Gut drei Jahre zuvor hatten mir meine Eltern ihren alten Wagen überlassen, einen Shiguli, Baujahr 1971, der sich, wie ich aus Kindertagen wusste, ausgezeichnet zum Übernachten eignete, weil die Lehnen der Vordersitze beim Zurückklappen nahtlos an die Sitzflächen der Rücksitze anschlossen; Kopfstützen oder Schalensitze gab es damals noch nicht, jedenfalls in Autos aus Togliatti; so hatten die Russen ihre Autobauerstadt genannt, nach einem italienischen Kommunisten, Palmiro Togliatti. Außerdem wurde nach italienischer Lizenz gebaut,»Vorbild war der Fiat 124, Auto des Jahres 1966!«— all diese Dinge hatte mein Vater unzählige Male erwähnt, wenn wir im Shiguli unterwegs gewesen waren, so oft, dass sie auch jetzt, da der kostbare Wagen mir gehörte und ich selbst am Steuer saß, in meinem Kopf herumschwirrten, als wären sie ein notwendiger Bestandteil dieses Autos, unverzichtbar wie die Räder oder die Knüppelschaltung. Was ich wirklich mochte, war das braune, wunderbar weiche, zu Streifen abgesteppte Kunstleder, das noch nach Kindheit roch, nach Fahren und Schlafen, langausgestreckt auf dem Rücksitz, die Fußspitzen an der einen, den Kopf an der anderen Tür.
Doch auch darum geht es nicht in meinem Bericht. Ich war erschöpft und hätte sofort in den Schlaf sinken können, wollte aber noch warten, wenigstens bis zum Einbruch der Dunkelheit. Noch einmal drehte ich eine Runde durch das Rigshospitalet. Vor den Bettenhäusern gab es langgezogene Wasserbassins mit kleinen nervösen Springbrunnen. Über dem Eingang zur Gerichtsmedizin stand» Teilum-Bygningen«, auch die Frau an der Auskunft hatte» Teilum «gesagt. Für mich war es das Museum der Ertrunkenen . Schon beim Lesen des Interviews mit dem alten Hafenmeister war mir das Wort durch den Kopf gegangen und hatte mich seitdem nicht mehr verlassen.
Das» Teilum «sah nicht aus wie ein Museum und auch nicht wie ein Leichenschauhaus. Es war ein fünfstöckiger Neubau, die Fassade aus Kiesbeton, ebenso die Pflanzenschalen links und rechts vom Eingang, in denen winzige Ginkgobäumchen um ihr Dasein kämpften. Durch die Glastüren des Vorder- und des Hintereingangs konnte man die Vorhalle und außenliegende Flure einsehen. In den großzügig angelegten Korridoren waren Sitzecken eingerichtet, abgeschirmt von spanischen Wänden und bestückt mit bunten Schalensesseln, hellblau, grün, rot, und unvorstellbar war, dass dort jemals irgendjemand Platz genommen haben sollte. In die Tiefe, wo die Toten liegen mussten, führten zitronengelbe Wendeltreppen.
Als ich meine Stirn von der Scheibe löste und zurücktrat, um das» Teilum «zu fotografieren, dessen verzweifelte Buntheit mir einen schwer benennbaren Respekt einflößte (War es vielleicht doch möglich, mit dem Tod irgendwie moderner, optimistischer umzugehen?), kam ein Mann mit Fahrrad auf mich zu. Ohne abzusteigen, fragte er mich etwas, vermutlich, was ich hier zu suchen hätte. Er trug eine graue Wachschutz-Uniform, die an einen Schlosseranzug erinnerte. Auch er selbst war grau, graue Haare, graues Gesicht. Ich antwortete auf Englisch. Ich erklärte, dass ich ein deutscher Schriftsteller sei, der eine Recherche mache für ein Buch über die Toten,»about the bodies, who came here in former times«, stotterte ich, worauf der Security-Mann sofort von mir abließ und mir alles Gute wünschte. Weit nach vorn gebeugt und mit beachtlichem Tempo nahm er seine Fahrt wieder auf; es musste eine Art Rennrad sein. Plötzlich wurde mir bewusst, dass er schon mehrmals an mir vorbeigezogen war, während ich versucht hatte, das Museum der Ertrunkenen näher zu erkunden.
Ich kroch in den Shiguli und schlief bald ein. Über mir das Rauschen der Bäume von Fælledparken (der Name im Notizbuch). Am nächsten Morgen machte ich mich, so gut es ging, zurecht. Wasser aus der Wasserflasche, Zähneputzen im Schutz des aufgeklappten Kofferraums. Ich wechselte das Hemd und versuchte, es glattzustreichen. Dann ging ich in den Park, aber die Kaffeebude war geschlossen.
