Wovon lebst du jetzt? fragt Richard Osarobo am nächsten Tag.
Osarobo zuckt mit den Schultern.
Manchmal, sagt er, helfe ich Pakete einpacken.
Bei der Post?
Nein, Pakete, die nach Afrika geschickt werden.
Für eine Hilfsorganisation?
Ja, sowas.
Wird das bezahlt?
20 Euro am Tag.
Für wie viele Stunden?
Den ganzen Tag.
Und wie viele Tage die Woche?
Letzte Woche war ich einmal da. Und vielleicht in ein oder zwei Wochen wieder.
Ach so.
Am Oranienplatz ist immer mal jemand vorbeigekommen, der Arbeit für uns gehabt hat. Aber jetzt findet uns ja niemand mehr.
We become visible , denkt Richard.
Im März will ich nach Italien gehen.
Wohin denn?
Osarobo zuckt mit den Schultern.
Hast du dort Arbeit?
Osarobo zuckt mit den Schultern.
Bis Osarobo fortgeht, bleiben also nur noch sechs oder acht Wochen Klavierunterricht, denkt Richard und merkt wieder, wie Panik ihn anfällt. Vielleicht könnte er Osarobo bis dahin ein paar kleine Stücke beibringen, damit der tatsächlich mit dem Rollklavier Geld verdienen kann auf der Straße.
Als Markus, der Sohn von Detlef und Marion, fünfzehn Jahre alt war, hat sein Ziehvater ihn beim Abendbrot das Periodensystem der Elemente abgefragt, Detlef besorgte ihm, als er sechzehn war, einen Praktikumsplatz bei einem Ingenieur, und Marion machte ihm, als er Abiturprüfungen hatte, zum Frühstück Müsli mit frisch geriebenem Apfel, damit er sich besser konzentrieren konnte. Markus baut nun Brücken in China.
Osarobo hat mit fünfzehn Jahren gesehen, wie man seinen Vater und seine Freunde erschlug.
Und jetzt sieht er seit drei Jahren, dass die Welt ihn nicht braucht.
Weißt du noch: C-Dur? fragt Richard.
Ursprünglich wollte Richard nur umarbeiten, was er schon in seinen zwei Büchern über Seneca gesagt hat, aber kaum hat er begonnen, in Senecas Schrift» Von der Seelenruhe «zu blättern, sind ihm neue Ideen gekommen, und er hat gemerkt, wieviel Freude ihm seine Arbeit immer noch macht. Sollen die Kollegen nur sehen, wen sie da mit einem tadellos funktionierenden Kopf in den Ruhestand verabschiedet haben. Wenn Vernunft wirklich feurige Materie wäre, wie von Diogenes als Erstem angenommen wurde, so sähe man es doch am besten daran, wie über die Jahrhunderte hinweg der eine Nachdenkende die Gedanken eines andern aufnimmt und versucht, ihnen das Eigene hinzuzufügen und sie so am Leben zu halten. So wie Richard bei Seneca liest: Zwinge Dich ständig daran zu denken, dass der, den Du Deinen Sklaven nennst, gleichen Ursprungs ist wie Du, dass er sich an demselben Himmel erfreut, dass er wie Du atmet, lebt und stirbt — so liest Seneca bei Platon, es gebe keinen König, der nicht von Sklaven, und keinen Sklaven, der nicht von Königen abstamme. Nur der Wechsel der Zeit habe all dies durcheinander geworfen und das Schicksal alles mehrfach umgekehrt. Und fanden sich bei Ovid nicht am Ende der Metamorphosen die gleichen Gedanken wie bei Empedokles: Keines verbleibt in derselben Gestalt, und Veränderung liebend, schafft die Natur stets neu aus anderen andere Formen, und in der Weite der Welt geht nichts — das glaubt mir — verloren; Wechsel und Tausch ist nur in der Form. Entstehen und Werden heißt nur, anders als sonst anfangen zu sein, und Vergehen, nicht mehr sein wie zuvor. Ihm selbst, Richard, aber auch seinen Freunden Detlef oder Sylvia oder dem Hölderlinleser Andreas ist der Gedanke an die immerwährende Bewegung, an die Flüchtigkeit aller menschlichen Ordnungen und an die prinzipielle Umkehrbarkeit aller Verhältnisse schon immer selbstverständlich gewesen, das mochte an ihrer Nachkriegskindheit liegen, vielleicht auch an der Beobachtung der Hinfälligkeit des sozialistischen Systems, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatten, und das dann innerhalb weniger Wochen zusammenstürzte.
Ist nun der schon so lange andauernde Frieden daran schuld, dass eine neue Generation von Politikern offenbar glaubt, am Ende der Geschichte angekommen zu sein, glaubt, es sei möglich, all das, was auf Bewegung hinausläuft, mit Gewalt zu unterbinden? Oder hat die weite räumliche Entfernung von den Kriegen der andern bei den unbehelligt Bleibenden zu Erfahrungsarmut geführt, so wie andere Menschen an Blutarmut leiden? Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?
