Er starrt mich an, als wäre ich wahnsinnig. Dabei weiß er gar nicht, was das, was ich ihm gerade gesagt habe, konkret bedeutet.
Verstehe, sagte dann Stavridis nach einer Weile und zuckte mit den Achseln. Deine Entscheidung. Willst du noch einen Kaffee?
Er brachte Stavridis, wohin er gebracht werden wollte, stellte das Auto ab und nahm die Straßenbahn ans Meer.
Das Ägäische Meer im Winter. Die Villen von Glyfada geschützt in zweiter Reihe. Ich war immer überzeugt, dass ich eines Tages reich werde. Aber du hattest recht: ich werde nicht mehr reich im Leben. Das Gute ist: das macht jetzt auch nichts mehr.
Und was macht was?
Deine Frau ist eine vollendete Tatsache. Und was bist du?
Unvollendet, wie jeder Lebende. Reisen hilft eine Weile. Asozial werden oder sozial. Das sind die Möglichkeiten. Wertbar bleiben oder nicht. Wer nicht mehr wertbar ist, landet auf der Straße und erfriert. Oder nicht. Darf, je nach Gnade, in Unterkünften verharren. Meine Frau war 37 Jahre alt, als sie beschloss, nicht mehr wertbar zu sein. Ich bin 46 und — gegenwärtig, so sagt man es doch wohl korrekterweise: gegenwärtig — ebenfalls nicht wertbar. Außer, dass ich noch lebe.
(Wie geht es, dass eine Person aufhört zu existieren, ohne tot zu sein?)
Er ging bis an die Wasserlinie und hielt die Hand hin, bis Wasser darüberlief. Als ich das erste Mal in meinem Leben ein Meer sah, war es auch Winter. Auch Dezember. Es ist bereits Januar. Egal. Es war die Ostsee. Sie wälzte sich grau und laut. Es war das Schönste, das ich bis dahin gesehen hatte. Als ich sie das letzte Mal sah, gab es Packeis, und der Strand war verschneit, und die Menschen lachten, aber du kehrtest dem Morgen den Rücken und fuhrst in den Wald.
Wenn ich Glück habe, kann ich die Wohnung und den Rest des Kredits so verkaufen, dass ich auf null herauskomme. Aber eher nicht. Das Mittel der Wahl, um nicht bis ans Ende seiner Tage die Kosten eines vergangenen Lebens abstottern zu müssen, ist die Privatinsolvenz. Wie hoch ist im Moment die Summe, die man das Existenzminimum nennt? 7 Jahre, wie im Märchen, danach bist du frei. Hast ein Viertel deines Lebens noch vor dir. So be happy and celebrate.
Dr. K. hat das Auto einige Zeit zuvor unbekannten Schmugglern oder Schiebern abgekauft. Seit einiger Zeit schon, man weiß nicht, seit wann genau, suchte er so ein Auto und trieb sich deswegen in Gegenden und Lokalen herum, von denen zu wissen ist, dass sich dort Schmuggler und Schieber herumtreiben. Er setzte seine Brille ab, hoffte, so das Vertrauen der Wirte gewinnen zu können. Er redete um den Brei herum, er suche ein Auto mit einem besonders großen Tank und Ähnliches. Die Wirte zuckten mit den Achseln. Sie sprachen mit den Schiebern in einer fremden Sprache. Adil K. blinzelte kurzsichtig in ihre Richtung. Schließlich sagte er freiheraus, was er wollte: Ein Auto mit einem Geheimfach, in dem ein erwachsener Mann Platz hat. Er holte das Auto an einem freien Tag ab und fuhr es samt gefälschter Nummernschilder auf den Parkplatz hinter seinem Haus. Ein großes, verstaubtes Auto einer unbekannten Marke, das jedem auffiel, der daran vorbeiging. Kinder kamen jeden Tag vorbei, um es zu sehen. Jemand fotografierte es in einem günstigen Moment, als keine anderen Autos danebenstanden. Ein stark von der Sonne beschienener Parkplatz, ein einsames, altes Auto.
Die üblichen Schizophrenien, Paranoias und Hysterien, die erwartbaren Hospitalisierungstraumata, eine Totalamnesie, eine Pseudodemenz, einer, der behauptet, im Himmel gewesen zu sein, ein klassischer Burn-out. Entweder arbeitet Dr. A.K. von acht bis zwanzig Uhr oder umgekehrt, oder von acht bis acht oder von zwanzig bis zwanzig, oder ein ganzes Wochenende durch, dafür hat er am Montag frei. Das Wochenende vor der Tat war so ein Wochenende.
Auf dem Weg zur Arbeit nahm er einen Mann mit, den er auf einer Brücke traf, während dieser mit den Wolken redete. Er stellte sich neben ihn, und sie betrachteten den Himmel eine Weile gemeinsam. Schade eigentlich, sagte Dr. A.K., dass ich nicht religiös bin. Der Mann lächelte ihn an und sagte, das sei kein Hindernis. Gut zu wissen, sagte Dr. K.
