Einzelfallprüfungen soll es doch irgendwann geben, oder? sagt Richard, nachdem Tristan aus dem Zimmer gegangen ist.
Ja, sagt einer von den Betreuern.
Haben sie schon begonnen?
Nein.
Warum eigentlich nicht?
Das wissen wir nicht, sagt der Betreuer.
Und Sie kümmern sich so lange um die Männer, bis ihre Anträge auf Asyl akzeptiert sind?
Es wird ja jetzt erst einmal geklärt, ob sie hier in Deutschland überhaupt einen Antrag auf Asyl stellen dürfen.
Amsel, Drossel, Fink und Star haben den Fehler gemacht, in Italien zwischenzulanden. Richard hätte es beinahe wieder vergessen.
Aber ist es nicht eine Gruppe, die unter denselben Umständen durch den Krieg aus Libyen vertrieben wurde?
Ja, aber jeder ist ursprünglich aus einem anderen Land nach Libyen gekommen.
Aha.
Möchten Sie einen Kaffee? Die Maschine gurgelt schon wieder.
Physikalisch gesehen ist es sicher eine kluge Sache, eine Gruppe in Einzelfälle zu zerlegen, denkt Richard und sagt: Ja, bitte.
Haben die Männer denn inzwischen die zweite Hälfte ihres Geldes bekommen?
Nein, der Umzug hat ja noch nicht stattgefunden.
Und sind Sie von Beruf alle eigentlich Altenpfleger, wenn ich das fragen darf?
Richard nimmt sich Würfelzucker aus einer Packung und gibt Milch in seinen Kaffee.
Nein, wir sind Sozialarbeiter oder Pensionäre vom Fach, wie die Frau Doktor. Wir sind nur für sechs Monate unter Vertrag. Das ist Teil der Vereinbarung vom Oranienplatz. Wir sollen den Flüchtlingen bei ihren Gängen zu den Behörden helfen.
Welche Behörden sind das?
Die Ärztin legt die Kanüle beiseite und kommt zum Kaffeetisch herüber:
Die Ausländerbehörde, das Bezirksamt, das Sozialamt, manchmal ein Arzt, manchmal ein Anwalt.
Bei denen, die sich etwas haben zuschulden kommen lassen?
Nein, bei denen, die sich einen Anwalt leisten können.
Wieviel kostet das denn?
Für Asylangelegenheiten 450 Euro, das wird von den Anwälten oft gestundet, aber dann sind es immer noch pro Monat 50 oder 100.
Richard rechnet: 357 Euro minus 57 für die Monatskarte macht 300, minus 100 an die Mutter in, zum Beispiel, Ghana, macht 200, minus den billigeren Anwalt macht 150. Vielleicht noch eine Prepaid-Karte fürs Handy. Dann bleiben zum Leben pro Tag nicht einmal 5 Euro.
Wie viele Betreuer gibt es denn für die Gruppe?
Zwölf halbe Stellen.
In der Stimme von Apoll hört er: Wir bekommen Geld, aber ich will lieber Arbeit. In der Stimme von Tristan hört er: Poco lavoro. In der Stimme des Klavierspielers hört er: Ja, ich will arbeiten, aber es ist nicht erlaubt. Zumindest zwölf Deutschen also haben die Flüchtlinge durch ihren Protest schon halbe Stellen verschafft, denkt Richard und sagt dann:
Wenn ich noch einmal etwas ganz anderes fragen darf –
Aber ja, sagt die ehemalige Ärztin, streift ihre Gummihandschuhe ab und setzt sich.
Warum zahlen die Männer eigentlich für eine Monatskarte den vollen Preis?
Weil sie keine Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz erhalten.
Weil sie bis jetzt nicht einmal Asylbewerber sein dürfen?
Genau.
Deswegen bekommen sie ja auch 357 Euro — und nicht nur 300, sagt der Betreuer, der für die Kaffeemaschine zuständig ist.
Richard rührt seinen Kaffee um und sagt eine Weile nichts. Aber dann fängt er wieder an:
Haben sie das Geld auch schon auf dem Oranienplatz bekommen?
Nein.
Wovon haben sie da gelebt?
Von Spenden.
Richard fällt wieder der Pappkarton mit der Aufschrift Spenden ein, den er damals auf dem Oranienplatz gesehen hat, und die zwei wartenden Männer dahinter.
Und wenn die Einzelfallprüfung vorbei ist?
Dann wird man sehen, wer einen Anspruch hat und wer nicht.
Verstehe, sagt Richard. Er nimmt einen Schluck von dem Kaffeemaschinenkaffee, der hier genauso schmeckt wie im Wartezimmer eines Steuerberaters oder im Wartebereich eines Autohauses oder im Wartebereich eines Notars.
