecken übersät, dazwischen, schwarzumrandet, die Brandlöcher von Zigarettenglut. Für einen Moment hatte Ed sie für Einschüsse gehalten.
Der General selbst war es jetzt, der den Tropf in der Luft hielt (das Leben), während sie die Treppe zum Meer hinunterstiegen. Durch Gesten seiner freien Hand dirigierte er die Träger, die verlangsamt und im Gleichschritt gingen, wie üblich beim Begräbnis eines teuren Toten . Der Sanitäter war für einige Meter vorausgeeilt, um die zahlreichen lockeren oder fehlenden Stufen der Klausnertreppe auszurufen. Und am Ende Ed, wie ein nutzloses Kind, das der Prozession hinterherspringt, ohne zu wissen, was wirklich geschieht. Immerhin: Er trug die Tasche, die Krankenhaustasche. Immerhin: Er verstand diese Tasche. Sieben Sachen, nicht so schwer. Bisher hatte niemand danach gefragt.
Wie ein Pharao auf seiner letzten Reise schwebte Kruso zwischen den Soldaten, mit den Füßen voran. Bestimmte Abschnitte der Treppe zwangen die Träger, die Platte des Personaltischs ausgesprochen steil zu stellen, als wollten sie dem Meer das Opfer oder dem Opfer das Meer noch einmal zeigen, den Horizont bis Dänemark, das unsichtbar im Nebel schwebte, oder das Wasser der Ostsee, das träge und novemberkalt hinter den Sanddornbüschen stand, von denen die Steilküstentreppe mannshoch überwuchert war. Ja, für einen Moment schien es Ed, als hielten sie der Ostsee einen Heiligen entgegen, einen Märtyrer, dessen Körper sie in einem nächsten Schritt den Fluten anvertrauen würden, zur Besänftigung der Stürme, zur Verwirrung der Patrouillenboote und schließlich: zum Zeichen der Freiheit und zum Beweis, dass sie bereits hier, im Diesseits, zu erlangen war und nicht erst auf Møn, Hawaii oder sonstwo — ja, Kruso musste geopfert werden, geopfert für die Zukunft der Insel …
Ed wusste nicht, wie dieser abstoßende Irrsinn in seinen Kopf geraten konnte. Er fasste sich an die Stirn. Vielleicht hatte er über Nacht zu viel Exlepäng eingeatmet, zu lange an Krusos Nacken gerochen, vielleicht war er einfach verrückt geworden.
«Losch!«
Noch immer hielten sie Kruso der Ostsee entgegen.
Letzter seiner Art, letzter lebender Vertreter, Vorsicht, Vorsicht! zischelte der Irrsinn jetzt den Stufen zu, wo in schöner Regelmäßigkeit Eds Füße auftauchten, Füße und Stufen, in endloser Zahl, aber nein, natürlich nicht, er hatte sie gezählt, mehr als einmal gezählt, in den Mittagspausen, vor der Hauptsaison, schwitzend, atemlos, zweihundertvierundneunzig Mal Vorsicht, zischelte es in Ed.
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