Nur noch 6 drin, sagt er und schüttelt seine Zigarettenschachtel, bevor er sie in die Manteltasche zurücksteckt. Es scheint die letzte der 3 Schachteln zu sein, die ihm seine Frau pro Woche zuteilt.
Die neuen gibt’s erst am Montag, sagt er.
Die Freunde nicken.
Richard, Thomas, Sylvia und Detlef wohnen alle kaum mehr als zehn Minuten zu Fuß voneinander entfernt, aber sie würden sich trotzdem wahrscheinlich nie treffen, riefe nicht Sylvia, wie heute, Thomas und ihn einfach an.
Wie geht’s denn den Afrikanern? fragt Detlef.
Sie ziehen bald um.
Welche Afrikaner? fragt Thomas und hört nun die Kurzfassung der Geschichten, die Richard neulich den beiden andern erzählt hat. Richard erzählt auch von der Göttin Athene, von Medusa, Antaeus, und schließlich von seiner Verabredung mit Apoll.
Aber Apoll war aus Delos, sagt Thomas, der, obgleich sein Fach Wirtschaftsgeschichte war, immer schon auch alles andere mindestens genauso gut wusste wie Richard.
Jaja, sagt Richard, aber ich meine den Flüchtling. Morgen kommt er und hilft, ich will den Garten winterfest machen, das Ruderboot bringe ich allein nicht mehr aus dem Wasser. Ziehe das Schiff an’s Land und stütz es mit Steinen. /Ringsum, dass der Gewalt feuchtwehender Winde sie wehren. /Nimm auch den Zapfen heraus; sonst bringt es Zeus’ Regen zum Faulen.
«Werke und Tage«, sagt Thomas.
«Werke und Tage«, sagt Richard. Thomas ist der einzige von seinen Freunden, der, so wie er, den alten Hesiod noch immer auswendig hersagen kann.
Wenn mein Rücken mitmachen würde, hätte ich dir geholfen, sagt Detlef.
Ich weiß schon, sagt Richard.
Tuareg ist dieser Apoll? fragt Thomas.
Ja.
Aus Niger?
Ja.
Na, dann halt mal den Geigerzähler an ihn ran, bevor du ihm Guten Tag sagst.
Ich weiß, sagt Richard.
Wieso denn? fragt Sylvia.
In Niger gibt es so viel Uran wie sonst auf der Welt fast nirgends, sagt Richard.
Und während sie an Kiefern und Eichen vorbeigehen, und während der Hund angelaufen kommt, der dem alten Ehepaar, dem er gehört, immer ausreißt, Cognac heißt er, erzählt Richard seinen Freunden Detlef und Sylvia, die wahrscheinlich nicht einmal wissen, wo genau Niger liegt, vom französischen Staatskonzern Areva, der das Monopol für die Minen hält und seinen Müll dorthin kippt, wo die Tuareg bisher ihre Kamelweiden hatten. Und natürlich auch selbst leben, sagt er.
Am Himmel versuchen ein paar Vögel, für ihre Reise nach Afrika fliegend ein Dreieck zu formen. Der Briefkasten bei dem verwilderten Grundstück ist, seit der Besitzer den Bungalow an Studenten aus Berlin vermietet, rosa gestrichen.
Dort, sagt Richard, ist das Trinkwasser inzwischen verseucht, die Kamele sind hin, die Menschen kriegen Krebs, ohne zu wissen, warum — der Strom aber fließt in Frankreich und hier bei uns, in Deutschland.
Hier bei uns, in Deutschland, wiederholt Detlef, und Richard weiß nicht genau, ob Detlef über den Inhalt des Satzes erstaunt ist, oder darüber, dass er, Richard, es so formuliert. Das Land, das Deutschland hieß, war schließlich bis vor einiger Zeit nur auf der andern Seite der Mauer. Naja, sagt Richard, als ob er sich für seine verbale Vereinigung der beiden deutsch sprechenden Länder entschuldigen wollte.
Und übrigens, sagt Thomas, ist der Gewinn dieses Konzerns pro Jahr zehnmal so hoch wie sämtliche Einnahmen des Staates Niger.
Woher weißt du das schon wieder? fragt Richard.
Na, was man so liest, sagt Thomas und schnipst seine Kippe in den märkischen Sand.
Es ist wirklich ganz übel, sagt Richard, die Tuareg haben schon 1990 einen Aufstand gemacht, dann gab’s ein Massaker, dann war wieder Ruhe. Vor ein paar Jahren das Gleiche noch einmal.
Die Vertiefungen in dem Sandweg hat irgendwer mit Bruchstücken von Ziegeln und Fliesen ausgeglichen, sicher um die Stoßdämpfer seines Autos zu schonen.
