Valerio Curcio - Der Torschützenkönig ist unter die Dichter gegangen

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Zum 100. Geburtstag des großen italienischen Intellektuellen beleuchtet dieses persönliche und erhellende Buch Pasolinis innige Beziehung zum Fußball, und damit einen zentralen Aspekt in seinem Leben, der bisher wenig Beachtung gefunden hat. Pasolini tritt hier als leidenschaftlicher Fan des FC Bologna auf, als Fußballspieler, als Sportreporter und auch als scharfsinniger Gesellschaftsanalytiker, der im Sport den letzten religiösen Ritus sah. Valerio Curcio zeigt auf, wie Pasolini im Fußball Kraft und Inspiration schöpft – und wie er den Ballsport letztlich als universelle Sprache versteht, als Mittel des Austauschs und der sozialen Teilhabe. Ein Vorwort von Moritz Rinke, erstmals übersetzte Interviews mit Pasolini und ein aktuelles Interview mit Dacia Maraini runden den Band ab.

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Valerio Curcio

DER TORSCHÜTZENKÖNIG IST UNTER DIE DICHTER GEGANGEN

FUSSBALL NACH PIER PAOLO PASOLINI

Aus dem Italienischen von Judith Krieg

Wie fühlt sich der wahre Sieg an Klatschende Hände oder Erhöhung des - фото 1

»Wie fühlt sich der wahre Sieg an?

Klatschende Hände oder

Erhöhung des Herzschlags?«

Inhaltsverzeichnis

Moritz Rinke: Jedes Tor ist eine eigene Erfindun g

Einleitung

DER FUSSBALLFAN

Bologna, die Rot-Blaue

Die Siegermannschaft, vor der die Welt erzittert

Eine Fernbeziehung

Gastmahl der Liebe

Zwei Fußball-Legenden

Sympathien für den AS Roma

DER FUSSBALLSPIELER

In Bologna

Im Friaul

Die Jahre in Rom

Die Nazionale dello Spettacolo

1900 gegen 120

Das letzte Spiel?

DER ERZÄHLER

Fußball in der Vorstadt

Körper im Singular, Körper im Plural

Der Fußball der »Unverdorbenen«

Die Reportage über den Gott

DER SPORTREPORTER

Das Schauspiel auf den Rängen

Die Olympischen Spiele 1960

Der Volkssport

DER INTELLEKTUELLE

Opium fürs Volk?

Die Linguistik des Fußballs

Der letzte sakrale Ritus

INTERVIEWS ZUM FUSSBALL

Fußball als Sprache, Fußball als Ritus – Im Gespräch mit Guido Gerosa

Pasolinis letztes Interview zum Thema Fußball

Claudio Sabattini: Sport – Religion unserer Tage

Fußball als Therapie – Pasolini im Gespräch mit Claudio Sabattini

Im Gespräch mit Dacia Maraini

ANHANG

Dank

Bibliografie

Anmerkungen

VOR DEM ANSTOSS

Moritz Rinke Jedes Tor ist eine eigene Erfindung

Pier Paolo Pasolini, der große, freibeuterische Autor von Ragazzi di vita und Petrolio war offenbar besessen vom Biavati-Übersteiger. Amedeo Biavati war der vielleicht beste italienische Halbstürmer vor dem Krieg. Er begann seine Karriere bei Pasolinis Herzensverein, dem FC Bologna. Bei seinem Debüt 1933 in Serie A erzielte er innerhalb von zwei Minuten zwei Tore gegen den AC Casale, im nächsten Spiel traf er gleich wieder zweimal gegen den AC Mailand.

Pasolini muss das alles während seiner Schul- und Studienzeit verfolgt haben, auch die Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich. Drei Spieler des neuen Weltmeisters Italien kamen aus Bologna, darunter natürlich auch Biavati mit zwei Vorlagen zum 4:2 gegen Ungarn.

Von diesem Finale existieren noch ein paar holprige, mal dunkler, mal heller flackernde Filmaufnahmen. Die Technik und Bewegungen der Spieler wirken von heute aus betrachtet wie aus der Bezirksklasse, aber in der zweiten Halbzeit sieht man einmal einen Sturmlauf von diesem Biavati über rechts, der schon ein bisschen die späteren Sturmläufe des Arjen Robben vorwegnimmt.

Ich bin alle Filmarchive durchgegangen, um weitere Spielszenen mit Biavati zu finden, weil sie mir plötzlich als Schlüssel zum Verständnis des Pier Paolo Pasolini erschienen, aber Aufnahmen vom berühmten Biavati-Übersteiger konnte ich nirgendwo finden.

