Das Bild einer lebenden Person betrachten, das Bild einer erst seit Kurzem toten Person betrachten.
Dass es keine Fotos von Flora aus der Zeit vor ihm gab, fiel Darius Kopp auch erst gegen Schluss auf. Das erste gemeinsame Foto wurde auf unserer Hochzeit aufgenommen, von Juri, auf der Straße vor dem Restaurant. Kopp trägt einen grauen Anzug, sie ein schwarzes Kleid. Außer diesem Bild gab es nur noch einpaar verwaschene Handy-Aufnahmen. Da beschloss er, ihr zum Geburtstag einen Fotoapparat zu kaufen, und für die nächsten Stunden dachte er, damit eine Lösung für alles gefunden zu haben. Ich schenke ihr einen Fotoapparat zum Geburtstag, und alles wird gut. Er verbrachte den Rest des Tages damit, nach einem guten Modell zu recherchieren, bei so etwas lässt sich Darius Kopp nicht lumpen. Als die Kamera zwei Tage später geliefert wurde, war Flora schon tot. Kopp schenkte sie später Nadia, die geholfen hatte, Floras Sachen für die Einlagerung zu packen. Die Bücher, einpaar Ordner, noch aus ihrer Studienzeit, die könnten jetzt endgültig weg, aber Nadia packte sie behutsam in extra dafür gemachte Kartons. Sie fasste die Unterwäsche meiner Frau an und ihre Oberbekleidung, darunter das Hochzeitskleid, das sie danach noch häufig trug. Jedes Mal zu einem besonderen Anlass trug meine Frau ihr Hochzeitskleid, und ich fragte jedes Mal (weil ich es wirklich nicht wusste): ein neues Kleid? Und sie sagte: das ist mein Hochzeitskleid, Schatz. Und irgendwann fragte ich immer: Ist das das Hochzeitskleid? Und sie sagte ja oder nein, und wir lachten.
Auf Darius Kopps Lieblingsfoto trägt Flora nur einen Rock und sonst nichts. Ich habe dich selbstverräterisch so fotografiert, dass dein Kopf abgeschnitten ist. Deine Brüste in der Sonne. Wie, warum war der Rock übrig geblieben? Keine Erinnerung daran. Weder daran noch an sonst etwas von jenem Tag — scheinbar befinden wir uns auf einer Wiese — manchmal bleibt von einem ganzen Tag nur ein Bild übrig, das so stark ist, dass es den Rest zu Recht in Vergessenheit drängt. Dein Oberkörper ist wie der klassischer Statuen. Meine Göttin. Ich schäme mich nicht, das zu denken.
Darius Kopp sah sich das Foto ohne Kopf an, und anstatt dass ihn der Schmerz umgebracht hätte, ging es ihm, im Gegenteil, jetzt um einiges besser. Er war sogar so gesammelt, dass er den Kellner fragen konnte, ob sie ihm etwas vom Tischwein verkaufen könnten. Unter einem Arm den Laptop, in der anderen eine Flasche Frascati mit Bügelverschluss, so ging Darius Kopp auf sein Hotel zu.
Der Wein tat gute Arbeit gegen den Kaffee — ein Nervengift gegen das andere — es ging ihm sogar unverschämt gut jetzt, nur schlafen war nicht möglich. Den Laptop fasste er nicht mehr an, lieber sah er sinnlos fern, solange, bis er vergaß, dass der Laptop tabu war.
Öffnete den Browser, starrte drauf, weil er nicht mehr wusste, was er wollte, ob er etwas wollte, und dann tippte er» Flora Meier «in die Suchmaschine ein. Dann löschte er das wieder heraus, denn so hieß sie ja gar nicht. Mit erstem Vornamen hieß sie Teodora, auch das erfuhr er erst, als es darum ging zu heiraten. Theo, machte er einen Versuch. Bitte nicht, sagte sie. Ich mag diesen Namen nicht. — Die Grausamkeit der Kaiserin Theodora wird in Schulen unterrichtet.
Oh, Tee-oh! Wenn dein Name zum Schimpfwort wird. Kay-sehrinn! Kay-seh-rinn-Tee-oh! Aus dem Munde von welchen, die man So-sind-eben-Jungs nennt. Für Grausamkeiten von Königen empfindet man Respekt. Mächtige Königinnen werden verflucht. Oh, Tee-oh! — Darius Kopp verstand das (Wenn mich meine Mutter Hansi nannte, dachte ich irgendwo tief drinnen, in Wahrheit macht sie sich lustig über mich), aber einer Suchmaschine kannst du so etwas nicht erklären. Er gab also ein: Theodora Teodora Meier»Meier Teodora«, und bekam, was sonst kaum passiert, ein einziges Ergebnis: das Bild eines Mädchens in einer Matrosenbluse, kurze Haare, Stirnfransen, kräftige Augenbrauen, mit Retusche begradigte Nase, schmaler Mund. Darius Kopp rutschte vom Bett, kniete sich davor, der Fernseher lief hinter seinem Rücken, und er starrte den Rest der Nacht das winzige Schwarzweiß-Foto in der linken oberen Ecke des Laptopbildschirms an. Die Wölbung deines Halses.
Das Foto war gespeichert auf der Internetseite einer Schule. Name, Adresse. In der Werkstatt hatte man Kopp zu seiner Information und Unterhaltung die beiden Einstichstellen im alten Reifen gezeigt. Alter Hut. Keiner, der informiert ist, hält an den und den drei Tankstellen usw. Darius Kopp war das schon egal. Er übertrat die Grenze eine halbe Stunde später. Ein kleiner Triumph. Ja, ich empfinde ihn durchaus dir gegenüber. Durch die unbekannte Kleinstadt bewege ich mich dank meines Navigationsgeräts spielerisch, kaum anders als mit dem Finger über eine Straßenkarte. Das nächste Mal werde ich etwas Reales wahrnehmen, wenn ich direkt vor dem Gebäude stehe.
