Rufu hat keine italienische Krankenkassenkarte, denn sein permesso ist abgelaufen, und um zur Erneuerung nach Italien zu fahren, war er schon seit längerem zu krank.
Rufu hat auch keine deutsche Krankenkassenkarte, denn er darf in Deutschland kein Asylbewerber sein. Für eine Behandlung akuter Schmerzen könnte das Sozialamt einen Antrag bewilligen, aber dazu müsste der Patient erst einmal einen Antrag stellen und nachweisen, dass ihm etwas wehtut. Richard fragt Rufu nicht, ob er beim Sozialamt war, einen Antrag gestellt und einen Nachweis darüber erbracht hat, dass es ihm schlecht geht.
Ich bezahle die Untersuchung, sagt Richard.
Ist schon gut, sagt der junge Assistenzarzt in der psychiatrischen Praxis um die Ecke von Richards ehemaligem Institut.
Danke, sagt Richard.
Haben Sie Schmerzen? fragt nun der Psychiater Rufu.
Richard übersetzt.
Rufu nickt.
Was genau tut Ihnen weh?
Rufu zeigt auf seinen Kopf, die Schläfen, die Ohren, den Kiefer.
Können Sie den Mund weit aufmachen?
No.
Warum nicht?
Rufu zeigt zwischen die Zahnreihen, ins Innere seines Mundes.
Darf ich einmal? sagt der Arzt, und schiebt einen kleinen Spiegel hinein. Durch den Spalt beleuchtet er die dunkle Höhle, und dann sagt er: Da ist ein riesiges Loch in einem Zahn auf der rechten Seite.
Ein Loch in einem Zahn?
Ja, ein Loch in einem Zahn.
Rufu hat das Weihnachtsfest auf der geschlossenen psychiatrischen Station eines Berliner Krankenhauses verbracht und nach seiner Entlassung ein Medikament bekommen, an dem er, nach Richards Einschätzung, beinahe gestorben wäre, und nun stellt sich also heraus: Der Grund für dies alles war vielleicht nur das Loch in seinem Zahn.
Wie oft, zeigt sich auch bei dieser Untersuchung, dass alles davon abhängt, die richtigen Fragen zu stellen.
Rufu war sicher noch nie bei einem Zahnarzt, vielleicht weiß er gar nicht, dass die Zahnärzte von der Menschheit schon erfunden wurden, aber er setzt sich in der Praxis, in der Richard Patient ist, folgsam auf den Stuhl, und dann ist es für den Zahnarzt eine Sache von wenigen Minuten, das Loch zu verschließen.
Noch jeder, der mit so einem Loch in einem Zahn zu mir gekommen ist, sagt der Zahnarzt, hat gedacht, er verliere den Verstand vor Schmerzen. Der Schmerz ist so furchtbar, dass man ihn nicht mehr orten kann, das macht die Anamnese oft schwierig.
Wieviel bin ich Ihnen schuldig? sagt Richard.
Ist schon gut, lassen Sie mal, sagt der Zahnarzt.
Wohin ist Osarobo gegangen?
Gehen, ging, gegangen.
Seit über einer Woche schon versucht Richard, ihn anzurufen. Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar. Auch keiner von den Männern hat ihm sagen können, wo der Junge geblieben ist seit dem Freitag vor einer Woche. Deshalb ruft Richard sofort zurück, als Osarobo ihm schreibt: Hi .
Wo bist du untergekommen?
Bei einem friend.
Was für ein friend?
Ein Mann von der Elfenbeinküste.
Woher kennst du ihn?
Er hat auf dem Oranienplatz mit mir gesprochen.
Aha.
He’s got papers.
Okay.
Do you have work for me?
Nein, sagt Richard. Im Winter kann er Osarobo nicht einmal Laub harken lassen.
I need work, work, sagt Osarobo.
Ich weiß, sagt Richard, aber im Moment ist es schwierig.
Okay.
Osarobo hat den Weg vom roten Ziegelgebäude zu Richards Haus gelernt, dann kam die Übersiedlung nach Spandau. Er hat den Weg mit der S-Bahn von Spandau zu Richards Haus gelernt, und nun ist er bei einem Freund von der Elfenbeinküste in Berlin-Reinickendorf untergekommen. Bei der C-Dur-Tonleiter haben sie vor einigen Monaten angefangen. Als sie beim Bass für einen einfachen Blues waren, gab es den Umzug nach Spandau. Und dann haben sie die C-Dur-Tonleiter wiederholt, und den Bass für einen einfachen Blues wiederholt, und dann kam Anfang Januar die erste Ausweisungsliste, auf der Osarobos Name stand. Jetzt werden sie, wenn überhaupt, wieder bei der C-Dur-Tonleiter beginnen und bei dem Bass für einen einfachen Blues.
