Er stieg nach oben und begann, eine Krankenhaustasche zu packen. Es war kalt in Loschs Zimmer, er hatte vergessen zu heizen. Das Rasierzeug war sauber aufgereiht. Er nahm etwas Wäsche aus dem Schrank, auch dort herrschte Ordnung. Kleine Stapel, zu schwarzen Baumwollpyramiden aufgeschichtet, auf der Spitze ein paar Strümpfe. Einsatzbereit. Kein Schlafanzug, kein Bademantel — das würde fehlen. (Sofortige Missbilligung der Oberschwester:»Kein Schlafanzug? Dann eben das. «Ein kurzes Hemd, das hinten offen war, Gesäß und Rücken entblößt.) Ed steckte den größten Teil ihrer Einnahmen in einen Briefumschlag und platzierte ihn am Boden der Tasche. Nach einer Weile kramte er das Kuvert wieder heraus und notierte darauf seine Festlandadresse: Wolfstraße 18, 4020 Halle / Saale. Er wusste nicht, weshalb, er tat es nur.»Meine Mappe ist sicher, Ed, oder?«Erst jetzt fielen ihm die Gedichte ein. Kruso war in den letzten Tagen einige Male darauf zu sprechen gekommen; er hatte sie ihm anvertraut.»Und so lassen wir es, Ed, bis sich hier alles wieder beruhigt hat. Dann stelle ich den Band zusammen. «Vierzig Minuten bis zur Höhle des Fuchses und zurück — aber was, wenn die Hilfe gerade in diesem Moment eintreffen, was, wenn Losch erwachen und ihn brauchen würde. Es gab keinen Platz in seinem Kopf, länger darüber nachzudenken.
Er brachte die Tasche ins Kontor und platzierte sie am Fußende des Bettes. Als der Eindruck, etwas sei damit unwiderruflich besiegelt, übermächtig wurde, nahm er sie dort wieder weg und stellte sie auf Krusos Stuhl am Personaltisch. Seine Hilflosigkeit war mit Händen zu greifen.
Weil Kruso fror, schloss Ed den Bahnheizkörper an und schob ihn unter das Bett.»Eins nach dem anderen«, flüsterte Ed und holte einen zerknautschten NIVEA-Wasserball aus dem Schuppen, den er abspülte und mit heißem Wasser füllte. Er versuchte, sich nicht zu beobachten dabei; er versuchte, es praktisch zu sehen. Für einen Augenblick erkannte Ed, wie geisterhaft alles war. Er sah die Besatzung eines Geisterschiffs, gestrandet an der Küste einer Geisterinsel; Schiffbrüchige, Insulaner und Esskaas, sie alle waren geisterhaft.
Als er Kruso den halbvollen Ball unter die Beine schieben wollte, sah er, dass sein fiebriger Freund sich etwas auf den Bauch presste, unter der Decke. Es war das Foto, es war Sonja.
«Gut, gut«, murmelte Ed,»du hast sie dir geschnappt, was?«
Er hatte eine Idee.
Krombachs Exlepäng. Er nahm eine frische Flasche aus dem Schrank, der Beipackzettel fiel ihm in die Hand.
Es ist nie zu spät, aber auch nie zu früh … Pflege und Nahrung, wie jeder Boden, der Frucht bringen soll … erfrischt und verjüngt … Der Name Exlepäng garantiert weit über ein halbes Jahrhundert für Qualität und Wirkung. Ed rechnete: 2039. Weit über: 2050? So stand es dort, aber so war es nicht gemeint, nein, sicher nicht.
Vorsichtig zog er Kruso das Foto aus den Fingern, wobei es noch stärker zerknickte. Er schüttete sich etwas von dem Elixier in die Hand und rieb die dicht behaarte Brust seines Gefährten damit ein.»Nur den Moment, Losch, nur den Moment, gleich kommt sie zurück zu dir, sie passt auf dich auf, sie kommt zurück, das wissen wir. Sie ist nur hier drüben, auf dem Stuhl, da wartet sie auf dich. «Ed spürte die Wärme unter der Hand. Kruso atmete schneller, es wurde heiß auf der Haut, ein Husten kam ins Rollen, wie eine Lawine aus Kies …
Erschrocken ließ Ed von Kruso ab. Alles konnte falsch sein. Alles das Gegenteil bewirken. Er nahm das Foto vom Stuhl und schob es zurück, auf Krusos Bauch.
Erst jetzt bemerkte er es: Die Leere über dem Schrank. Krombachs graue Herzen, sie fehlten. Sie schlugen nicht mehr.
Kruso war jetzt wach, öffnete aber nur selten seine Augen. Ed stampfte Weißbrot, Milch und etwas Sanddornsaft zu Brei. Sanddorn sei für alles gut, behaupteten die Inselleute. Er gab Zucker und zwei Gelonida dazu, die er neben einem Fläschchen Jodtinktur und ein paar ergrauten Kompressen in Krombachs Rotkreuzkasten gefunden hatte. Einer Eingebung folgend, mischte Ed auch ein paar Blättchen von Krusos getrockneten Kräutern in den Brei, die sein Gefährte feierlich» letzte Ernte der Saison «genannt hatte.