Mit klopfendem Herzen. Als wäre es etwas von dir, ein intimes Geheimnis, ein persönliches Eigentum. Ich habe es ergattert, ohne es dir wegzunehmen. Ein Schulgebäude aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Website der Schule zeigt Abiturtableaus von 1900 bis heute. Litfaß, Germann und Kohn gehören zu den ersten Absolventen der katholischen Oberrealschule. Zwölf allesamt unglücklich dreinblickende junge Männer, Vornamen unwichtig, beanzugt und gekämmt, die Schnurrbärte wirken eher verzweifelt versteift als keck. Aber kein Vergleich natürlich zur Bombenstimmung in der Klasse von 1938—39.»Wir sehen uns wieder 1949. «Heute leben nicht einmal mehr die Überlebenden. Die ersten Mädchen tauchen Mitte der Sechziger auf und die Jungen sehen trotz Anzug derangiert aus. Sie werden nie mehr so wohl gekämmt sein, nie, nie wieder, die Zeiten sind ein für allemal vorbei, der eine oder der andere kann sich das freche Grinsen darüber nicht verkneifen. In Floras Klasse waren die Mädchen in der Überzahl, und Darius Kopp sah sie sich alle an. Dich in Beziehung zu anderen sehen. Denn irgendeine Beziehung wird da gewesen sein. Mit manchen wirst du sogar zusammengewohnt haben. 6 Doppelstockbetten ergeben 12 Mädchen pro Raum. Kornelias und Gabriellas, eine Agnes, eine Mariann. Eine hatte große, dunkle Augen, die in Erinnerung bleiben, aber die meiste Zeit starrte Darius doch nur Teodora an.
Zeitweilig zweifelnd, ob sie es wirklich war. Als würden Teile des Gesichts nicht richtig passen. Die Lippen müssten voller sein, die Nase kleiner, und hier ist sie gar nicht brünett, sondern blond. War meine Frau am Ende eine falsche Brünette? (Am Ende war meine Frau grau, ohne ergraut zu sein, eine Farbe wie von altem Laub. Altes Laub ist nicht grau. Ich weiß. Aber der Gesamteindruck. Der war so.)
Das Gebäude wurde errichtet an einem Eckgrundstück, zwei Eingänge, eine kleinere Tür in der einen, ein größeres Tor in der anderen Straße, beide verschlossen. An der Tür nur eine Klinke, groß, aus Messing, abgewetzt, am Tor eine Klingel mit Zahlencode, dahinter ein Hausmeister, ein Portier oder das Sekretariat. Schulfremde Elemente haben sich anzumelden. Wer man sei, was man wolle. Die untere Hälfte der Scheiben im Erdgeschoss ist aus Milchglas, zur Unterbindung unerwünschter Kommunikation zwischen dem Drinnen und dem Draußen. In den Pausen werden sie bestimmt geöffnet. Wann machen sie Pause? Und was machst du, wenn sie Pause machen? Wenn die Fenster aufgehen und die Türen? Mal sehen. Darius Kopp lief ein paar Mal ums Eck, immer genau bis zur Gebäudegrenze und zurück. Kinderspiel. Übertrete die Linie nicht. Vom einen Ende aus sieht man auf den Eingang eines Casinos. Zumindest steht es drangeschrieben. Die Tür ist winzig. Am anderen Ende fällt der Blick auf einen Nachkriegsbau, alle Straßen in der Innenstadt sind schmal, man kann die Tafel selbst vom gegenüberliegenden Gehsteig noch lesen. Hier stand die dritte Synagoge, deren erster und einziger Rabbiner und so weiter. Auch am Schulgebäude, zwischen fast allen Fenstern im Erdgeschoss eine Gedenktafel. Wer alles hier lernte oder lehrte. Zwischen 1985–1989 Meier Teodora Flora (1971–2009), die spätere Frau von Darius Kopp, ausgezeichnete Köchin und Liebhaberin, loyale Freundin und Leserin, der es nicht gelang, ihre Talente gewinnbringend anzulegen, und die schließlich den Kampf gegen die Verzweiflung verlor und freiwillig aus dem Leben schied. Diese Tafel wurde gestiftet von. Geliebte, Geliebte, Geliebte. Ich verrutsche in der Zeit. Träume offenen Auges, dass ich dort hineingehe und dich finde, 20 Jahre vor heute, dein Körper als Teenager, als die Jeans eng getragen wurden und die Schulterpolster bis zum Himmel reichten und es Pflicht war, all das mit den hässlichsten blauen Schulkitteln aus Nylon zu verhüllen. Bis zuletzt fühltest du dich in zu großer Kleidung am wohlsten. Sie zog mit einpaar Sommerfähnchen in den Wald. Als im Herbst die ersten geliehenen Sachen an ihr auftauchten, brachte ihr Darius Kopp, den das nicht wenig Nachdenken abverlangte, wärmere Kleidung mit, aber sie trug weiterhin nur die Hosen, Pullover, Jacken anderer. Männerklamotten mit überstehenden Schultern. Kopp sah, dass ihr das Vergnügen bereitete. Sie war verschmitzt, wie eine andere, wenn sie sich sexy kleidete, aber sie war es nicht offen, sie packte auf die Offenherzigkeit nicht noch eins drauf, sondern im Gegenteil: sie hielt ihre Freude über ihre Kostümierung verborgen. Als wäre nichts. Als wäre es das Normalste auf der Welt, ein wandelnder Lumpenhaufen sein zu wollen. Wie schön du in Wahrheit warst, gottverdammt.
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