Schließlich sind alle fertig. Raschid sagt: I can help you. Er kennt ja jeden der Männer. Mit Richard zusammen geht er von Tisch zu Tisch, während der mitschreibt und zu klären versucht, welches jeweils der Vor- und welches der Nachname ist: das ist Awad Issa aus Ghana, das ist Salla Alhacen aus Niger, das ist Ithemba Awad aus Nigeria, das ist Yussuf Idrissu aus Mali, das ist Moussa Adam aus Burkina Faso, das ist Mohamed Ibrahim, und immer so weiter. Die Nachnamen sind die Vatersnamen, und so kann es sein, dass der eine Flüchtling mit Vornamen, der andere aber mit Nachnamen zum Beispiel Idrissu heißt. Um die Verwirrung vollkommen zu machen, nennen manche der Männer den Nachnamen zuerst, so wie es auf dem Land in Süddeutschland und auch bei den Österreichern üblich ist. Richard erinnert sich noch sehr gut an den Möstl Toni, Inhaber eines Heurigenlokals bei Wien, in das er und seine Frau einmal eingekehrt waren und von dem sie dann über Jahre hinweg den Riesling bezogen. Christel. Aber schließlich ist die Liste komplett, und Richard weiß nun, obwohl es ihn im Grunde wirklich nichts angeht, dass 5 von den insgesamt ungefähr 40 Männern das lateinische Alphabet weder schreiben noch lesen können, darunter Hermes, der Kurzsichtige mit den goldenen Schuhen, auch Khalil, Mohameds bester Freund, dessen glänzende Kette ganz sicher nicht echt ist, und Abdusalam, der Sänger.
Für die Rückfahrt teilt sich Raschid ganz selbstverständlich für Richards Auto ein, wer hätte auch jemals davon gehört, dass ein Blitzeschleuderer mit der S-Bahn nach Haus fährt? Und Abdusalam soll mit von der Partie sein, Richard räumt ein paar leere Flaschen vom Rücksitz in den Kofferraum, aber weil hinten genug Platz ist für drei, winkt Raschid schnell noch den langen Ithemba heran, der muss seinen Kopf einziehen, car is more better than S-Bahn! Während die drei Nigerianer sich lachend und schubsend hinten hineinzwängen, sitzt Rufu, der Mond von Wismar, schon ernst und still vorn auf seinem Platz neben Richard. Auf dieser Rückfahrt erfährt Richard, dass Raschid nicht nur Auto, sondern sogar Bagger fahren kann, aber seine Fahrerlaubnis hier nicht anerkannt wird, weil er weder einen Aufenthaltstitel hat noch einen Nachweis seiner Identität. Abdusalam beginnt zu singen, und Richard erzählt, dass es über solche Fuhren, wie es diese gerade ist, auch ein deutsches Lied gibt, und beginnt seinerseits: Hab mein Wagen vollgeladen, voll mit Afrikanern! Er weiß natürlich, dass in der Urfassung nicht von Afrikanern die Rede ist, sondern von alten, beziehungsweise jungen Weibern — aber was die Silbenzahl angeht, sind die Afrikaner perfekt. An einer roten Ampel blickt Richard, der noch aus voller Kehle singt, während die Männer hinten klatschen und johlen, und sogar Rufu im Rhythmus mit dem Kopf nickt, zufällig in ein Nachbarauto hinein, darin sitzt eine junge Familie: Vater, Mutter, zwei Kinder — alle die Köpfe zu Richards Auto gedreht, stumm und fassungslos angesichts so vieler ausgelassener Mohren und eines offensichtlich verrücktgewordenen Weißen. Als er mit einem Hüh, Kutscher! bei Grün wieder anfährt, hört Richard noch, wie hinter der in ihrem Staunen festgefrorenen Familie ein Hupkonzert einsetzt.
Am nächsten Tag räumt Richard hier und da ein paar Sachen zusammen, dann bringt er den Müll hinaus, da ist es schon kurz vor halb zwölf, bezieht sein Bett neu, sucht im Schuppen ein Maßband. In der Mittagszeit zu den Männern hinüberzugehen, ist sicher nicht günstig, also saugt er noch Staub, und weil er nun einmal dabei ist, putzt er schließlich auch Küche und Bad, dann ist alles sauber und aufgeräumt, wenn morgen der Klavierspieler zu Besuch kommt. Ehe er sich’s versieht, ist es Abend geworden, Fußball, eine Talkshow, in der keiner den andern zu Wort kommen lässt, eine Verfolgungsjagd, ein brennender LKW, zwei, die sich küssen, Spätnachrichten, der Wetterbericht. Erst unmittelbar vor dem Zubettgehen gibt er im Internet die beiden Suchbegriffe äthiopisch und Sprachlehrerin ein, aber natürlich weiß er, noch während er die Buchstaben tippt, dass das eine Kinderei ist.
