Meine Frau kam nicht mit dem Bus, aber mit dem Zug aus einem Dorf, das sowohl eine Zuckerfabrik als auch ein Thermalbad besaß. So viel hat sie mir erzählt. Die Gegend strotzt natürlich nur so von beidem, wohin du dich auch wendest, entweder eine Zuckerfabrik oder ein Thermalbad, aber nur einer, ein einziger Ort hat beides. Entfernung von Ihrem gegenwärtigen Standort: 30 km, Fahrzeit über die Landstraße Nr. 85, wenn kein Schwertransporter dazwischenkommt: 38 Minuten.
So ein Dorf, für das du 1 Minute brauchst, wenn du auf der Durchfahrt bist. Ach, was. Noch nicht einmal 1 Sekunde. Es liegt abseits der Landstraße. Wenn man hineinfährt ins Dorf und einmal durch jede Straße, weil Kopp nicht weiß, nach welcher er genau sucht, braucht man auch kaum mehr als 10 Minuten. Ein Kirchturm, eine Kneipe, ein Thermalbad. Keine Zuckerfabrik mehr. Der hellblaue Eisenzaun ist noch da und das Tor, ein überdachter Fahrradparkplatz mit Platz für 200 Fahrräder, rostfleckig und leer. Zwei riesige, silbrige Silagebehälter dürfen noch als Zuckerlager dienen, und das extra Schienenpaar, verlegt nur für die Züge voller Zuckerrüben, wird es noch geben, wenn es uns nicht mehr gibt. Kopp musste anhalten, um zwei Schwertransporter vom Gelände zu lassen. Einer der Fahrer hieß Laci. Sie fuhren in die Richtung weg, aus der Darius Kopp gekommen war. Er rollte langsam weiter. Die Hauptstraße endet nach wenigen hundert Metern, natürlich, an der Kirche, im romantischen Stile, der letzte Anstrich ist zu kanariengelb geraten. Kurz bevor man durch die Tür gefahren wäre, geht es rechts ab, in die sogenannte Herrengasse, du erkennst sie an den größeren Häusern, drei Fenster statt nur zwei, und die Vorgärten sind breiter als die Straße dazwischen, sie sind nicht umzäunt, freigiebig Blumen und sogar Gemüse. Walnussbäume. Der Geruch von Walnussblättern. Wenn sie liegen, wenn sie verbrennen. Kopp fuhr im Schritttempo, wie einer, der etwas aus dem Kofferraum zu verkaufen hat. Manche Tore waren durchsichtig, andere nicht. Hinter jedem der Tore ein Bastard an die Kette gelegt. Manche bellen den vorbeischleichenden nachtblauen Kombi an, andere nicht. Menschen, auch hier: keine. Nur vor einem langen Haus an der Einmündung einer kleinen Straße saß eine Großfamilie. Vier übergewichtige Frauen auf drei Bänken. Sie sehen mich schon zum zweiten Mal und schauen dementsprechend. Anhalten, sie ins Bild setzen, fragen. Erinnern Sie sich an Teodora Flora Meier? Aber er fuhr weiter. Der Dorfteich, ein öffentlicher Brunnen, und dann geht es schon wieder zurück Richtung Fabrik. Keine Kugelakazien nirgends. Auch das eine Information, irgendwo unterwegs, isoliert aufgegabelt, sie gingen wohl einmal an Kugelakazien vorbei, und sie fragte, wie heißt dieser Baum. Er wußte es natürlich nicht. Bei uns in der Straße standen solche. Heute: überall nur Sauerkirschbäume. 20 Jahre sind eine ausreichend lange Zeit, um Kugelakazien gegen Sauerkirschbäume zu tauschen.
