Irgendwann erscheint auch Raschid wieder auf dem Hof. Er tobt nicht mehr, er schreit nicht mehr, er sieht einfach nur noch erschöpft aus. Hinausgehen aus dem Heim darf er, aber natürlich, sagen die Wachen, und so kommt er zu ihnen hinaus auf den Vorplatz.
It’s really bad, sagt er, wirklich, wirklich schlimm heute, er gibt der Abgeordneten und Richard die Hand und vergisst trotz allem nicht, die beiden how are you zu fragen.
Good, sagt Richard pflichtgemäß.
Good, sagt auch die Abgeordnete.
Sie behandeln uns wie Verbrecher. Aber was haben wir denn getan?
Richard zuckt mit den Schultern.
Raschid zieht sein kleines Telefon aus der Hosentasche und drückt ein paar Tasten.
Das Telefon geht immer noch nicht.
Ja, wir haben es auch schon gemerkt.
Kommt ihr nachher zur Demonstration? Wir ziehen vom Oranienplatz zum Senat.
Richard und die Abgeordnete nicken.
Dann geht Raschid zu Yussuf hinüber, der noch immer auf die Wand aus geharnischten Polizisten einredet und dabei mit dem Zeigefinger auf sie hinsticht, als würden sich hinter den Visieren besonders starrsinnige Schüler verbergen. Raschid klopft ihm ein paarmal freundschaftlich auf die Schulter, it’s okay, sagt er, it’s okay. Yussuf tritt noch einmal gegen das Metallgitter, das heute früh aufgestellt worden ist, flucht, indem er sich von den Geharnischten abwendet, noch ein paarmal über die Schulter und geht dann wieder ins Heim.
Steht er etwa auch auf der Liste? fragt Richard den Blitzeschleuderer, als der zu ihnen zurückkommt.
Nein, aber das alles hier stresst ihn. Auch Rufu war über Weihnachten schon in der Psychiatrie.
Ach, um Gottes Willen, sagt Richard.
Ja. Jetzt ist er wieder draußen, aber es geht ihm nicht gut.
Was hat er?
Er kann nicht mehr essen. Er kann oder will den Mund nicht mehr aufmachen.
Richard merkt, wie ihn für einen kurzen Moment Panik anfällt. Ist das alles hier vielleicht wirklich nie mehr zu retten?
Wo sind überhaupt die 12 Leute? fragt die Abgeordnete.
Einige sind gestern schon weggegangen, und die anderen kommen gleich.
Sie verlassen das Heim freiwillig? fragt Richard.
Sollen sie etwa schon wieder kämpfen? Das sind Leute, die vor dem Krieg geflohen sind.
Und dann kommen die paar Männer heraus, Rucksäcke auf dem Rücken, eine Reisetasche oder ein paar Plastiktüten in der Hand. Sie gehen an den vielen, vielen Mannschaftswagen der Polizei vorbei in Richtung Bushaltestelle. Osarobo ist nicht dabei, auch Zair nicht. Abdusalam, der Sänger, gibt Richard und der Abgeordneten zum Abschied die Hand und umarmt Raschid, bevor er den anderen folgt. Der Liste ist Genüge getan.
In Deutschland ist das Demonstrieren grundsätzlich erlaubt. Aber es gibt drei wichtige Fragen:
1. Wer meldet die Demonstration überhaupt an?
2. Was ist die Strecke?
3. Was ist das Motto?
Der Anmeldende muss einen deutschen Ausweis haben. Das ist bei Kriegsflüchtlingen aus Libyen eher selten der Fall. Ein deutscher Sympathisant, ein Langer mit Glatze, der irgendwo weiter hinten steht, gibt seinen Ausweis für die Anmeldung her. Wohin wollen Sie ziehen? Raschid sagt: Zum Senat. Zehn Minuten vergehen, es kommt der und jener und sagt zu Raschid, das habe keinen Sinn, Freitagnachmittag sei niemand mehr vom Senat in seinem Büro. Die Abgeordnete kommt zu ihm und sagt, sie habe gehört, man komme auf keinen Fall ins Gebäude, allenfalls auf den Vorplatz. Der Einsatzleiter kommt und sagt: Wenn Sie jetzt zum Brandenburger Tor ziehen wollen, muss aber eine ganz andere Strecke abgesperrt werden. Raschid: Wieso zum Brandenburger Tor? Das hat der gesagt, der die Anmeldung gemacht hat, der Glatzkopf da drüben. Welcher Glatzkopf? Den habe ich noch nie im Leben gesehen. Zehn Minuten sind schon wieder vergangen. Wenn wir nicht zum Senat gehen können, sagt Raschid, marschieren wir zur amerikanischen Botschaft. Was denn jetzt? fragt der Einsatzleiter. Ja, zur amerikanischen Botschaft. Aha. Raschid geht nach hinten und diskutiert mit dem Glatzkopf. Zehn Minuten sind schon wieder vergangen. Der Glatzkopf geht zum Einsatzleiter und sagt: Ich ziehe meine Anmeldung zurück. Wenn es niemanden mit Ausweis und Adresse gibt, sagt nun der Einsatzleiter, kann die Demonstration nicht stattfinden. Richard sagt, hier ist mein Ausweis. Es kommt ein anderer Polizist, der so klein ist, dass er neben Raschid wie ein Zwerg aussieht und fragt: Was ist das Motto der Demonstration? Wir wollen jetzt endlich los, ruft Raschid über alle Köpfe hinweg. Den Zwerg, der nach dem Motto gefragt hat, sieht und hört er gar nicht. Was ist das Motto? fragt der Zwerg noch einmal. Wir wollen los! Das ist das Motto? Nein, sagt Richard. Raschid brüllt: Wir wollen nicht mehr warten! Ist das das Motto? fragt der Zwerg. Nein, sagt Richard. Zwerg: Ohne Motto kann die Demonstration aber nicht angemeldet werden, und ohne Anmeldung können wir nicht mit der Absperrung beginnen. Richard: Es ist noch