Gerade kommen ein paar Afrikaner, sagen im Vorbeigehen zu Richard how are you? , und holen aus dem Kämmerchen, in dem er vor einiger Zeit mit Raschid zwischen Stapeln von Stühlen saß, die zusammengefalteten Umzugskartons zum Packen.
Gehen, ging, gegangen.
An diesem Tag macht Richard einen Spaziergang rings um den See, zweieinhalb Stunden geht man. Nach seinem kurzen Besuch in dem roten Ziegelgebäude ist er gar nicht erst nach Haus zurückgekehrt, sondern in seiner Straße gleich nach rechts eingebogen. Vielleicht hält so ein kreisrunder Spaziergang irgend etwas zusammen? Den See? Den ertrunkenen Mann? Denn auch um den Mann geht er ja herum, der im See liegt oder sich in ihm aufgelöst hat. Auch um die Fischschwärme, die den See bewohnen, und um die Untiefen, von deren Existenz er zwar weiß, die er aber nie sehen wird, weil sie durch das Wasser, mit dem sie gefüllt sind, im Verborgenen liegen, er umkreist die Blesshühner und Schwäne, deren Nester im fahlen Schilf allmählich sichtbar werden. Und er zieht durch sein Gehen auch einen Kreis um die Häuser, die direkt am Wasser liegen, und um die Grundstücke, an deren Ufer die Stege wie Zungen ins Freie ausgestreckt sind. Er geht, zu seiner Rechten Felder und Wald, zu seiner Linken die Häuser. Er geht und geht, und vielleicht sieht ihn bei seinem Spaziergang die eine oder die andere Nachbarin, wenn sie den Blick kurz hebt und durchs Küchenfenster hinausschaut, oder sieht ihn der eine oder andere Nachbar, der Laub harkt oder, auf einer Leiter stehend, auf seinem Schuppen die Dachpappe festmacht. Aber auch um die, die ihn nicht sehen können, zieht Richard mit seinem Gehen den Kreis: um die in den Häusern schlafenden Hunde, um Kinder, die da drin vor dem Fernseher sitzen, oder auch um irgendeinen verlorenen Trinker, der in seinem Keller die leeren Flaschen sortiert.
Spandau.
Aber möglicherweise geht es ihnen dort sogar besser, sagt Sylvia abends am Telefon, und ist der Umzug ein Zeichen dafür, dass sie jetzt akzeptiert werden sollen. Immerhin ist das in Spandau doch, wie du sagst, ein richtiges Asylbewerberheim.
Ich weiß nicht, sagt Richard.
Bestimmt wollen sie im Senat, dass über Weihnachten alles in Ordnung kommt.
Kann sein, sagt Richard.
Ich geb dir mal Detlef.
Jaja.
Vielleicht setzen wir uns mal wieder zum Skat zusammen, was meinst du? sagt Detlef.
Gute Idee.
Am Freitag?
Freitag ist gut, sagt Richard.
Nach Spandau, sagt Detlef, kommt man übrigens viel schneller, seit der neue Abschnitt auf der Stadtautobahn fertig geworden ist.
Ich weiß.
Wirst sehen, ist alles halb so weit, wenn du den Weg erst einmal kennst.
Weißt du, der eine war gestern noch bei mir, aber da hat er von dem Umzug noch nichts gewusst.
Vielleicht freut er sich.
Kann schon sein, sagt Richard.
Raschid hat ein Einzelzimmer, deswegen sitzt er im Zimmer von Ithemba, Zair und noch einem, der auf dem hintersten Bett liegt und schläft. 3 Betten, 3 Stühle, 1 Tisch, 1 Schrank, 1 Waschbecken, 1 Fernseher, 1 Eisschrank.
It’s normal here, sagt Raschid. We’re happy.
Normal, was meinst du damit? fragt Richard.
Es gibt Kinder hier, sagt Raschid. Wir sind glücklich. Wir haben so lange keine Kinder um uns gehabt, keine Familien.
Zair fragt Richard: Wieviel Kinder hast du? Wie viele Enkel?
Keine.
Wirklich, du hast keine Kinder? fragt Zair.
Richard zuckt mit den Schultern.
Das tut mir leid für dich, sagt Zair, in einem Ton, als sei jemand gestorben. Offenbar geht er davon aus, dass nur ein sehr großes Unglück dazu führen kann, dass ein Mann, der so alt ist wie Richard, gar keine Nachkommen hat.
Meine Frau und ich, wir haben das so entschieden.
Wirklich? sagt Zair. Dann verstummt er, aber Richard sieht ihm an, dass er nicht versteht, wie jemand sich freiwillig dafür entscheiden kann, einsam zu sterben.
Der lange Ithemba, der kurz draußen war und nun wieder hereinkommt, stellt einen großen Teller mit dampfendem Essen vor Richard hin: Fleisch, Reis, Spinat. Und holt aus dem Schrank eine Packung mit Fruchtsaft.
Richard erinnert sich noch sehr gut an seine Rechnung mit den 5 Euro pro Tag. Er ist gerührt, aber er kann sich selber nicht leiden, wenn er gerührt ist. Den Afrikanern gefällt in Deutschland der Fahrkartenautomat, und den Deutschen gefällt auf der Safari die Gastfreundschaft des Mohren.