Meinen Sie, dass er noch einmal wiederkommt? fragt er und zeigt mit dem Kopf in Richtung Tür.
Ich glaube nicht, sagt der Betreuer.
Sind schon viele zum Blutabnehmen hier bei Ihnen gewesen?
Naja.
Mit Blut sind die manchmal komisch, sagt der Dritte, der im Halbschatten unter der Dachschräge sitzt und bisher noch gar nichts gesagt hat.
Auf dem Weg nach unten wirft Richard wieder einen Seitenblick in den leeren Flur des ersten Stockwerks. Es ist niemand zu sehen. Unten beim Ausgang zeigt gerade Apoll, der hinausgehen will, dem Diensthabenden seinen Ausweis. Wsjo w porjadkje . Draußen holt Richard ihn ein: Ob er am Wochenende vielleicht Zeit habe, ihm bei der Gartenarbeit zu helfen. Er würde das natürlich bezahlen. Kein Problem, sagt Apoll auf Deutsch.
Am Mittwoch wird der Klavierspieler wieder zu ihm kommen, das ist schon vereinbart, und bestimmt bald auch wieder Rufu, der Mond von Wismar, um weiter Dante zu lesen. Wie lange ist es eigentlich her, dass der Leiter der Seniorenresidenz zu Richard gesagt hat, es sei womöglich besser, hier im Altersheim, und nicht etwa bei Richard zu Hause, mit den Flüchtlingen zu sprechen? Ich sag’s nur, hat der Leiter damals gesagt. Und was eigentlich damit gemeint? Ich sag’s nur. Mit sechs Wochen Verspätung fängt Richard jetzt, auf dem Heimweg, an, sich darüber zu ärgern. Und noch immer liegt der Tote im See, wenn er sich nicht schon längst aufgelöst hat.
Abends, als Richard zu Bett gehen will und sich auszieht, überlegt er, ob auch er eine Aura besitzt, wie Tristan das heute genannt hat. Das Gelände von seinem Bauchnabel abwärts bis zu seinen knochigen Knien sah schon einmal besser aus, denkt er, als er an seinem Körper hinabblickt. Selbst die Haare, die dort wachsen, sind inzwischen allesamt grau. Ob er mit der jungen Äthiopierin einmal im Bett liegen oder gemeinsam mit ihr unter die Dusche gehen wird — oder einfach nur in einer Umarmung mit ihr irgendwo stehen? Oder jemals noch, mit irgendeiner anderen Frau? Sich vom Wünschen zu verabschieden, ist am Alter wahrscheinlich das, was man am schwersten lernt. Aber wenn man es nicht lernt, scheint ihm, ziehen die Wünsche einen nur umso schneller, wie Wackersteine, ins Grab.
Am Anfang war ein unterschiedsloses Ganzes, das alles enthielt: das Weibliche und das Männliche, den Raum und die Zeit, das Gleiche und das Verschiedene. Dieses Ganze ist durch die Leere hinabgestiegen und hat sich dann in den verschiedenen Gestalten gezeigt. Das Weibliche ist dicht und körperlich, es enthält den Urstoff und war zuerst da, dann ist das Männliche hinzugekommen, es ist von leichterem Wesen und beweglich. Ebenso sind der Raum und die Zeit entstanden. Aber all diese Erscheinungsformen bedingen sich gegenseitig, keine ist der anderen übergeordnet, sie ergänzen sich und bleiben in ihrer Verschiedenheit das eine Ganze, bleiben ein einziger Körper. Genauso sind die einzelnen Menschen in der Gesellschaft Teile einer lebendigen Ganzheit — wie unterschiedliche Organe eines Körpers üben sie in der Gesellschaft unterschiedliche Funktionen aus, sind aber untrennbar miteinander verbunden. Und schließlich gibt es auch einen politischen Körper, der aus den verschiedenen Stämmen zusammengesetzt ist. Die Tuareg sagen: In den sechziger Jahren haben die Franzosen durch die Aufteilung des traditionell von ihnen besiedelten Gebiets auf fünf verschiedene Länder diesen ihren politischen Körper zerschnitten.
Richard liest.
Begonnen hat er mit seiner Lektüre bei Herodot, der die Garamanten, die Vorfahren der Tuareg, schon im fünften Jahrhundert vor Christus beschreibt. Die Kunst, einen Streitwagen zu lenken, hätten die Griechen von den Männern dieses Berbervolkes gelernt, und von deren Frauen die Poesie. Bis heute setzen die älteren Frauen sich vor Sonnenaufgang, noch in der Nacht, unter freiem Himmel hin und singen:
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