nicht einmal mit der Absperrung begonnen worden? Zwerg: Nein, geht ja nicht, ohne Motto. Zehn Minuten sind schon wieder vergangen. Richard sagt, ohne lange darüber nachzudenken: Das Motto ist Die Welt zu Gast bei Freunden . Erst nachdem er das Motto ausgesprochen hat, fällt ihm ein, dass dies das Motto der Weltfestspiele von 1973 war. Oder der Fußballweltmeisterschaft 2006? Der Einsatzleiter kommt zu Richard und sagt: Sie sind doch der, der die Demonstration jetzt angemeldet hat? Ja, sagt Richard. Direkt vor die amerikanische Botschaft können Sie aber nicht ziehen, das ist Ihnen schon klar? Wieso nicht? fragt Richard. Sperrzone, sagt der Einsatzleiter, ganz normal. Und den Zwerg fragt er: Wie ist denn nun das Motto? Die Welt zu Gast bei Freunden , sagt der Zwerg. Gut, sagt der Einsatzleiter, dann dauert es jetzt noch mindestens dreißig Minuten, bis die Strecke abgesperrt ist. Raschid fragt: What’s he saying? Und Richard übersetzt: In fünf Minuten geht’s los. Raschid sagt: good, und ruft seine Leute, von denen manche inzwischen schon in heftigen Diskussionen mit der Polizei begriffen sind, zusammen. Der Einsatzleiter steht indessen schon auf der anderen Seite der Straße bei seinem Chefwagen und spricht in sein Funkgerät. We start! ruft Raschid, we start! Nein, so geht das nicht, Sie müssen noch warten, ruft der Einsatzleiter und kommt zurückgelaufen. Richard, der falsch übersetzt hat, um Raschid zu beruhigen, sieht, dass sein Trick genau die gegenteilige Wirkung hat. Der Einsatzleiter ruft noch einmal: So geht das nicht! und läuft wieder weg. Die Polizisten machen eine schöne gerade Reihe, durch die kein Demonstrant dringen kann, hinter ihnen fahren noch immer die Autos, auf einer Straße, die vor hundert Jahren einmal eine Brücke war. Raschid brüllt dem Einsatzleiter nach: God will punish you! Der Einsatzleiter, der offenbar — und zum Glück — kein Englisch versteht, meckert vor sich hin: Hab ich denen doch gesagt, die ganze Strecke muss im Vorhinein frei sein. Richard denkt, dass es an ein Wunder grenzt, wenn nicht bald irgendeinem von den afrikanischen Männern der Geduldsfaden reißt. God will punish you! Aber vielleicht will die Polizei auch kein Wunder. Die Abgeordnete sagt, Raschid ist wirklich schwer herzkrank, ich mache mir Sorgen, und Richard geht zu Raschid und sagt: Bloß nicht von Gott sprechen, Raschid, sonst denken sie noch, du seist Terrorist, aber Raschid hört ihn gar nicht, er brüllt zu den Polizisten hinüber: We are no criminals! Es geht ja gleich los, sagt Richard, aber der Blitzeschleuderer ist mit dem Blitzeschleudern so beschäftigt, dass er ihn gar nicht hört: Change the law! Der klappt uns zusammen, wenn das noch lange so geht, sagt die Abgeordnete. Richard sieht, wie einer der Afrikaner die Hände hebt und zu einem der Polizisten, der ihn ein wenig zurückschieben will, sagt: Don’t touch me! Richard sieht, wie einer aus dem Deeskalationstrupp der Polizei einem Afrikaner, der ihn beschimpft, freundlich nickend zuhört, wie er es im Deeskalationstraining gelernt hat. Richard sieht, wie einer der jungen Sympathisanten sein selbstgebasteltes Plakat hochhebt, auf dem steht: Hoch leben die Schwulen und Lesben in Kenia! Zu dieser Zeit sind seit dem geplanten Termin schon anderthalb Stunden vergangen. Und nun beobachten die Abgeordnete und Richard, wie sich plötzlich der oder jener Afrikaner vor Raschid zu schieben und seinerseits die Fäuste zu schütteln beginnt, Apoll zum Beispiel oder Tristan oder der lange Ithemba, die die ganze Zeit über ganz und gar friedlich waren. Sie rufen: We want to stay! Oder: We are no criminals! Oder: Give us a place! Und erst nach einer Weile verstehen Richard und die Abgeordnete, dass die Freunde von Raschid ihn wenigstens für ein paar Minuten zu ersetzen versuchen. Einer muss ja der Anführer sein, die Fäuste schütteln und brüllen, damit der Protest nicht aus dem Ruder läuft, während die Polizei den Beginn der Demonstration weiter verzögert. Währenddessen kann sich Raschid hinter der Linie ein paar Minuten erholen. Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Zweieinhalb Stunden nach dem angekündigten Termin setzt sich der Zug endlich in Bewegung. Richard, emeritierter Professor für Alte Sprachen, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Demonstration angemeldet und ihr ein Motto gegeben hat, ist sehr froh, als er sieht, wie die Männer friedlich losmarschieren und die Polizei, die sie so lange in Schach gehalten hat, ihnen plötzlich in geschlossener Reihe vorauszieht, um die Straße zu sichern. Wer von den Passanten den Zug so sieht, muss denken, Polizei und Flüchtlinge seien sich seit jeher vollkommen einig. Richard begleitet den Zug noch die zweihundert Meter bis zum Moritzplatz und steigt dann dort in die U-Bahn, um nach Hause zu fahren.
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