Vorsichtig schob sich Rebhuhn durch die Tür und tappte am Behandlungszimmer vorbei in die Stube, die, zumindest für Ed oder einen Gutteil seines verwirrten Bewusstseins, noch immer ein Zuhause, eine Elternstube war: Der dunkle Glanz des Furniers, der gelbbraune Teppich, das tägliche Staubsaugen rund um den Ofen, die kleine Galaxie aus Brandflecken, verdeckt von einem später hinzugefügten Ofenblech — mit einem Schlag schien alles wertlos.
«Ihr anderer Kollege hingegen, jener Eisverkäufer, war dumm, sehr dumm! Erst dieser Unsinn mit der Schlägerei, und dann konnte er einfach nicht warten, und seine Flucht …«
«Welche Flucht?«, brach es aus Ed hervor. Fast hatte er geschrien, jedenfalls schon zu lange geschwiegen. Seine Frage zielte vom Flur her in den Rücken des Inspektors, der wie getroffen zusammenzuckte und seine Hände in die Luft riss. Vielleicht war es diese Geste, das Übertriebene, Hysterische daran; plötzlich spürte Ed seinen Hass, ein Hass wie aufgespart für diesen Augenblick.
«Welche Flucht?«, wiederholte Ed und bewegte sich langsam auf den Inspektor zu.
«Oh, Entschuldigung, das sind die Nerven, nur die Nerven.«
Auch der Inspektor trat einen Schritt auf ihn zu.
«Was ich Ihnen also noch …«Er versuchte, Ed am Ellbogen zu fassen,»ich bin berechtigt, Ihnen mitzuteilen, dass man ein Schlauchboot gefunden hat, unten am Gellen. Die übliche Grenzverletzung, würde ich sagen, auch ein ganz schlechtes Boot … Im Bug klebte ein Milchbeutel mit persönlichen Sachen, etwas Geld, Zeugnisse, kein Ausweis, aber das Foto — seine Partnerin, soviel ich weiß …«Er besann sich.»Alles wurde sichergestellt, Herr Bendler, und der Verdacht, der zeitweise auf Sie gefallen war …«
«Hören Sie, Rebhuhn. Mein … Kollege, Alexander Krusowitsch, ist krank. Er braucht dringend Hilfe, sofortige Hilfe, einen Arzt, einen … Er ist verletzt.«
Das Wort verletzt — es war, als hätte er etwas ausgespuckt von dem Gemisch aus Seife und Verwesung, das seine Mundhöhle besetzt hielt wie ein Pelz und ihn am freien Sprechen hinderte. Er hatte das Gefühl, nur Tierlaute auszustoßen.
Wie enttäuscht wendete Rebhuhn sich ab. Mit einer halben Pirouette sank er in einen der Kunstledersessel und seufzte vernehmlich. Eine Bö pfiff auf den Kanten des Hauses, ungehemmt fuhr der Sturm über das schmale Eiland, als sollte es noch einmal gereinigt werden vor dem Untergang. Hinter der Sitzgarnitur blähten sich die Übergardinen, schwer wie Bühnenvorhänge; Ed spürte Wind im Gesicht und entdeckte, dass ein Fenster zerbrochen war.
«Oh-ha! Unser Freund ist krank. «Der Inspektor stellte die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander und bildete ein kleines Spitzdach.
«Nicht Ihr Freund«, hallte es dumpf aus Eds Filzmund. Unwillkürlich ging seine linke Hand zu dem Narbengekritzel am rechten Oberarm, für einen Augenblick spürte er den glühenden Umriss seines Körpers.
«Es tut ja gar nichts zur Sache, Herr Bendler, ob er es einmal war oder noch ist oder ob er es eines Tages sein wird oder wieder sein wird, wie ich glaube, unser Freund — wir Hiergebliebenen müssen jetzt einfach zusammenhalten, verstehen Sie? Die, die noch da sind, compris?«
Der Kreishygieneinspektor schlug die Beine übereinander, als wolle er sein Bleiben auf ewig verankern. Ein Windstoß, das zerbrochene Fenster — ein großes Stück Glas, das splitternd zu Boden krachte. Übergangslos stürzte Ed sich auf Rebhuhn und stieß ihm seinen fauligen Atem ins Gesicht:
« Mein Freund, mein Freund, mein Bruder !«
Wie ein Kleinkind winkelte der Inspektor einen Ellbogen über der Stirn, mit dem anderen Arm fuchtelte er ziellos gegen Ed, der den fremden Schädel tief ins Kunstleder stemmte. Die Heliomaticbrille verrutschte. Ein großes Insekt, das seine Augen verliert, dachte Ed, nur ein leichter Druck, und sie fallen zu Boden. Für einen Moment sah er das flache Inspektorenprofil; nur Andeutungen von Mund und Nase, ein Gesicht wie eine riesige abgenutzte Fingerkuppe, gelb und grau, der sandigen Erde ähnlich, in die Kruso und er die Flaschen vergraben hatten am Tag der Begierde, gegen den Westmond …
«Mein Freund!«, brüllte Ed noch einmal, denn das Brüllen tat ihm gut. Der Filz in seinem Mund war gerissen, und endlich konnte er sich hören, und er hörte, dass es stimmte, was er brüllte, während der Inspektor sich einbuckelte mit angezogenen Armen und Beinen, geschrumpft auf die Größe seines lächerlichen Namens.