Kopp stellte sein Auto auf einen ansonsten leeren Parkplatz in der Nähe der Fabrik und ging wieder los. Dasselbe, diesmal zu Fuß. Es war noch nicht Mittag, aber die Sonne brannte ungewohnt heiß, und die Stille war so groß, dass in seinem irritierten Ohr ein Ton entstand. Es sei denn, er wurde von den Hunden gewittert. Ein Fußgänger wird von mehr Hunden angebellt als ein Auto. Kopp vermied es, in die Richtung der dicken Frauen abzubiegen, so geriet er vor den Zaun eines alten Mannes, der gerade mit einer Leine auf einen Hund einschlug. Wenn ich deinen Hund noch einmal auf der Straße sehe, erschieße ich ihn. Kopp blieb stehen und starrte so lange hin, bis der Alte es merkte und innehielt. Er starrte zurück, zornig, gleich geht er mich an. Und ich werde so tun, als würde ich ihn nicht für sein Verhalten kritisieren, sondern nur etwas fragen wollen. Erinnern Sie sich an? Aber der Alte ließ sich auf nichts ein. Er wandte Kopp den Rücken zu. Der Hund ergriff die Gelegenheit und verdrückte sich — sein geducktes Gehen — und der Alte ging irgendwohin in seinem Hof, wo er von der Straße aus nicht mehr zu sehen war. Herzklappen im Rinderherz. Floras Großvater hatte Asthma. Sein Atemholen überall. Er schlief im Sitzen. Große Daunenkissen im Rücken, eine Daunendecke auf den Beinen. Im Winter eine Tuchent. So wie diese dort, im Fenster, in der Sonne. Ein Federbett bei diesem Wetter? Vielleicht ist das Haus kalt. Das Haus meiner Großeltern war auch ein kaltes. Besuch bei Omaopa hieß: frieren. Opa Willy hatte Schlachter gelernt. Er war in französischer Kriegsgefangenschaft, nach seiner Rückkehr arbeitete er in der LPG und war brutal zum Vieh. Das ist buchstäblich alles, was ich über ihn weiß. Ich habe die Statur von ihm geerbt und ein grau-braunes, langärmeliges Unterhemd, das ich als Student statt eines T-Shirts trug. Du kanntest mich nicht damit.
An einem Laternenmast ein vergessener Lautsprecher. Als Ansagen an die Bevölkerung zum Alltag gehörten. Meist war nichts zu verstehen. Knarzen und Knattern, nicht ein einziges sinnvolles Wort, es brachte nur Beunruhigung, aber nur mehr sachte, es waren die Siebziger. Wenn du's nicht verstehst, verstehst du's halt nicht, wenn es wirklich wichtig ist, werden sie's dich schon wissen lassen. Jeden Mittwoch Sirenenprobe. Über den Kleintransporter, auf dessen Ladefläche drei Männer in Wattemänteln in der frühesten Frühe des 1. Mai Blasmusik spielten, um uns zu diesem besonderen Tag zu wecken, freute ich mich jedes Jahr. Obwohl sie wie eine Erscheinung aus dem Jenseits waren, wie sie aus dem Nebel auftauchten: ein grauer Wagen und drei graue Männer mit heiseren Instrumenten.
(Was weiß ich noch? Wenn ich will, den Tagesablauf, der, bis zum Erwachsenenalter, nein, im Grunde bis zum Mauerfall absolut gleich blieb. Darius Kopp hat das, ehrlich gesagt, sobald er es sich erlauben konnte, gelöscht. Als ich frei geworden bin, habe ich alles vergessen. Natürlich nicht wirklich. Aber ich halte mir das nicht präsent. Weder im Vor-, noch im Hintergrund. Klebriger Schmutz der Kindheit. Immer dasselbe Abendessen. Brot. Abendbrot. Meine Mutter konnte exakt 3 Gerichte kochen, und das auch nur am Wochenende. Wofür schicke ich euch zur Schulspeisung? Nie ins Restaurant, nie zu Gast. Vater verkehrte in Kneipen, weil er ein erwachsener Mann war. Wir nicht. Sein Geruch, wenn er nach Hause kam. Sein schöner Männergeruch nach Bier oder Wein. — Wasch dich, du stinkst. Das Hemd kannst du auch nicht nochmal nehmen. — Dass sie nie die Klappe halten konnte. — Später wird man selber groß genug für ein Mofa und für das Herumstehen vor dem Moritzkino mit einem Bier in der Hand. Die Mädchen Cola, sonst sind's Schlampen. Wer auf dem Rückweg eine von ihnen auf dem Mofa mitnimmt, ist Held des Abends. Wie der Vater, so der Sohn. Hättest du mich auch nur eines Blickes gewürdigt? — Ich war doch erst 12.)
