Dass sie mit einem Mann hier sein konnte, fiel Darius Kopp erst jetzt ein. Deswegen die Seltsamkeit der Großmutter. Wen hast du schon wieder zusammengeklaubt am Wegesrand, und dann lässt du ihn hier und fährst zu einem anderen. Von da an schaute Kopp nur noch aus den Augenwinkeln nach den Frauen in den Paaren. Und was ich mache, wenn sie es ist? Und was, wenn ein junger Kerl ihres Alters bei ihr ist, was, wenn einer meines Alters, was, wenn ein Greis. Keine Idee. Am besten wäre, wenn sie mich bemerkt, denn wenn sie mich bemerkt, wird sie die Sache in die Hand nehmen, uns vorstellen in ihrer überschwänglichen Art, und wir sollten doch was trinken gehen gemeinsam, und ich werde nicht ablehnen, sondern zusagen und es aushalten, was es auch immer ist, wenn es ein junger Kerl ist oder einer in meinem Alter oder ein Greis. Ein Greis, das wäre am besten, obwohl das bedeuten würde, dass er im Alter meines Vaters wäre — und hier hätte Darius Kopp die schlechteste Pizza beinahe wieder ausgespuckt. Zum Glück war die Promenade ohnehin gerade zu Ende. Ein wenig Licht fiel noch über die Grenze hinaus auf einen steinigen Strand. Zwischen den Kieseln verstreut Müll, Getränkeverpackungen hauptsächlich. Der Geruch abgestandener Getränke und des Meers. Interessanterweise verringerte das Kopps Übelkeit. Er schluckte und atmete. Mit dem Gesicht zum Meer saßen Liebespaare und Jugendliche zwischen den Kieseln. Kopp blieb so lange stehen, bis er sich die Rücken von allen angesehen hatte. Er sah nicht von allen soviel, dass er sie eindeutig als Oda oder als Nicht-Oda hätte erkennen können, manche Ecken waren zu dunkel, aber zumindest war kein einziges Mal die Kombination alter Mann, junges Mädchen dabei, und er beruhigte sich ein wenig. Auf dem Rückweg ging er nah an der Häuserfront und konzentrierte sich auf die Lokale. Er ging nirgends hinein, er ging nur sehr langsam, damit er hinreichend lange durch die Scheiben schauen konnte. Die hinteren Bereiche siehst du so natürlich nicht, nichts von eventuellen Kellergeschossen oder Innenhöfen. Nach einer Weile merkte er, dass er seine Aufmerksamkeit zudem ausschließlich auf die Kellnerinnen richtete. Du bringst da etwas durcheinander. Sie hat nie auch nur mit einem Wort erwähnt, dass sie als Kellnerin arbeiten würde, je als Kellnerin gearbeitet hätte. Das war jemand anderes.
Aber Kopp konnte mit diesem neuen Spiel nicht aufhören, auch wenn es sinnlos war, die falsche Zeit, aber wenigstens war es ein Faden, ein Führungsseil, an dem man entlanggehen konnte. Er war so sehr auf dieses eine Detail konzentriert, dass er an seinem Hotel vorbeiging und es erst merkte, als er am anderen Ende der Promenade angelangt war und an der Autostraße stand, über die er gekommen war. Sie führte hinter einem mehrheitlich unbeleuchteten Gebäudekomplex weiter die Küste hinunter, zur nächsten Bucht, man konnte die Lichter sehen. Der dunkle Bereich zwischen den beiden Helligkeiten behagte Kopp nicht, es gab keinen Gehweg, Autos rauschten dicht vor ihm vorbei. Das eigene Auto holen. Aber dann hatte er doch keine Kraft mehr dazu. Er schaffte es gerade noch so zum Hotel zurück. Man kann zu erschöpft sein, den Lift zu benutzen. Es ist einfacher, mit roboterhaften Bewegungen eine Treppe hochzugehen. Im Zimmer summte irgendwas, irgendein Gerät, nun nicht mehr unterdrückt vom hereindringenden Lärm des Korso, die Küche mit der Großmutter war geschlossen, die grüne Eisentür, Darius Kopp fiel aufs Bett und schlief.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, fand er sich in einer Wüstenei. Wie in der zweiten Septemberhälfte in Badeorten die Klappe fällt. Die Rollläden. Die Promenade ausgestorben, auf dem Kiesstrand vor dem Hotel eine einzige Familie: die Frau war fett und trug einen riesigen Hut, unter dem ihr Mann und ihr Kind Schatten fanden. Untergestellt wie unter einen riesigen Baum. Das Hotel bot zum Frühstück einzig und allein Espresso, Pulver-Cappuccino und WLAN an. Kopp nahm Ersteres und machte sich wieder auf den Weg. Er nahm nicht die Promenade, er ging hinunter an die Wasserlinie. Im Prinzip war das richtig, denn auf diese Weise kam er an einer Reihe Strandbars vorbei. Leider waren mittlerweile alle geschlossen. Eine hieß African, statt Kies gab es hier gelben Sand, Sonnenschirme aus Stroh lagen darin zur Seite gekippt. Ein einziges Lokal, Aloha mit Namen, hatte geöffnet, weil es zu einem Hotel gehörte. Die Sonnenschirme waren auch hier schon abmontiert, der Außenbereich zu heiß und zu hell, Kopp ging in den Innenbereich, ein Glaskasten, zu stark gekühlt und menschenleer. Kopp setzte sich in die Nähe eines Fensters, um die Illusion zu haben, durch die Scheibe doch etwas Wärme abzubekommen. Musik war an, schreckliche, hochtonige, monotone Musik, und kein Mensch kam. Keine Oda, keine Flora, um ihn nach seinen Wünschen zu fragen. Kopp stand auf und ging wieder hinaus. Als wäre die Sonne laut und das Meer hell. Er stolperte den Strand entlang. Schließlich fand er doch eine angenehme Bucht, setzte sich in den schmalen Schatten eines Felsens.