Der Sturm hatte nachgelassen, und es regnete fein. Vor ihm der Inspektor. Im Gänsemarsch trabten sie die hundert Meter bis zur Meldestelle hinunter. Auf der Straße war niemand, der Ort wirkte wie ausgestorben. Selbst das Gehen des Inspektors hatte etwas Verlorenes; kurze, abgehackte Schritte, als wären seine Füße über Jahre in Ketten gewesen.
Im Büro gewann Rebhuhn allmählich seine Fassung zurück. Mehrere Ordner landeten auf seinem Schreibtisch, über denen er für eine Weile seine Hand auf und nieder gehen ließ; irgendetwas musste sortiert oder durchgezählt werden in der Luft.»Wir helfen Ihrem Freund. Wir helfen, wo wir nur können, selbstverständlich …«Das Gebrabbel glich einer Beschwörung, die es ihm ermöglichte, seine Angst im Zaum zu halten, und Ed erkannte, dass es der windelweichen Gestalt hinter dem Schreibtisch ernst war, dass Rebhuhn diesmal kein Theater spielte.
«Ich muss Sie bitten, sich jetzt nicht zu wundern, Herr Bendler«, hob Rebhuhn an,»wir helfen Ihrem Freund, wir können helfen.«
Noch im Stehen wählte er die Nummer. Ed starrte auf den eingeknickten Zeigefinger, der das Wählrad mehrmals verfehlte.»Bitte wundern Sie sich nicht, es ist der kürzeste …«In diesem Moment kam die Verbindung zustande. Der Inspektor nahm Haltung an, augenblicklich war seine Stimme sicher und fest, dann sprach er auf Russisch weiter. Er redete in kurzen, monotonen Sequenzen, als erstatte er einen Bericht, den man vielleicht schon erwartet hatte. Eine einzige Nachfrage, die ebenso kurz und isoliert beantwortet wurde. Jedes seiner Worte bezeugte Respekt und die Bereitschaft, sich bedingungslos unterzuordnen.
Ed verstand nicht mehr als zwei, drei Wendungen; in all den Jahren Unterricht hatte sich sein Wortschatz kaum vermehrt. Rebhuhn diktierte Längen- und Breitengrade, wie es unter Militärs vielleicht üblich war bei Ortsangaben, dann die Postadresse des Klausners — Ed hörte sie das erste Mal. Selbst die Adresse hatte Rebhuhn mit russischem Akzent gesprochen. Am Ende war er gezwungen, Namen und Dienstgrad zu wiederholen, er buchstabierte, langsam und deutlich, aber es klang ausdruckslos, nichtig, wie der letzte Versuch, jemand zu sein.
Die Aufgabe des Ostens
Kruso schlief. Es war eine Art Märchenschlaf. Ed berührte die große unrasierte Wange, er strich darüber hin, mit dem gekrümmten Zeigefinger, wie ein Vater, wenn er sich nachts noch einmal über das Bett seines Sohnes beugt. Er hielt seinen Handrücken an die Stirn, dann die Lippen, weil das Handrückengefühl täuschen konnte. Seit dem Morgen waren hundert Jahre vergangen.
Eine Weile blieb Ed dicht über Krusos Gesicht, und aus irgendeinem Grund schloss er die Augen. Er sah Rimbaud an der Kasse und Karola am Tresen, selbst sein Vorgänger Speiche saß wieder mit ihnen allen am Tisch und fragte nacheinander nach seiner Tasche, seiner Brille, seiner Zahnbürste. Die Unwirklichkeit hatte ein Maß erreicht, in dem es möglich war, dass er Speiches Pullover auf dem Leib trug und ihn gleichzeitig aus dem Schrank nehmen und übergeben konnte, so feierlich, als handele es sich um seinen Abschlussbericht, das Eingeständnis einer kaum noch bemessbaren Schuld, die er als Nachfolger angehäuft hatte.»Bitte verzeih, lieber Speiche, ich …«
Er schaffte es nicht, sich Kaffee zu machen, und übergoss Kaffeelikör mit kochendem Wasser. Er zog die Gardine beiseite und schaute nach draußen auf die Terrasse, als könne dort die Hilfe in jedem Moment eintreffen, ein Hubschrauber vielleicht. Oder eine neue russische MiG, ein Senkrechtstarter, der keine Landebahn brauchte, nur Breiten- und Längengrade. Er versuchte zu trinken und verbrannte sich die Lippen.
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