Und das wolltest du mir vorenthalten? Darius Kopp in gespielter Vorwurfhaftigkeit.
Sie lachten. Sie huschten auf Zehenspitzen, Hand in Hand wie Teenager. Die Heizung in ihrem Zimmer stand auf null, die dünnen weißen Decken in den beiden Einzelbetten wie kalte Umschläge. Das Gerumpel, als sie die Betten zusammenschoben, hörte man mutmaßlich bis zur Straße. Es wurde schon dunkel, als sie wieder herauskamen.
Auf dem Ring leuchtete an jeder Ecke ein Fastfoodrestaurant in rot und gelb. So viele auf einem Haufen habe ich noch nicht einmal in Amerika gesehen. Gab es hier immer so viele?
Immer? Natürlich nicht.
Er überredete sie zu Kentucky Fried Chicken — Kentucky schreit ficken! Kentucky schreit ficken! — , weil er das noch nie hatte. Wand an-Wand-Sex in einem Klosterhotel und ein Dutzend Inkarnationen von Speisefett, das war meine erste Begegnung mit Budapest.
Danke, sagte Darius Kopp. Jetzt bin ich wieder glücklich. Flora lächelte.
Schulter an Schulter lehnten sie an einem Brückengeländer und sahen den Eisschollen zu, wie sie sich unter ihnen auf der Donau schoben und drängten. Graues Geschiebe, das in der Nacht leuchtet, und in den Tälern des Verkehrslärms, wenn es irgendwo gnädig rot war, hörte man auch ihr Geräusch. Zajlik. Unübersetzbares Wort, verwendet ausschließlich für Geräusch und Bewegung von Eisschollen.
Soilick, sagte Darius Kopp. Und was heißt, willst du mich küssen?
Das fragt man doch nicht, sagte sie und küsste ihn.
Ihre kalte Nasenspitze, ihre roten Wangen. Seine roten Ohren, denn er war, wie es sich herausstellte, ohne Mütze in die Ehe gegangen. Sie bedeckte seine Ohren mit ihren Händen, später kaufte sie ihm in einem kleinen Souterrainladen eine Mütze, aber da sprach sie nur mehr deutsch.
Zehn und ein halbes Jahr später ist es nicht kalt, es ist Sommer, die Donau glitzert blassgrün, Darius Kopp erwacht in einem Zimmer das wie alte Zugabteile in (vermutlich) Mahgoni getäfelt und etwa ebenso klein ist. Dafür ist das traditionsreiche Hotel traumhaft gelegen. Aus dem schönsten Raum im ersten Stock, wo das reichhaltige Frühstück in Büffetform bereitsteht, haben Sie einen atemberaubenden Blick auf die Donau. Eine wundervolle Brücke aus grüner Eisenspitze verbindet an dieser Stelle Buda mit Pest. Eine gelbe Straßenbahn fährt gerade in einem eleganten Bogen hinauf. Autos gibt es, natürlich, ungezählt. Auf der unteren Uferstraße staut es sich erwartungsgemäß, denn, wie wir von gestern Abend wissen, gibt es außerhalb unseres Blickfelds eine Verkehrsführung, dass man sich wundert. Ach, man wundert sich doch immer. Schau, Flora, Kanuten. Jetzt auch noch Kanuten vor einem im Hintergrund ankernden weißen Ausflugsschiff. Oder einem Schiffsrestaurant. Die Idylle hämmert an mein Auge. Wo ist meine Sonnenbrille?
Sie konnte nicht antworten, sie bediente in einem anderen Bereich des Frühstücksraums. Kopps Kaffeekellner war ein junger Mann mit rotblondem Haar. Kopp ignorierte ihn, so weit es ging. Bei manchen erhöht die schwarzweiße Kellneruniform die Attraktivität, bei anderen nicht. Feinstrümpfe und flache schwarze Schuhe. 20 000 Schritte während der Frühstücksschicht. Der braune Zopf liegt bewegungslos zwischen den Schulterblättern. Den Blicken des hilfsbereiten rotblonden Kellners auszuweichen ist nicht leicht in einem vornehmen Hotel. Ich bin ihm ein Steinchen im Schuh, ständig strecke ich den Hals, aber nicht nach ihm. Jetzt spricht er mich auch noch an: ob ich noch einen Wunsch… Nein, danke! sagte der barsche deutsche Tourist und machte vielleicht sogar eine wegfegende Bewegung mit der Hand und ließ seine Stoffserviette zwischen die Essensreste fallen.