Miserable Einsamkeit. Aber er erlaubte es ihr nicht, ihm nahezukommen. Er konzentrierte sich darauf, was er in dem Moment wahrnahm. Was zu sehen ist, was zu hören ist, wie es riecht, die Temperatur, wie der Stein ist, auf dem ich sitze (hart, aber von der angenehmsten Temperatur). Flora saß im Schatten hinter ihm, ein wenig versetzt, und las ein Buch. Danke. So konnte sich Darius Kopp ohne Rücksicht auf die örtlichen Gepflogenheiten nackt ausziehen und ins Meer gehen.
Für einige Minuten ist jetzt alles in Ordnung. Darius Kopp schwimmt in einem lauen Meer. Der Salzgehalt ist hoch. Trotz Kopf über Wasser lässt es sich nicht vermeiden, dass man den Geschmack bald im Mund hat. Dass das Element um mich herum stärker ist als ich, ist immer und von allen Seiten zu spüren. Eine Weile fühlt sich das gut an. Je müder man aber wird, umso deutlicher wird es: man könnte sterben, es gehörte nicht viel dazu. Menschen, die ins Meer gehen. Der Punkt, an dem man, selbst wenn man es wollte, nicht mehr zurückkönnte, ist schneller erreicht, als man denkt. Im Meer schwimmen. In Kleidung schwimmen. Das Gewicht des Wassers in den Kleidern. Aber selbst, wenn man nackt wäre. Die letzten Minuten. Solange man noch kämpft. Denn man kämpft, immer, auch wenn man die Todesart selbst gewählt hat. Die Verzweiflung wird kommen, und wenn es eine Sekunde dauert, aber es dauert keine Sekunde, das hättest du wohl gern. Die Verzweiflung vor dem Schluss, der kannst du nicht entgehen.
Kopp schwamm schnell wieder ans Ufer. Bevor er den Fuß auf den Boden setzte, sah er nach: kein Meeresgetier, nur Steine. Nicht spitz, rund, trotzdem tut's weh, dennoch, ich setze meinen Fuß dankbar auf sie. Er trocknete sich mit seinem Hemd ab, zog es hinterher wieder an.
Er fand ein Lokal, in dem unter freiem Himmel Fische gegrillt wurden. Der Grill wurde von einem Mann bedient, jünger als Kopp, aber mit ebenso schütterem Haar, seine Glatze war braun gebrannt, sein Bizeps war braun gebrannt, er war fröhlich und sprach bestes Englisch, mit dem er sich für eventuelle Fehler beim Service entschuldigte, er helfe hier nur Freunden aus, ein First-Time-Server.
Where are you from? Did you like the fish I grilled?
Wieder ist es für eine halbe Stunde gut. Ein guter Koch und ein freundliches Gemüt.
Doch dann, zurück im Zimmer, läuft im Fernseher ein FashionKanal, dürre Mädchen pressen ihre knochigen Knie gegeneinander, damit sie im unmöglichen Schuhwerk laufen können. Ich verstehe das mit dem Dünnsein, aber das mit den Schuhen verstehe ich nicht. Wie in spanischen Stiefeln. Wer bestraft sie und wofür? Und warum nehmen sie die Strafe an? Weil sie jung genug sind, es tun zu können, ohne gleich zu sterben. Hast du deswegen deinen Körper verfallen lassen, Flora? Damit er nicht mehr vital genug ist, dich hierzuhalten? Um Oda muss man sich keine Sorgen machen. In ihrem Alter und gesund wie sie ist, kann ihr kaum etwas passieren. Ich wüsste trotzdem gerne, wie es dir geht. Nein. In Wahrheit möchtest du ihr erzählen, wie es dir geht. Und das hast du bereits. Vor der Ratlosigkeit flüchtete sich Darius Kopp wieder einmal in den Schlaf.
Читать дальше