In Istanbul hatte Kopp die Beobachtung gemacht, dass Doiv den anderen Reisenden eher aus dem Weg ging. Wenn sie ihm im Bild standen, machte er einen Schritt beiseite. Nein, sagte Doiv, ich hab nur grad an was anderem gearbeitet. Aber selbstverständlich hat er auch ein Projekt, das Traveler heißt. Denn, merke, keiner ist einfach so unterwegs, jeder hat etwas auszureisen. Die meisten hoffen, woanders als zu Hause gäbe es andere Weisheiten zu finden. Dabei gibt es die nicht. Die Weisheit ist, dass man sich von Zeit zu Zeit vergewissern muss, dass man noch in der Lage ist klarzukommen, auch wenn nicht alles unverändert und berechenbar bleibt. Im Grunde fordern sie den Tod heraus, aber eben nur in kleinen Dosen. Manche haben gespart, andere gehen mit nichts los. Beide Gruppen haben ihre Ressourcen entweder nach 3 Monaten aufgebraucht und kehren um oder sie haben gelernt, wie man ohne Geld durchkommt, und müssten eigentlich nie wieder aufhören zu reisen. Das ist überhaupt nicht schwer, du musst nur einen einzigen Preis dafür zahlen: du kannst keine Familie gründen. Es stimmt zwar, sagt Doiv, dass man immer auf die Gnade eines anderen angewiesen ist. Aber es muss nicht immer derselbe Mensch sein. Das habe ich erkannt.
Unterwegs zu sein heißt, immer neue Allianzen eingehen zu müssen und zu können. Natürlich wird man auch unterwegs irgendwann alt, krank, traurig oder entliebt. Aber all das ist auch nicht härter, als wenn man zu Hause geblieben wäre, und manchmal sogar leichter — unter der Voraussetzung, dass man sich rechtzeitig ein flexibles Konzept für die Fortbewegung zurechtgelegt hat. Merke: Fahrzeuge altern schneller als Menschen. Einmal hat Doiv ein altes Schweizer Ehepaar getroffen. Denen ist nach 25 Jahren oder was der Bus kaputtgegangen, und sie hatten kein Konzept, wie sie jetzt weitermachen sollten. Das ist ein gutes Foto geworden. Zwei alte Leute vor einem durchgerosteten Bus, und in ihren Gesichtern ist zu lesen, dass der größte Bruch in ihrem Leben nicht der Moment war, als sie losfuhren, sondern derjenige, als der Bus kaputtging.
Das kann ich verstehen, sagte Kopp.
Ohne dein Auto wärst du nicht hier?
Ohne mein Auto wäre ich nicht hier.
Wo wärst du?
Zu Hause.
Wo ist dein Zuhause?
Berlin. (Selbst überrascht, wie leicht das auszusprechen war. Spontan, schnell. Das ist also etwas, das ich weiß.) Aber du bist nicht in Berlin.
Nein. Ich habe ja ein Auto. (Du kriegst mich nicht.) Wie ist das Leben da nowadays?
Ich habe keine Ahnung, sagt Kopp, denn auch das entspricht der Wahrheit.
Es gibt zwei Gründe, weshalb ein Mann durch die Gegend fährt, sagt Doiv. Arbeit oder Frauen.
Did she leave you, hat sie dich verlassen und hat sie alles mitgenommen, was dir gehört hat?
… (Ja, aber nicht so, wie du denkst.)
Oder war sie deine Chefin? Du hast eine Chefin bekommen, eine junge, schöne Chefin.
Darius Kopp schüttelte den Kopf.
Du hast dich in die Frau deines besten Freundes verliebt.
Nein.
Du konntest dich zwischen zwei Frauen nicht entscheiden. Kopp winkte ab.
Du hast dich in einen Mann verliebt.
Nein, sagte Kopp. Männer haben Schwänze.
Doiv lachte. Unweit von ihnen am Strand saß eine kleine Gruppe um ein Feuer. Die haben Feuer. Wir könnten auch Feuer haben, wenn wir das wollten. Sind es nicht sogar Deutsche? fragte Doiv. Nein, Skandinavier. Drei junge Männer, eine Frau.
Sie haben ein Mädchen dabei, sagte Doiv. Mädchen haben keine Schwänze.
Wenn's gut läuft, nicht, sagte Darius Kopp.
Doiv lachte, rief Hi! und winkte mit seiner Raki-Flasche.
Hi, sagten die vier an der Feuerstelle.