Die Zeit macht etwas mit einem Menschen, weil ein Mensch keine Maschine ist, die man an- und ausschalten kann. Die Zeit, in der ein Mensch nicht weiß, wie sein Leben ein Leben werden kann, füllt so einen Untätigen vom Kopf bis zu den Zehen.
Richard hat heute früh eine Einladung zu einem Colloquium in Frankfurt am Main bekommen. Ob er einen Vortrag halten würde zum Thema» Die Vernunft als feurige Materie im Werk des Stoikers Seneca«. Daran, dass das Colloquium schon in der übernächsten Woche stattfinden soll, hat er sehen können, dass er nur gefragt worden ist, weil ein anderer Vortragsredner plötzlich abgesagt hat. Über Seneca hat Richard, als er noch am Institut war, zwei Bücher geschrieben — den Vortrag zusammenzustellen, fiele ihm also sicher nicht schwer. Trotzdem hat er den Brief erst einmal beiseitegelegt und ist zum Steg hinuntergegangen, um den See anzuschauen.
Der See ist inzwischen ganz und gar zugefroren. Dadurch, dass es seit dem letzten Frost noch nicht wieder geschneit hat, liegt das Eis klar da wie schwarzes Glas. Richard hat ein paar im Eis festgefrorene Schilfhalme, Blätter und Algen gesehen und unter der Eisschicht, in der Tiefe, wo das Wasser noch flüssig ist, sogar einen großen, langsam schwimmenden Fisch. In den anderen Jahren ist er zusammen mit Detlef und Sylvia oft quer über den zugefrorenen See spaziert, aber in diesem Jahr hat keiner von ihnen diesen Vorschlag gemacht. Der Ertrunkene würde vielleicht versuchen, von unter dem Eis zu rufen, und sie würden ihn unter ihren Füßen sehen, mit offenem Mund, mit den Händen von unten das Eis abtastend, um eine offene Stelle zu finden, aber ehe sie eine Axt geholt und das Eis endlich aufgehackt hätten, wäre er bestimmt längst schon wieder zurückgesunken.
Willst du wieder Klavierspielen kommen? fragt er jetzt Osarobo.
Okay, sagt der.
Morgen vielleicht?
No problem.
Richard schickt, nachdem er aufgelegt hat, seine Zusage nach Frankfurt am Main und stellt sich einen Moment lang vor, wie seine ehemaligen Kollegen in zwei Wochen in einem großen Saal sitzen werden, Vorträge halten, sich gegenseitig zuhören oder miteinander diskutieren, wie auch er da sitzen wird, seinen Vortrag halten, den anderen zuhören und diskutieren, sechs Vorträge an einem Tag, er wird als zweiter dran sein, in der Pause wird es im Vorraum Kaffee aus großen Thermoskannen geben, Orangensaft, Mineralwasser und ein paar Kekse.
Ist das noch sein Leben?
Ist es je sein Leben gewesen?
Die letzten 25 Jahre hat er, durch die sogenannte Wiedervereinigung plötzlich in den Rang eines Westlers erhoben, zum Kreis der Eingeweihten gehört, auch jetzt lädt man ihn immerhin ein, wenn ein anderer ausfällt. Das Ausscheiden geht viel unmerklicher vor sich als der Eintritt in diese Welt, aber schließlich wird irgendeine Einladung tatsächlich die letzte in seinem Leben als Wissenschaftler sein, nur welche — das würde sich glücklicherweise erst im nachhinein, wenn er nichts mehr davon merkte, erweisen.
Einige der Kollegen, die auf der Tagung in Frankfurt sein werden, wird er noch kennen, und vielleicht wird sogar der Tacitus-Spezialist wieder da sein, mit dem er auf einem Kongress Anfang letzten Jahres ein interessantes Gespräch gehabt hat. Aber wenn die andern abends zum gemeinsamen Essen gehen — die Klugen, die Schrulligen, die Ehrgeizigen, die Schüchternen, die Langweiligen, die Besessenen und die Eitlen —, dann wird er schon wieder im Zug nach Berlin sitzen und darüber nicht unglücklich sein. Und wenn die andern im Einzelzimmer eines Frankfurter Hotels ihren Kopf auf ein Hotelkissen legen, wird er durch das Dunkel zwischen den Bäumen schon wieder zu seinem Haus hingehen. Und wenn die anderen zum zweiten Tag des Colloquiums in ihrem zweiten gebügelten Hemd erscheinen, wird er den See sehen.
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