Biavati hat den Übersteiger auch nicht erfunden. Diese Technik, bei der ein Spieler einen Fuß über den Ball setzt und damit einen Richtungswechsel antäuscht, sah man offenbar zuerst bei dem argentinischen Flügelstürmer Pedro Calomino, der ab 1911 für die Boca Juniors spielte. Amedeo Biavati aber machte die Technik in Italien bekannt, wo sie in den Dreißigern als doppio passo (Doppelschritt) in die Geschichte einging. Heute ist sie auf der ganzen Welt bekannt, insbesondere durch Cristiano Ronaldo und seine manchmal etwas affig wirkende Technik des Mehrfach-Übersteigers.

Pasolini muss sich ab dem 11. Lebensjahr in Bologna, auf den Wiesen von Caprara, mit dem Übersteiger Biavatis beschäftigt haben – so wie ich mich auf den Wiesen des Worpsweder Teufelsmoors mit dem Fallrückzieher von Klaus Fischer beschäftigte, den ich dann das erste Mal Mitte der Achtziger in einem Spiel für den FC Worpswede gegen den TSV Ritterhude einsetzte. Ich weiß es noch, als sei’s erst gestern gewesen.

Es sind diese besonderen Spieler und ihre Bewegungen, die einen für ein ganzes Leben prägen können. So muss es auch mit Pasolini und Biavatis Übersteiger gewesen sein. Er übte ihn als Gymnasiast auf den Caprara-Wiesen, später auf den Plätzen der römischen Vorstadt, und er wendete ihn dann sein ganzes Leben an, wann immer er ein Spiel hatte. Und Pasolini hatte viele Spiele.

Es gibt noch eine andere besondere Begebenheit, die von Pasolinis Liebe zum Fußball erzählt und die mich wirklich tief berührt.

1963, in der Saison, als der FC Bologna zum siebten Mal italienischer Meister werden sollte, interviewte Pasolini die Spieler des FC Bologna. Das Thema war leider nicht der Übersteiger von Biavati, sondern das Verhältnis der Italiener zur Sexualität; das Ganze war für einen Dokumentarfilm mit dem Titel Gastmahl der Liebe gedacht. Pasolini hatte sich lange auf das Interview vorbereitet, war bereits Tage vorher an den Drehort gekommen, das Sportzentrum des FC Bologna.

Die Videoaufnahme des Interviews ist heute bei YouTube anzusehen. Pasolini im schwarzen Anzug, offenbar auch gerade beim Friseur gewesen, steht geradezu feierlich vor den Spielern in ihren Trainingsanzügen. Er wirkt wie ein hilfloser Liebender vor den Anbetungswürdigen, die dumpf, auch etwas stumpf wirken und ihm keinen brauchbaren Satz schenken können.

Mir ist das, was Pasolini mit den Spielern vom FC Bologna widerfuhr, auch schon passiert. In meine Nibelungen kam einmal bei den Wormser Nibelungenfestspielen die gesamte Mannschaft von Bayer 04 Leverkusen, kein Herzensverein wie der FC Bologna, aber immerhin spielten da gerade eine Reihe illustrer Profis. »Hat euch die Darstellung des Siegfrieds gefallen?«, fragte ich das Team danach. Michael Ballack kaute Kaugummi, als ob er mich gar nicht gehört hatte; Bernd Schneider starrte in die Kulissen, Lúcio lächelte an mir vorbei.

Die Liebe der Kulturschaffenden zum Fußball ist manchmal so glühend und blind, dass wir in die Protagonisten des Fußballs – unsere Sterne! – alles hineinprojizieren, was ohnehin schon in uns an Überhöhung vorhanden ist.

Der italienische Regisseur Sergio Citti, berichtete nach einem Treffen von Pasolini mit Bulgarelli, dem jungen Kapitän vom FC Bologna, dass Pasolini gewirkt hätte, als habe er Jesus gesehen.

So etwas kann ich mir bei Pasolini absolut vorstellen, weil ich es von mir selber kenne. Man vergisst in dem Moment auch den eigenen kulturellen Stellenwert und steht plötzlich ganz blank und zart vor seinen Kindheitsträumen und jenen, die sie verkörpern. »Meiner Ansicht nach lebte Pier Paolo mit rückwärtsgewandtem Blick. Er blickte seinem Kinder-Ich hinterher, das sich davongemacht hatte. Wenn er spielte, dann nahm dieses Kind zusammen mit dem Fußball wieder Gestalt an; wenn er mit dem Spielen aufhörte, verwandelte er sich aufs Neue in den unruhigen, geplagten Erwachsenen, zu dem er geworden war« – genauer und schöner als die Schriftstellerin Dacia Maraini kann man diese Liebe aus Kinderzeiten nicht beschreiben. (Wie Pasolini im Friaul an den Lippen von Fabio Capello, dem früheren italienischen Nationalspieler, hing, das lese man nach in diesem Buch!)

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