Ist das nicht ein bisschen sehr viel für mich allein? fragt er, allerdings ohne viel Hoffnung, dass diese Gastfreundschaft, die aus ihm einen Idioten macht, plötzlich aufhört.
Nein, nein, iss nur, more is more better, echt afrikanisches Essen: Fufu.
Wie zu einem Gefängnisbesuch hat sich Richard hierher aufgemacht, und nun sitzt er in dem Asylbewerberheim in Spandau und isst zu Mittag. Das Essen schmeckt gut, draußen im Hof hört man die Kinder herumrennen und spielen, rumänische, syrische, serbische, afghanische, auch ein paar afrikanische Kinder. Zur Verabschiedung begleitet Raschid Richard zum Ausgang, so, als hätte er den Besucher bei sich zu Hause empfangen.
It’s normal here, hat er gesagt.
Innerhalb der nächsten zwei Wochen beschafft Raschid seinen Leuten Arbeit als volunteers . Unentgeltlich harken sie Laub in den Parkanlagen Berlins, putzen in Kindergärten und Schulen, waschen Teller in einem Wohngebietsclub. Wir sind froh, wenn wir etwas zu tun haben, sagt Raschid.
Und trotzdem muss Richard jedesmal, wenn er in das zweistöckige Haus zu Besuch kommt, denken: Aus einem zweistöckigen Gebäude kann sich kein Verzweifelter zu Tode stürzen. Die Station für die todkranken Krebspatienten in der Charité, auf der seine Mutter starb, hatte im obersten Stockwerk die schönste Aussicht, aber dafür auch Fenster, die sich nicht öffnen ließen.
In der Ausländerbehörde beginnen die ersten Gespräche zur Klärung der einzelnen Fälle.
Sehr geehrter Herr XXX, Sie sind unter der Nummer XXX als» Teilnehmer Vereinbarung Oranienplatz «registriert.
Richard denkt an die Dreiviertelseite.
Zur Prüfung Ihrer Aufenthaltsangelegenheit werden Sie gebeten, unter Vorlage dieses Schreibens am XXX um XXX Uhr in meinem Dienstgebäude im Warteraum C 06 vorzusprechen.
Was ist Totensonntag? , fragt Khalil Richard am Totensonntag.
Wie kommst du denn darauf? sagt Richard. Am Vormittag war er gerade auf dem Friedhof in Berlin-Pankow, wo seine Eltern begraben liegen.
Der Club, in den wir sonst immer gehen, hatte gestern Nacht zu.
Was ist das für ein Club?
Wir tanzen da, wir dürfen rein ohne Eintritt. Totensonntag stand gestern auf einem Schild am Eingang.
Am Totensonntag, sagt Richard, ist Tanzverbot, und es gibt auch kein Kino.
Warum?
Man denkt an die Gestorbenen, an die Toten.
Ach so.
Und schon verwandelt sich das Gesicht eines jungen Mannes, der letzte Nacht hätte tanzen gehen wollen, in das Gesicht eines jungen Mannes, der die Flucht über ein Meer hinter sich hat und nicht weiß, ob seine Eltern noch leben. An dem Tag, an dem sie auf die Boote getrieben wurden, sei Khalil von ihnen getrennt worden, hat Raschid Richard neulich erzählt. Khalil wisse nicht, ob sie noch dort seien, ob sie erschossen worden seien oder auch auf ein Boot hätten gehen müssen, wisse nicht, in welchem Land sie angekommen sein könnten, wenn überhaupt.
Immer wieder hat Richard in letzter Zeit Meldungen über gekenterte Flüchtlingsboote im Mittelmeer gelesen. An den Stränden Italiens werden inzwischen beinahe täglich Leichen von afrikanischen Flüchtlingen angespült. Wo werden sie begraben? Wer kennt ihre Namen? Wer sagt ihren Familien Bescheid, dass sie es nicht geschafft haben bis Europa — und nie mehr zurückkehren werden? Im Internet schreibt einer, der sich MirEgal nennt: Die einzigen, die mir wirklich leid tun, sind die Rettungskräfte! Wieso müssen sie ausrücken, um die vielen Toten aus dem Wasser zu ziehen? Ein anderer, mit Namen Schlachtgott, schreibt: Der Planet ist sowieso schon maßlos überfüllt. Früher hat das die Natur (Grippe, Pest, etc.) selber geregelt. Und ausgerechnet in dem Teil Deutschlands, in dem bis vor fünfundzwanzig Jahren der proletarische Internationalismus das Motto für unzählige Spruchbänder abgegeben hat, steht nun auf Wahlplakaten einer zunehmend beliebten Partei zu lesen: Lieber Geld für die Oma — als für Sinti und Roma . Richard muss, wenn er solche Meinungsäußerungen liest, immer an ein Gedicht von Brecht denken, in dem Nachkriegsberliner einem zusammengebrochenen Pferd, das lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig mit dem Sterben , das Fleisch von den Knochen reißen. Und während es bei lebendigem Leib zerstückelt wird, macht sich das Pferd Sorgen um seine Mörder: Was für eine Kälte /Muß über die Leute gekommen sein! / Wer schlägt da so auf sie ein, /Dass sie jetzt so durch und durch erkaltet? / So helfet ihnen doch! Und tut es in Bälde! Aber welchen Krieg hatten die Menschen jetzt hinter sich?
Читать дальше