Vielleicht ist der Weg der Vernunft auch zu vergleichen mit dem, was die Männer hinter sich haben? Wie bist du nach Libyen gegangen? fragt er Ithemba, der neben ihm steht, um sich an der Feuertonne die Hände zu wärmen. Über die algerische Grenze, drei Tage zu Fuß durch eine steinige Wüste. Manche haben sich einfach niedergelegt und konnten nicht mehr. Man lässt sie zurück. Man geht weiter. Was soll man machen? Man kann ihnen nicht mehr helfen. Und alles ist einem schwer dort, sagt er, man wirft das Hemd weg — so! sagt er und macht eine weite Bewegung mit den Armen, man wirft die Schuhe weg — so! Und macht vor, wie er damals in der heißen, steinigen Wüste im Grenzgebiet von Algerien und Libyen sein einziges Paar Schuhe von sich geworfen hat. Alles ist einem zu schwer, drei Tage geht man, und das einzige, was man unbedingt braucht, ist ein Kanister mit Wasser. Richard schaut zu dem Dach des Heims hinauf, auf dem im Moment nur ein Mann zu sehen ist. Der lehnt sich an einen Schornstein und steht einfach da. Ob auch der in der steinigen Wüste unterwegs war? Seit dreizehn Tagen sind die Männer nun schon da oben, um auf dem zu beharren, was ihnen in der Vereinbarung versprochen worden war: Hilfe und Unterstützung bei der Entwicklung ihrer beruflichen Perspektiven und so weiter. Richard sieht den Mann da oben stehen, über der Stadt, und denkt an den Toten, unten im See, und plötzlich kommt ihm das Warten wie eine Klammer vor, die alles, was zu ebener Erde geschieht, umfasst.
Vielleicht ist auch das, was Erinnerung ist, mit dem zu vergleichen, was die Männer hinter sich haben, denkt Richard. Wie begräbt man in der Wüste die Toten? fragt er Apoll. Das war die Frage, die damals unbeantwortet geblieben ist, als der Alarm plötzlich losging. Man schiebt in der Mitte einer Düne den Sand auseinander, macht eine Schneise, dort legt man den Toten hinein. Man betet. Was betet man? Apoll tritt mit Richard ein wenig beiseite in eine Toreinfahrt, in der sie vor dem schneidenden Wind geschützt sind, legt die Hände übereinander, blickt zu Boden und beginnt, das Totengebet zu sprechen. Unter seinen Füßen ein Gitter, auf dem steht noch aus der deutschen Kriegszeit Mannesmann Luftschutz . Und dann? Dann schiebt man den Sand zurück, über den Toten. Markiert man das Grab irgendwie? Nein, aber man weiß für immer die Stelle.
Vielleicht sagt das, was die Männer hinter sich haben, auch etwas aus über Macht und Ohnmacht? Er fragt Khalil, der mit einem Stock im Feuer stochert, wie seine Überfahrt damals war. Khalil sagt: Ich hatte nur Angst vor dem Wasser, deswegen war ich unter Deck. Ein Freund von mir, der oben geblieben ist, ist gestorben, weil die Sonne so heruntergebrannt hat. Er ist verdurstet. Auf dem Boot von Raschid dagegen, erinnert Richard sich noch, gab es gerade für alle diejenigen unter Deck durch die Kenterung nicht die geringste Aussicht auf Rettung. Dort war alles sofort geflutet, hat Raschid am Weihnachtsabend gesagt. Richard sieht, wie die Polizisten Wachablösung machen und deshalb für einige Minuten nicht 100 Mann, sondern 200 sind.
Am nächsten Morgen — Richard will gerade beginnen, die Notizen, die er sich vor dem besetzten Haus gemacht hat, in seinen Vortrag einzuarbeiten — erfährt er, dass der Senat die Vereinbarung mit den Flüchtlingen nun im nachhinein für ungültig erklärt. Ein Jurist aus Konstanz am Bodensee sei zu Rate gezogen worden. Eine entscheidende Unterschrift habe leider, leider! auf dem Papier gefehlt. Richard weiß, dass inzwischen verschiedene internationale Menschenrechtsorganisationen das Vorgehen des Berliner Senats gegenüber den in der obersten Etage ihres Heims verschanzten Flüchtlingen beanstandet haben, und er kann sich denken, dass das Gutachten des fernen Juristen im Zusammenhang mit dieser Kritik steht. Wenn ein Vertrag nicht bindend ist, gibt ein Vertragsbruch auch keinen legitimen Grund ab für einen Protest. Mit ein paar Buchstaben auf einem Brief aus Konstanz wird also das, worauf die Flüchtlinge seit Monaten warten, genau in diesem Moment, in dem die Erfüllung anstehen würde, für ungültig erklärt.
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