Und die einzige Regierung, die die Franzosen rausschmeißen wollte, ist ganz schnell weggeputscht worden, sagt Thomas. Von wem auch immer.
Wollen wir umdrehen? fragt Sylvia, so wie sie das immer fragt, wenn sie mit ihrem Spaziergang am Ende der Häuserzeile angelangt sind. Sie gehen dann einen Bogen durch den Wald, in dem es noch immer nach Pilzen riecht, obwohl die wahrscheinlich schon längst verfault sind.
Und auch Al-Quaida, sagt Richard, hat von dem Uran schon gehört. Es scheint nur die Frage zu sein, ob die sich mit den Tuareg gegen die Regierung von Niger verbünden, oder eben gerade nicht.
Das eine schließt das andre wahrscheinlich nicht aus, sagt Detlef.
Ja, sagt Richard, die Wüste ist bestimmt groß genug für mehrere Fronten.
Sylvia sagt, was der Konzern da mache, sei doch eigentlich genau das, was Richard vorhin erzählt habe: Herakles hebt Antaeus von der Erde, und erst dadurch verliert der seine Kraft.
Detlef sagt, hat der FC Nürnberg nicht Trikots, auf denen Areva steht?
Kann sein, sagt Richard und denkt, während sie, weiter miteinander redend, auf dem Rückweg ein zweites Mal an dem Grundstück vorübergehen, wo die Beamtin wohnt, die für jedes kleine Vergehen der Nachbarn gleich mit 2000 Euro Strafe droht, und dann noch einmal an dem Grundstück vorbeigehen, auf dem der Chef vom Anglerverein eine deutsche Fahne gehisst hat, und dann auch wieder an der Badestelle vorbeigehen, die den ganzen Sommer über verwaist war, denkt, während er sieht, wie Sylvia sich bei ihrem Mann Detlef einhakt, und wie Thomas einen Blick in seine Zigarettenschachtel wirft, und die Schachtel dann stirnrunzelnd wieder in die Manteltasche zurücksteckt, ohne sich eine Zigarette zu nehmen, denkt in genau diesem Moment, dass auch diese vier Menschen hier, von denen er einer ist, zu einem Körper gehören. Hand, Knie, Nase, Mund, Füße, Augen, Gehirn, Rippen, Herz oder Zähne. Egal.
Was wird sein, wenn Sylvia, die ihn oder Thomas oder auch ein paar von den Berliner Freunden manchmal einfach so anruft, nicht mehr da ist?
Den ganzen Sommer lag das Boot am Steg, aber wegen des toten Mannes im See hat Richard es kein einziges Mal benutzt. In den letzten Nächten hat es ein paarmal kräftig geregnet, seither ist das Boot voller Wasser, und es fehlt nicht viel, dann würde es sinken. Wie einen betrunkenen Walfisch ziehen die beiden Männer den Kahn zum Ufer hin, damit er Grund hat und sie auf die Ruderbank steigen können zum Schöpfen.
Sag mal, wann genau bist du geboren? fragt Richard.
’91, sagt Apoll.
Richard hat sich das schon gedacht.
Und in welchem Monat?
Am 1. Januar.
Acht Monate nach dem Massaker zur Niederschlagung des Tuareg-Aufstands in Niger, von dem er gestern seinen Freunden erzählt hat. Das denkt er, sagt es aber nicht. Er sagt:
Pünktlich zum Feuerwerk, da hast du Glück.
Das legen die Italiener so fest, wenn es kein Dokument gibt.
Verstehe, sagt Richard.
Dann schöpfen sie eine Weile.
Sag einmal, fängt Richard nach einer Weile wieder an, im Internet hab ich gesehen, dass ihr sehr tiefe Brunnen grabt. Und dann zieht ein Esel die Eimer mit Wasser nach oben, ist das wirklich so?
Ja, sagt Apoll, so lang wie das Seil ist, an dem der Kanister hängt, so weit muss der Esel gehen. Und dann wieder zurück. Jeden Tag führt man ihn so drei, vier Stunden.
Aber das ist ganz schön mühsam.
Das Vieh braucht Wasser.
Warum rollt ihr das Seil nicht auf — mit so einem Gestell und einer Kurbel?
Das hält im Sand nicht.
Dann muss es auch gefährlich sein, diese Brunnen zu graben.
Ja, es wurden schon viele verschüttet.
Auf runden Hölzern, Stücken von einem zersägten Baum, die sie unterlegen, rollen sie nun das Boot über das Gras bis an den Rand der Wiese. Richard hat gestern gelesen, dass durch die enormen Mengen an Wasser, die nötig sind, um das Uran aus dem Stein zu spülen, sich der Grundwasserspiegel rings um die Minen merklich abgesenkt hat.
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