Im Auto fand ich noch einen Apfel. Ich überlegte, ob es für mein Vorhaben von Vorteil sein könnte, die Legende vom Schriftsteller beizubehalten, in jedem Fall schien es eindrucksvoller. Ich hatte eine Mappe mit Sonjas Foto und einem Begleittext in englischer Sprache vorbereitet, der klarmachen sollte, weshalb ich den Status eines» Angehörigen «beanspruchen durfte. Und ich hatte Sonjas persönliche Daten zusammengestellt (soweit ich Bescheid wusste darüber), auch den vermutlichen Zeitpunkt ihrer Flucht, ihrer vermutlichen Flucht. Noch einmal schlug ich die Mappe auf, konnte mich aber nicht konzentrieren und pulte nur ein paar Wachsspritzer von Sonjas zerknittertem Gesicht.
«Blas aus, verdammt!«
«Du musst ausblasen, Ed!«
Ich versuchte, mich zu wappnen. In meinem Kopf spukten Zombies und Leichenteile. Ich sah die tote Sonja in einer Kühlbox,»auf dem guten Eis des Königreichs«— vollkommen absurd, ja, und plötzlich kam es mir nicht weniger absurd vor, an diesen Ort gekommen zu sein, naiv und unwissend wie ich war. Aber nicht ohne Grund, immerhin. Ja, ich würde mich kümmern , und natürlich hoffte ich, Sonja nicht zu finden.
Eine Weile irrte ich durch die Flure des Erdgeschosses, Auditorium 1, Auditorium 2, die Türen standen offen, ein süßlicher Geruch hing in der Luft. Die Büros lagen oben. Dort gab es eine Art Wartebereich mit Garderobe und Empfang, in dem zwei Sekretärinnen saßen, eine jüngere und eine ältere.
Ich begann, meine auswendiggelernten Sätze vorzutragen (mein schlechtes Englisch). Noch bevor ich meine Mappe öffnen konnte, griff die Jüngere zum Telefon.
«Doktor Sørensen?«
Dr. Sørensen sprach Deutsch, wofür ich ihm augenblicklich dankbar war. In seinem Haus gäbe es pro Jahr etwa 3000 Obduktionen; natürlich könnten auch ertrunkene Flüchtlinge dabei gewesen sein, aufgelesen an den Küsten von Seeland, Lolland oder Falster, an einige Fälle erinnere er sich dunkel, aber über Unterlagen verfüge leider nur die Polizei … Sørensen trug ein weißes Hemd mit großem spitzen Kragen. Beim Reden legte er den Kopf leicht zur Seite und nickte ein paar Mal, um ein» Es-ist-nun-mal-wie-es-ist «anzudeuten.
Eine Weile war ich auf diffuse Weise erleichtert. Ich war froh, von den Dänen, die alle Deutsch zu sprechen schienen, empfangen und freundlich behandelt worden zu sein, trotz meiner übernächtigten, knittrigen Erscheinung, der Erscheinung eines Dahergelaufenen, immerhin des ersten Ostdeutschen im» Teilum«, der sich für die Leichen seiner Landsleute interessiere, wie Sørensen bemerkte,»Landsleute — könne man das überhaupt noch sagen, heute, wohl eher nicht, Herr Bendler, oder?«
Ich muss zugeben, dass Sørensen mich beeindruckte. Seine agile Art, sein gebräuntes Gesicht — heute würde ich vielleicht anders empfinden, aber damals war Sørensen ein Mensch aus einer anderen Welt, einem anderen (besseren) Leben, Lichtjahre entfernt von dort, wo ich herkam. Beinah schämte ich mich vor ihm für das fleckige Foto, holte es dann aber doch noch heraus aus meiner Mappe und schob es über den Tisch, einer letzten Bitte ähnlich; ich kam mir schäbig dabei vor. Sørensen blickte nur kurz auf das Bild (wie auf ein Missverständnis), berührte es aber nicht, weshalb ich es bald wieder an mich nahm, hastig und verlegen.
Trotzdem muss ich sagen, dass der Umstand meines Erscheinens mit viel Hilfsbereitschaft beantwortet wurde, einschließlich des Angebots einer Führung durch das» Teilum«. Vielleicht, weil es schwerfiel, mich mit leeren Händen fortzuschicken (angesichts des weiten Wegs, den ich zurückgelegt hatte), vielleicht auch, weil ich aus dem Osten kam und mit meiner Demutshaltung den Eindruck erweckte, eigentlich an allem interessiert zu sein.
Man spräche hier über den Tod etwas unbefangener, erklärte Sørensen, während er mich durch die Räume führte. Ich trug jetzt einen weißen Kittel und tappte hinter ihm her.
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