Am nächsten Vormittag klingelt um zehn Minuten nach elf Richards Telefon, es ist Osarobo, der an einer Kreuzung irgendwo in der Nähe steht und sich nicht mehr daran erinnert, wie er von dort zu Richards Haus hinkommt. Richard sagt: Lies mir vor, was da, wo du gerade bist, auf dem Straßenschild steht. Und dann sagt er: Ich hol dich. Was wohl die anderen in so einem Fall machen würden: Hermes, Khalil oder Abdusalam, die weder ein Straßenschild lesen können, noch den Namen zum Beispiel einer U-Bahn-Station?
Osarobo steht an der Kreuzung, und Richard sieht schon von weitem, dass er nicht die geringste Ahnung hat, aus welcher Richtung Richard kommen wird, um ihn zu holen. Eigentlich steht er da wie ein Blinder, denkt Richard. Ich bin eben nicht klug, sagt Osarobo nach der Begrüßung und klopft sich mit den Knöcheln seiner Finger gegen den Kopf. Die Geste erinnert Richard daran, wie Osarobo damals in dem Café an der schwarzen Haut auf seinem Handrücken gezupft hat. Das hat mit Klugheit nichts zu tun, sagt Richard. Life is crazy. Was statt der Erinnerung an ein paar vorstädtische Straßen in Osarobos Kopf ist, kann er sich inzwischen ungefähr denken.
Die Tonleiter, C-Dur, Übersetzen und Untersetzen der Finger, und dann der Versuch, einen ganz einfachen Bass zu spielen. Erklären, was Noten sind, dass jede Taste eine Entsprechung auf dem Papier hat, und zwischendrin immer wieder hinausgehen und nichts Besonderes machen, die Gelegenheit nutzen, dass jemand, der lebendig ist, durch Erzeugen irgendwelcher Geräusche, in diesem Fall sind es Töne, die Zeit, die im Haus vergeht, in so etwas wie einen Alltag verwandelt. Es gibt heute Kürbissuppe mit Brot, Osarobo isst wieder wenig und trinkt wieder nur Leitungswasser, danach trägt Richard einen zweiten Stuhl ins Wohnzimmer und stellt ihn neben den Schreibtisch, setz dich mal hier hin, sagt er, und setzt sich selbst auch, und zeigt nun dem Jungen auf einem Video, wie zum Beispiel diese eine ganz hervorragende Pianistin Klavier spielt: Osarobo schüttelt staunend den Kopf. Staunt er über Chopin? Oder über die schöne junge Frau, die, noch bevor sie mit dem wilden Stück fertig ist, über das, was sie da anzurichten vermag, selber lächelt? Will er vielleicht auch noch einen anderen Pianisten hören? ja, gern, der zum Spielen nicht einmal die Armbanduhr abnimmt und trotzdem so viel von Schubert versteht, ist das nicht wunderbar? yes, und zum Schluss dann aber unbedingt auch noch den dritten, no problem, der auf seinem niedrigen Schemel den eigenen Fingern beim Spielen zuschaut. Eine ganze Weile sitzen der Alte und der Junge da nebeneinander am Schreibtisch und sehen und hören, wie diese drei Menschen mit schwarzen und weißen Tasten etwas erzählen, das mit der Farbe der Tasten nicht das geringste zu tun hat.
Lange schon hat Richard mit niemandem mehr gemeinsam seine Musik gehört. Lange schon hat sich keiner mehr für diese Aufnahmen interessiert, die ihn begeistern. Und dann sind schon wieder zwei oder drei Stunden um, und Osarobo sagt, ich mach mich vielleicht jetzt auf den Weg, okay, Richard gibt ihm von einem Bügel an der Garderobe die dünne Jacke herunter.
Findest du jetzt allein zu euerm Heim zurück?
No problem.
Richard schaut ihm noch nach, ob er wirklich die richtige Richtung einschlägt, dann geht er wieder zurück in sein Haus. Wie das für so einen Jungen aus Niger wohl sein wird, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben Bachs Pauken und Trompeten hört? Er setzt sich noch einmal an seinen Computer und bestellt für das Weihnachtsoratorium im Dom zwei Karten.
Als Richard am nächsten Tag wieder im Heim erscheint, erfährt er vom Sicherheitsdienst, dass die Windpockenepidemie nun endlich vorbei sei: Den heutigen Tag haben die Männer zum Packen, und morgen geht’s dann wirklich los mit dem Umzug nach Spandau.
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