Wie beim Füttern eines Säuglings tippte Ed mit dem Löffel zuerst die Oberlippe an, und tatsächlich, als existiere dieser Reflex ein Leben lang, öffnete Kruso seinen Mund, aber nur ein wenig. Ed strich etwas Brei ab und versuchte, die Speise mit der Rückseite seines Löffels tiefer in den Mund zu schieben, was ihm schließlich auch gelang. Kruso schluckte, schlug die Augen auf und begann sofort zu sprechen.
«Die Aufgabe des Ostens, Ed, ich meine des ganzen Ostens, von den kasachischen Jurten angefangen, vom Zirkuszelt meiner Mutter an, in Karaganda, du weißt, von dort bis hier, bis zu dieser Insel, dieser Arche …«, er verschluckte sich und spuckte, offensichtlich tat der Brei ihm gut,»… wird es sein, dem Westen einen Weg zu zeigen. Einen Weg zur Freiheit, verstehst du, Ed? Das wird unsere Aufgabe sein, und die Aufgabe des ganzen Ostens. Ihnen, die es technisch, ökonomisch, infrastrukturell so weit …«, er schluckte und fuhr kräftiger fort,»ihnen, die so weit gekommen sind mit ihren Autobahnen, Taktstraßen und Bundestagen, den Weg zur Freiheit zu weisen, diese verlorene Seite ihrer … ihres Daseins. «Er verschluckte sich erneut, dann der Anfall eines Hustens, als hätte ein unsichtbarer Riese seine Schultern gepackt, um ihn für eine Weile gründlich durchzuschütteln.
«Pscht, pschschscht«, machte Ed, verstummte aber sofort, als er Krusos stechenden Blick bemerkte.
«Es ist unsere Aufgabe, Ed. Die Wurzel zu beschützen vor den Schlacken, die jetzt kommen, in unfassbar wohlriechenden Lawinen, unfassbar verlockend, milde, gutaussehende Schlacken, verstehst du, Ed?«
In seiner Verlegenheit versuchte Ed, mit dem Füttern fortzufahren, aber Kruso schluckte nicht mehr. Er schob nur noch die Lippen ein wenig gegeneinander und förderte so einen Teil des Breis wieder zu Tage.
«Die Freiheit zieht uns an. Sie erkennt ihre Helfer. Und sie hat auch dich erkannt. Sie hat dich erkannt, Ed!«
Ed rieb den weißgelben Schlamm so gut es ging aus dem Stoppelbart und wischte ihm über die Brust. Die Waschung diesmal schon am Nachmittag, flog es Ed durch den Kopf, sinnloserweise. Er begann seinem Freund gut zuzureden.
«Etwas müssen wir auch essen, Losch. Ich meine zur Stärkung, gegen die Schlacken, ich meine, wer sonst sollte wissen, wie …«
Da Ed auf Dauer nicht besonders viel in diese Richtung zu sagen hatte (obwohl er, wie so oft, den tiefen Wunsch verspürte, übereinzustimmen mit seinem Gefährten, in aller Fremdheit eins mit ihm zu sein), ging er dazu über, Trakl vorzutragen. Einige Strophen und sogar ganze Texte hatte er tatsächlich vergessen. Das war nicht schlimm. Er summte Zeilen und Reime aus anderen Gegenden herbei, das fadenscheinig gewordene Kompendium seiner Auswendigbestände, er summte das alles so vor sich hin, als wäre es nie etwas anderes gewesen als eine einzige liebevolle Melodie, gestimmt auf einen einzigen verzweifelten Ton — den eigenen Ton. Auch Krusos Gedichte gehörten dazu, und dann auch Passagen, von denen er bis dahin nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierten. Etwas wie ein eigenes Gedicht — als hätte er zu schreiben begonnen.
Sein Löffel berührte Krusos Mund, und der Sesam öffnete sich.
«Gut, Losch, sehr gut«, murmelte Ed,»so schaffen wir das.«
Auf dem Weg in den Abwasch fühlte Ed sich gestärkt und beinah zufrieden. Er spülte den Rest des Breis aus der Tasse und ließ sie voll Wasser; er tauchte seine unverletzte Hand in die Tasse und fühlte den Wasserstrahl. Brüderchen, was machst du, schläfst du oder wachst du? Zwei, drei Mal drehte er sich um, zur offenen Klappe des Lastenaufzugs, in dem noch immer eine Pfütze stand. Als er ins Kabuff zurückkehrte, schien Kruso wieder ganz bei sich zu sein. Sein Kopf lag schief im Kissen, sein linkes Augenlid begann zu zittern. Als er die Augen erneut aufschlug, blieb das Lid für zwei Sekunden hängen, auf halber Strecke.
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