Als er wieder am Brunnen in der Nähe der Kirche angekommen war, setzte er sich auf die steinerne Bank am Rand. Erst dachte er, der Brunnen habe, sobald er sich hingesetzt hatte, angefangen zu musizieren, aber es war der Kirchturm. Dreizehn Uhr. Der kanariengelbe Zuckerbäckerkirchturm zu Ehren der Dreifaltigkeit spielt zu Ehren der vollen Stunde populäre Tingeltangelmusik. Wie eine alte Quarzuhr. Kakophonisch jetzt dazu ein Kastenwagen mit einer kinderfreundlich gemalten Kuh und einer ebensolchen Ziege an der Seite, vor ihren Hufen liegen zwischen Grasbüscheln Käse und Quark. Der Wagen fuhr Schritt und dudelte. Eine Weile dudelten sie gegeneinander an, der Kirchturm und das Verkaufsfahrzeug, dann endete der Turm und es blieb nur noch der Wagen, der neben dem Brunnen stehen blieb, um auf Kundschaft zu warten. Der Fahrer, der Kopp zuvor gesehen hatte, stellte den Wagen so hin, dass sie sich nicht weiter ansehen mussten. So stand die Zeit eine Weile still: Darius Kopp auf der steinernen Bank am Brunnen, der dudelnde Verkaufswagen einer Molkerei am Straßenrand. Wenn das Dudeln Pause machte, hörte man das Plätschern des Brunnens. Dann fuhr der Kastenwagen weiter, und als wäre damit ein Bann gebrochen, die hundert Jahre um, kam Leben auf die Straße. Zuerst einige Auswärtige, zwei Pärchen mit Fahrrädern, die am Brunnen hielten, um ihre Flaschen zu füllen. Eines der Mädchen zog sich das T-Shirt aus und wusch sich unter den Achseln. Ihre Brüste. Aber das war nicht jetzt und hier, das war eine Frau, die ich lange vor dir kannte. Eine Radtour durch Bulgarien. Da hat sie das getan. Wir taten so, als wäre das normal. Wir hatten einen Ruf zu verteidigen: wir waren aus der DDR. — Scherz. — Ich mochte dieses Mädchen nicht besonders (ich hatte auch nichts gegen sie), ihre Brüste waren schön. — Deine Brüste in der Sonne. Der Rock auf dem Foto sieht schwarz aus, dabei war er rot. — Die Radfahrer, die im Übrigen überhaupt nicht jung, im Gegenteil, rüstige Rentner waren, fuhren weiter. 2 Männer und 2 Frauen, aber ich habe nur mehr die Erinnerung an den Träger des Hemds von der einen, auf deren weiße Haut in der rasierten Achselhöhle ich mich konzentriert habe. Weiße Achselhöhle unter einer braunen Schulter. Dann, endlich, kamen die Einheimischen hervor. Zuerst eine alte Frau, keine rüstige Rentnerin, eine echte alte Frau, eine Dorfbewohnerin, auf einem Dorffahrrad. Füllte zwei große Colaflaschen mit Wasser aus dem Brunnen, sah Darius Kopp an und fuhr wieder davon. Wenig später kamen drei Kinder. Auch sie hatten Plastikflaschen dabei, auch sie füllten sie mit Wasser. Sie tranken nacheinander, wischten sich nacheinander den Mund und starrten Darius Kopp an. Dann gingen auch sie. Sie hatten Bambusmatten und Wasserpistolen bei sich.
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