Sie tranken Wein. Sie hatten eine zehntägige Klettertour hinter sich, zum Beweis trugen sie auch jetzt ihre Bergsteigerschuhe. Das Mädchen war von einem langen, weiten, schmutzigen Pullover verhüllt, ihre schwarzen Leggings hatten ein Loch am linken Knie. Löcher in Frauenstrümpfen wecken sexuelles Interesse, so auch diesmal, obwohl sie ansonsten nicht mein Typ ist. Sie trug ein Stirnband mit Norwegermuster und grinste die ganze Zeit auf eine leider nicht attraktive Weise (in einem Mundwinkel waren die Zähne zu sehen, im anderen nicht). Trotzdem sah Darius Kopp sie den Großteil des Abends an, während Doiv mit den Männern, genauer gesagt mit einem von ihnen, dem Wortführer, lang und breit über die Berge redete, denn es gibt offenbar nichts, worüber er nicht reden könnte. Während er trank, als ginge es um sein Leben. Nein, ganz anders, das Gegenteil: als würde er systematisch auf seine Vernichtung hintrinken. Der Tag mag gewesen sein, wie er war, jeden Abend versucht Doiv Dajkn, sich durch Trinken umzubringen. Wie käme ich dazu, ihn dafür zu verurteilen. Es gab eine Zeit, als Darius Kopp dasselbe versuchte.
Ein erstes Mal in der Phase, als Flora ihn bat, lieber nicht mehr zu kommen, wenn ihm nichts anderes möglich sei, als das gesamte Wochenende über zu jammern und zu schimpfen.
Und was soll ich sonst machen?
Was immer du willst.
#
[Datei: panik]
Wenn die Panik kommt, tu, als würdest du sie nicht bemerken. Geh ins Internet und spiele etwas. Spiele und spiele. Während in deinem Brustkorb der Schmerz wächst und wächst, du weißt, das ist die Panik, die Muskeln verhärten sich, krampfen, aber du tue weiter so, als würdest du es nicht merken. Tue so lange so, bis du triumphiert hast. Vergiss nicht zu atmen. Beiß die Zähne nicht zu fest zusammen und hyperventiliere nicht. Wenn du hyperventilierst, ist es vorbei, du kannst aufgeben. Aber wenn es dir gelingt, das zu vermeiden, und du hinreichend erschöpft davon geworden bist, kannst du dich hinlegen. Ruh dich aus.
#
[Datei: auf_der_straße_leben]
Das Problem ist die übermäßige Sensibilität des primitiven Angstsystems im Gehirn. Flucht oder Verteidigung in Situationen, in denen Flucht oder Verteidigung überhaupt nicht nötig wären. Unter normalen Umständen (kein Krieg, keine Randale, kein Amoklauf, kein Erdbeben, noch nicht einmal ein Unwetter) auf einer belebten Straße in einer Stadt von A nach B zu kommen ist KEINE Situation, in der das primitive Angstsystem aufgefordert wäre, Alarm zu schlagen. DAS IST NICHT DIE SITUATION! Was würdest du erst in Bombay tun?
Gar nichts. Niemals. Niemals.
Der Punkt ist: sagst du Bombay, versteht es jeder. Sagst du Alexanderplatz, schauen sie dich an wie ein blutiges Hemd. Dir geht's zu gut. Ja, das stimmt. Auf einer Müllkippe in einem Slum ist Depression keine wertbare Kategorie und Angst gleichbedeutend mit dem sofortigen Krepieren. Ich weiß das und schäme mich. Aber das ändert nichts an meiner tatsächlichen Situation. Diese ist geprägt von drei ähnlich aussehenden, jedoch voneinander zu unterscheidenden Phänomenen:
1. der Veranlagung, am Leben zu leiden (typus melancholicus)
2. einer posttraumatischen Belastungsstörung
3. einer auch ohne einen Auslöser auftretenden chemischen Reaktion
Ich bin auf allen Feldern bereit, einiges zu tun, um den Status quo zu verbessern. Aber ich bin nicht so selbstgerecht, nicht zu wissen, dass meine Möglichkeiten hier wie dort begrenzt sind. Ich kann noch so viele Verfahren zur Korrektur meiner Lebensweise einsetzen: mein Begreifen, mein Fühlen, mein Tätigwerden hat Grenzen: äußere und innere. Dagegen, was in deine Zellen eingeschrieben ist, kannst du nur sehr wenig ausrichten. Selbst wenn jeder Stoff, den wir messen können, in genau dem richtigen Maße (von dem von uns vermuteten richtigen Maße) vorhanden ist, trotz fehlerloser Parameter kann es passieren, dass dir der Boden unter den Füßen entgleitet. Die Wahrheit ist: du kannst dich bemühen, ein gelungenes Leben zu führen, demütig, ausdauernd, umsichtig. Wenn die Krankheit zuschlägt, ist das alles vollkommen für die Katz. Sich vier Monate lang aufpäppeln, um dann innerhalb von 4 Stunden wieder zu einem kompletten Wrack zu werden. Die Dämonen sind rüpelhaft, sie kommen einfach durch die Wände, rempeln dich und ersticken fast schon vor Lachen.
Читать дальше