Welcher Tag ist eigentlich heute? fragte er etwas später.
Also, sagte der Mann von der Brücke, als ich das letzte Mal wusste, welcher Tag es ist, war es Mittwoch, der 224. Tag des Jahres.
Sie nahmen ein gemeinsames Taxi zur Klinik.
Freiheit! sagte der Pförtner. Willkommen! Das fängt ja gut an!
Der Mann von der Brücke und Dr. Adil K. nickten.
Später machte er die Chefarztvisite mit, berichtete, tröstete die Frau eines Schizophrenen, lachte über den Scherz eines Borderliners, gab der Frau, die sich an nichts mehr erinnern konnte, den Namen Lethe, sie schaute ihn dankbar an — Die anwesende Schwester merkte es sich als Ethel und so blieb es: Was macht Ethel? — stellte einen Tobenden ruhig, übergab seine Schicht einer Kollegin, nahm ihre Einladung für irgendetwas nächste Woche gerne an, wehrte höflich die Annäherung einer Senilen ab — Das war gegen halb eins in der Nacht, sie hob das Laken, das Nachthemd bis zum Nabel, das dürre Becken, die Beinchen, das Stimmchen: Fick mich doch ein bisschen! — , wechselte weitere Worte mit dem Pförtner, ging nach Hause, wusch, kämmte, parfümierte sich, schaltete das Radio an, wechselte den Sender, hörte Musik, las einen Brief, schrieb einen Brief, ging hinunter zum Briefkasten, kam zurück, sah beim Fenster hinaus. Zum Sonnenaufgang verabreichte sich Dr. K. in seiner Wohnung ein starkes Schlafmittel und bestieg das Geheimfach des Autos. Der Abschleppwagen kam etwas früher als vereinbart. Der Fahrer öffnete, wie es sich gehört, den Kofferraum. Er war leer. Der Fahrer ist ehrlich empört. So was kann man doch nicht machen. Die beiden Demonteure bedauern den Vorfall. Dr. A.K.s Schwester, denn seine verwitwete Mutter bringt kein Wort hervor, fragt: Wieso? Wieso tut Dr. A.K. in der Mitte seines erfolgreichen und respektablen, seines wirklich großartigen Lebens, in dem er ausschließlich Gutes getan hat, in dem er alles, was ihm zur Verfügung stand an Wissen und Kraft, Zeit und Geld, denen geopfert hat, die es am nötigsten brauchten, für den Urlaub schon als Student bedeutete, in einer Baracke in den Slums vereiterte Finger aufzustechen und Lungenentzündungen mit Aspirin zu behandeln, wieso tut dieser Mensch, auf dem besten Wege zu einem Heiligen, der von allen geliebt, ja nahezu vergöttert wurde, von Patienten, Mitarbeitern, seiner Familie, Mutter, Schwester, Schwager, Nichte, Neffe, von Freunden und Bekannten, wieso tut er so etwas? Wieso will er sich nicht nur einfach umbringen, sondern gleich verschrotten lassen wie ein Stück Müll? Dr. A. K. antwortet zunächst nicht.
Später sagt er seiner Schwester, von der zu wissen ist, dass sie nicht lockerlassen wird, bis sie nicht eine Antwort erhält:
Stell dir vor, dass, egal, wie dein Tag war, ob er gut war oder schlecht, öde oder von guter Aktivität erfüllt oder vielleicht hektisch, vollkommen egal, egal, ob und was du gegessen hast, ob du an der frischen Luft warst oder nicht, ob du geredet hast oder geschwiegen, ferngesehen oder gelesen oder gar nichts, vollkommen, absolut, uneingeschränkt gleichgültig, was du getan und was du gelassen hast, nur eines ist sicher, dass dich jeden einzelnen gottverdammten Tag deines Lebens schreckliche Hoffnungslosigkeit heimsuchen wird, jeden Tag, unendliche Hoffnungslosigkeit. Mal dauert es nur 2 Stunden, mal jede Minute, die du wach bist, und jede, die du schläft. Du liest alles Mögliche darüber zusammen, Mittagsdämon und so weiter, du weißt ohnehin eine Menge über den Körper und seine Prozesse, du könntest tausendundeine Erklärung bringen und fast genauso viel Medikamente dagegen nehmen, es würde nur absolut nichts nützen. Jeden Tag deines Lebens musst du mindestens 2 Stunden gegen den Tod kämpfen. Ich bin einfach müde geworden. Mit den Jahren ist es immer schwieriger geworden, danach wieder aufzustehen. Demütigend schwer. Ich weiß, du liebst mich und du hast dir vorgenommen, alles zu tun, um zu verhindern, dass ich es wieder tue. Aber du bist nicht allmächtig. Es wird, irgendwann, eine halbe Stunde geben, in der du mich aus den Augen lassen musst.
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