14. Genitalsymptome (Libidoverlust, Menstruationsstörungen)
Starke (2)
15. Hypochondrie
Verstärkte Selbstbeobachtung auf Körper bezogen (1)
16. Gewichtsverlust mehr als 1 kg/Woche (1)
17. Krankheitseinsicht
Patient erkennt, dass er depressiv und krank ist (0)
Gesamtscore: 38
Schwere Depression: ›24 Punkte
(Eine Sammlerpuppe in ungarischer Nationaltracht auf die Kommode zwischen die mexikanischen Tonfiguren stellen, und wenn jemand fragt, was das sei, sagen: Ich war mal mit einer Ungarin verheiratet?)
Unweit gab es ein Sportartikelgeschäft, dort kaufte sich Darius Kopp neue Walkingschuhe. Als er die alten Schuhe in einen Mülleimer vor dem Laden steckte, kam ein abgerissener Mann dorthin und nahm sie heraus. Sie haben ein Loch in der Sohle, sagte Kopp und zeigte es auch: Look. Damaged. Der Mann winkte ab, drückte sich Kopps alte Schuhe an die Brust und schlurfte davon.
Außer den Schuhen kaufte sich Kopp einen kleinen Rucksack und ein Handtuch, steckte die im guten Hotel gekaufte Badehose dazu und verbrachte die meiste Zeit in Bädern, Kinos und anderen Schatten.
(Das ist noch etwas, das ich von dir weiß: du gingst gerne ins Kino. Ein Film am Abend kann reichen, um schlafen zu können, manchmal bedarf es zwei, drei sind meist zu viel. Im Ausland suche dir Filme in der englischen Originalfassung. Manchmal gelang das, manchmal nicht. Wenn nicht, sah Kopp sich eben ungarische Synchronfassungen an, bei Action ist das egal, bei anderen bleiben dir die Bilder und deine Phantasie. Ich habe Film X gesehen und ihn von Anfang bis Ende missverstanden: na und. Insgeheim (warum insgeheim, vor wem hätte Darius Kopp, allein in Budapest, etwas verbergen müssen? Höchstens vor sich selbst), insgeheim vor sich selbst kokettierte Kopp mit der Unwahrscheinlichkeit, er müsste nur lange genug zuhören, und auf einmal, an einem (wundervollen) Tag, würde er merken, dass er jedes einzelne Wort verstand. Ich werde eine neue Ungarin kennenlernen können. Du entkommst mir nicht. Dachte es, und sein Herz machte einen Satz. Nicht wegen einer etwaigen» Untreue«. Deine Frau ist nicht einmal unter der Erde etc. Sondern, dass er denken konnte, es wäre möglich, eine Tote auszutricksen. Du kannst ihr nicht untreu sein und sie kann dir nicht entkommen. Und außerdem kannst du nicht Ungarisch lernen. Der Mann, der in Filmdialogen sprach.)
Elf Tage hielt er auf diese Weise durch. Wie der Lurch unterm Stein. Außer, dass er dabei selten allein war. Tausende um mich herum, wohin ich auch gehe. Aber, und das war auch etwas Neues, oder er hatte es bisher nicht bemerkt: als würde ihn kein einziger davon sehen. Anfangs war das noch ganz angenehm, ein wenig wie in der Wohnung, ich sehe, werde aber selbst nicht gesehen. Im Laufe des elften Tages und insbesondere, nachdem es wieder Nacht geworden war, merkte Darius Kopp allerdings, dass in den vergangenen Tagen nicht nur die Hitze langsam, aber ohne auch nur einmal innezuhalten, von schweißtreibend zu unerträglich angewachsen war, sondern auch das Gefühl der Einsamkeit in ihm. Er verbrachte diese Nacht schlaflos am Donauufer, am Rande eines Musikfestivals, Sziget mit Namen, das bedeutet: Insel, aber auch das weiß ich nicht von dir. Eine lange Zeit saß Darius Kopp dort im Gras, in unmittelbarer Nähe eines sich küssenden Pärchens. Das Kleid des Mädchens war hochgerutscht, man sah ihren gestreiften Bikinislip, der ihren runden, gebräunten Hintern nicht einmal zur Hälfte bedeckte. Die Schönheit üppiger Südländerinnen. Sie waren so nah, hätte das Mädchen auf dem Rücken gelegen, hätte ihre Schulter die Schulter Kopps berührt, der Junge hätte ihn über das Mädchen hinwegblickend sehen müssen, ich sehe ihn schließlich auch, aber das Gesicht des Jungen war so, als wäre an der Stelle, wo Darius Kopp war: gar nichts. Es ging so weit, dass sie schließlich sogar anfingen, Liebe zu machen, der Duft davon stieg Darius Kopp in die Nase, und das war so schmerzlich, dass es ihn quasi in die Erde rammte: er konnte weder weggehen noch wegsehen, seine Kraft reichte gerade soweit, wenigstens nicht laut zu weinen. Sie bemerkten auch davon nicht das Geringste. Noch drei Tage, dachte Darius Kopp und seine unsichtbaren Tränen flossen. Noch drei Tage, noch drei Tage. Wie soll ich das aushalten, ohne den Verstand zu verlieren. Noch drei Tage.