Er schaffte es, ihren Weg am Rande des Buffets zu kreuzen. Er rempelte sie nicht an, aber er zwang sie, für einen Moment stehen zu bleiben und ihn anzublicken. Sie blieb stehen, vier Cappuccinos auf dem Tablett, lächelte, entschuldigte sich mit großer Freundlichkeit auf Ungarisch und Englisch und ging im eleganten Bogen flink um ihn herum. Viel jünger als Flora, pummeliger, weißliche Haut. Ein brauner Zopf macht noch keine ewige Liebe, wie wahr.
Er beschloss zu Fuß zu gehen. Über die Brücke, den Ring, die Leute beobachten. Er erwartete Ähnlichkeiten, wo, wenn nicht hier, vor allem war die Auswahl groß. Leute, wohin du auch gehst. Aber auch hier waren die Frauen fremd. Schön, wenn sie schön waren, manche auch aufreizend, und alle fremd. Immerhin nicht so sehr, wie in dem Dorf. Immerhin war das hier eine Stadt. Sich Flora auf der leeren Straße vor der Zuckerfabrik vorstellen, mit schmelzendem Teer an den Sandalen im überweißen Licht. Ich würde mit dem Auto anhalten und nur soviel sagen: steig ein. Und sie stiege ein, und wir führen weg. — Seltsame Sehnsucht jetzt nach genau jener Straße. Ein Moment, dann ist auch das vorbei. — Hier ist die Situation ganz anders. Wir sind ohne Fahrzeug, und die Menschendichte ist hoch. Sie bewegen sich chaotisch und vor allem schnell. Daran musst du dich erst wieder gewöhnen. Auch, wie jung alle sind. Nein, die da ist mindestens schon…, sie kleidet sich nur, als wäre sie 17. Sie hätte hier ausgesehen wie eine Nonne. Graue Maus. Wenn ich nur eine solche hier sehen könnte. Was wäre dann? Keine Ahnung, was dann wäre.
Anmerkung:
Das Semester hat angefangen und alle sind verschwunden!!! Ich lausche Herrn Rüblers Stimme vom Band und tippe. Alles ist gut. Herr Rübler ist ein kleiner, dicker Mann mit kunterbunten Krawatten, ein sächselnder Familienvater, höflich. Guten Tag, Frau Meier, sagt er aufs Band, bevor er mit dem Diktieren anfängt. Wir suchen nach Immobilien für große Baumärkte. Langweilig, großartig. 3mal die Woche gehe ich in den Filmklub: Bunuel, Chytilova, Greenaway, verbotene Filme. Man kann 2 Filme pro Abend sehen. Wenn ich mir alles ansehe, kommt ein Film nur auf 2 Mark.
Los Ovidados
Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz
Nazarin
Viridiana
Der Würgeengel
Das Tagebuch einer Kammerzofe
Simon in der Wüste
Belle de Jour
Tristana
Der diskrete Charme der Bourgeoisie
Dieses obskure Objekt der Begierde
Tausendschönchen
Der Narr und die Königin
Der Kontrakt des Zeichners
Der Bauch des Architekten
Die Verschwörung der Frauen
Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber
Prosperos Bücher
Das Wunder von Macon
Einfache Leute
Andrej Rublow
Die Kommissarin
Paul und Paula Spur der Steine Denk bloß nicht, ich heule
Ich bin glücklich.
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[Datei: szenat]
Herr Rübler wurde entlassen und mit ihm ich. Eine nette Frau, die mich von Anima kennt, besorgt mir einen Assistentenjob. Ich bin erkältet, gehe trotzdem mit. Wir nehmen ein Werbevideo für das Touristenamt auf. Wenn etwas fehlt, laufe ich los, um es zu holen. Bunte Magnete für die Präsentation des Senators.
Und wo ist das Rückgeld?
Ich habe es der Sekretärin gegeben.
Es ist nicht in der Tüte.
Als ich sie übergeben habe, war es noch drin.
Die Videomacher zucken mit den Achseln, ihnen ist es egal. Dem Senator ebenfalls. Sie fangen an zu drehen, die Sekretärin und ich bleiben zurück, starren einander hasserfüllt an.
(Ich weiß, dass Sie es waren, Sie bemalte Kuh.)
Sie verzieht verächtlich ihren Lippenstiftmund und dreht sich weg.
(Ich bring dich um! Ich fordere Gerechtigkeit!)
Wenn Sie wollen, durchsuchen Sie mich. Sie dreht sich nicht zurück. Ich will es dem Senator sagen, schauen Sie, was Sie für eine Mitarbeiterin haben! Aber er kommt nicht durch dieselbe Tür wieder heraus wie die Videoleute.
Bitte, sage ich auch zu ihnen, wenn ihr wollt, durchsucht mich. Ist ja schon gut, sagen sie.
Ich bin so wütend, dass ich Schüttelfrost bekomme. Ich bin krank, sage ich, ich gehe lieber nach Hause.
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