Jemand war ihm gnädig, denn es wurden dann doch keine drei Tage mehr. Um 9 Uhr am Morgen nach dieser Nacht rief der Bestatter an. Es war Hitzealarm verkündet worden für diesen Tag, in Pest standen die Hydranten offen, um das Schlimmste in baumlosen Gassen zu verhindern, aber der alte Herr in Buda trug natürlich auch jetzt seinen Anzug, wie es sich für einen Bestatter gehört, und seine Hand, die er Kopp reichte, war trocken und rau, wie gefaltetes Papier. Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen.
Ein unauffälliger brauner Karton, kaum größer als ein Kopf. Ich muss noch herausfinden, welcher Griff der beste ist. Einen Kopf unterm Arm halten. Erst als er wieder auf der Straße stand, wieder dort, unter dem halb geöffneten Fenster der Kanzlei — als hätte mir jemand da eine Markierung aufgemalt — wurde es Kopp gewahr, dass er sich während der Zeit des Wartens wenn überhaupt, dann nur darüber Gedanken gemacht hatte, wie denn dieses Warten selbst am besten zu bewältigen sei, aber keinen einzigen daran verschwendet hatte, was er denn machen würde, wenn die Urne einmal da war.
Du musst einen Ort finden.
Daran hat sich nichts geändert. Einen, der kein Kaminsims ist. Einen, zu dem ein Zurückkehren möglich ist. Warum nicht auf dem Friedhof? Der Friedhof war doch schön, groß, unübersichtlich. Eine Stelle suchen, die zugänglich, aber verborgen ist. In der Nähe der Mädchenstatuen oder woanders. In der Grabplatte der jung verstorbenen Malerin Erzsebet Korb ist ein Loch. Dort hinein. Das Grab einer Malerin wird man in Friedenszeiten nicht einfach so planieren. Einmal im Jahr dorthin zurückkehren. Ein Trauernder mit einem jährlichen Ritual sein… Erneut: der Widerwille. Ich kann das nicht. Ich beherrsche das einfach nicht. Am Todestag. Wie halten sie das aus? Die Rückkehr zu den letzten Bildern? Oder kehren sie einfach nicht zurück? Ist das die Lösung? Nicht mehr zu trauern, nur mehr zu zelebrieren. Die Autos, die Massen, die von den Straßenbahnen kommen, die Kübel mit den Blumen, die Vasen mit dem Dorn am unteren Ende, damit man sie ins Erdreich bohren kann, die Kerzenhalter für jeden Geschmack. Sie machen irgendwas, das erprobt ist, als angemessen befunden, von vielen anderen, so können sie sogar darüber reden, in Erinnerungen schwelgen, die letzten Worte, und was hat er zuletzt noch essen gewollt, dass ich ihm keinen Wein ins Krankenhaus geschmuggelt habe, bedauere ich bis heute. Sagen's, wischen eine Träne, und das tut ihnen gut, weil das, was sie empfinden, längst nicht mehr Trauer, sondern Nostalgie ist. Nostalgie hält man gut aus. Aber Darius Kopp verachtet Nostalgie. Das ist, weil ich aus dem Osten komme. (???) Aber wenigstens können die etwas. Während ich gar nichts kann.
Etwas Verrücktes tun. Etwas Spektakuläres. Sie in den GellertWasserfall kippen. Was du dann endgültig keinem mehr erzählen kannst. Oder nur einem, der Verrücktheiten in solchen Situationen genauso versteht und befürwortet wie du selbst. Juri. Für so etwas eignet er sich wiederum perfekt. Meine Frau ist jetzt im GellertWasserfall. Darunter. Zwischen den Steinen, im Schlick. Egal. Egal?
Er ging, automatisch, zu seinem Fahrzeug und setzte sich hinein. Das kann ich. Saß im Fahrersitz, den Karton auf dem Schoß. Er klemmte hart zwischen seinem Bauch und dem Lenkrad. Also stellte er ihn auf den Beifahrersitz. Wenn ich losfahre oder bremse… Nicht anschnallen, aussteigen, in den Kofferraum tun. Das ist ernst. Er fand dort sogar noch die Plastiktüte, die er zu seinen neuen Schuhen bekommen hatte, er wickelte den Karton darin ein und klemmte ihn hinter den Teilungsbalken des Kofferraums.
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