Als sie aus dem Laden auf die Straße hinaustraten, hatte Betty ein Gefühl der Freiheit, eine Ferienempfindung, als setze sie ihren Fuß zum ersten Mal in eine fremde Stadt. Wieder gingen sie über den muschelförmigen Platz, der ihr jetzt fremd erschien, geheimnisvoll, als sähe sie ihn durch Toms Augen. Ob er nicht die Tüten im Hotel abstellen wolle, fragte sie ihn. Ja. Sie liefen selbstverständlich nebeneinanderher. Hinter den Gebäuden waren Wolkenschwaden aufgestiegen wie Rauch, die das strenge Himmelsblau lockerten. Über dem Meer hingegen war der Himmel geweißt von gazeartigen Schleiern. Das Licht gemildert. Trotzdem setzte Betty ihre Sonnenbrille auf und verschwand halb dahinter. Tom hätte ihre Hand, die die seine fast berührte, ergreifen können, aber es erschien ihm gar nicht nötig, sie gehörten, dachte er, auch so zusammen.
Betty lachte plötzlich. Sie habe ja Angst gehabt, sagte sie, dass er den ganzen Laden leer kaufe. Diese Verkäufer, sie kämen ihr immer vor wie ein einziger Verkäufer, der überall, in jedem dieser Geschäfte sei, tausendmal vervielfacht. Sie aber sei immer so schwerfällig in diesen Geschäften. Wo er überhaupt wohne, in welchem Hotel, und ob er überhaupt den Weg finde?
«Der Anzug geht gar nicht, oder?«, sagte Tom und blieb stehen.
«Nein«, sagte sie und schüttelte lachend den Kopf,»überhaupt nicht. Und das Hemd auch nicht«, sagte sie.
«Aha«, sagte er.»Dafür habe ich dich ja mitgenommen, damit du mich berätst.«
Sie lachte. Aber das Lachen verschwand langsam von ihrem Gesicht, als Tom auf das Hotel deutete. Wie ein Poster, das sich langsam, Ecke für Ecke, von der Wand löst und dann fällt, so fiel das Lachen von ihrem Gesicht, als sie vor dem hohen Eingangsportal des Hotels Marina stehen blieb.
«Was ist?«, fragte Tom.
«Ich warte hier unten«, sagte sie. Ihr Gesicht hatte sich etwas in die Breite gezogen, zweidimensional und weiß wirkte es, papierartig.
Er wolle sich aber oben noch umziehen, sagte er. So könne er doch nicht durch die Stadt. Die Drehtür des Hotels war leer und hell erleuchtet. Betty sah hinein, bewegte sich aber nicht. Tom fürchtete, Diedrich oder einer der anderen Kollegen, denen er beim Frühstück erfolgreich aus dem Weg gegangen war, könnten herauskommen, also nahm er Betty bei der Hand und zog sie in die rotierende Tür, jetzt aber hielt sie seine Hand fest und zog ihn weiter, eine Runde weiter, und lachend kreisten sie, Hand in Hand, in der Drehtür über mehrere Runden, lachend wie Kinder, bis er sie endlich ins Innere der Halle brachte. Er ließ ihre Hand los, ließ Betty in der Mitte der Halle stehen, während er, um den Schlüssel zu holen, zur Rezeption ging. Als er sich wieder zu ihr umwandte, fürchtete er, sie könnte verschwunden sein, und das Gefühl schien viel länger zu dauern als das Sichumwenden selbst, so als käme es aus einer anderen Dimension, einer, die langsameren Zeitgesetzen unterworfen war. Er wandte sich um und dachte, sie ist weg. Während er dies dachte, sie ist weg, in der Drehbewegung, die ihm unendlich verlangsamt erschien, schloss er die Augen, presste die Lider aufeinander, vielleicht um den Moment der Ungewissheit, der Hoffnung weiter auszudehnen.
Sie war noch da. Sie stand in der Leere der Halle und blickte ihn an mit den riesigen schwarzen Facettenaugen ihrer Sonnenbrille. Und während sie Tom durch die Halle auf sich zukommen sah, schien sich ihre Wahrnehmung tatsächlich zu verändern, ihr Blickwinkel vergrößerte sich facettenaugenhaft, so dass sie fast vollkommen alles zu überblicken meinte, diese Hotelhalle heute, diese Hotelhalle vor einigen Tagen, und Tom nichts war als ein winziges Figürchen auf dieser weiten, durch die Tage reichenden Ebene, in geringerer Auflösung als sonst, in blasseren Farben. Nebeneinander stiegen sie die teppichbespannte Treppe hinauf. Die neapolitanischen Sänger sahen blass und verschwommen von den Wänden auf sie herab, erkannten Betty aber sofort wieder und lächelten ihr zu. Sie überlegte, ob Tom wusste, dass dies italienische Sänger waren. Sie wollte es ihm sagen, aber es ging gerade nicht.
«Renato Carosone«, sagte Tom und blieb vor Fred Buscaglione stehen.
«Ja«, sagte Betty.
Wenigstens nicht dasselbe Zimmer, dachte sie, als er die Tür aufschloss. Das Zimmer war geräumig und voll von Licht und Straßenrauschen, und durch das Fenster fiel das Bild des blauen Himmels herein. Die Vorhänge aufgezogen. Das Bett gemacht. Eng und faltenfrei umschloss das Laken das Bett. Die Möbel standen scharfkantig und aufgeräumt in der Helle des Raums, und obwohl die Luft unbewegt war, schien hier ein frischer kräftiger Wind zu wehen.
«Setz dich.«»Ich warte draußen«, sagten sie gleichzeitig.
Ein frischer Wind wehte. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, und da berührte er kurz ihre Hand, als wolle er sehen, ob sie echt sei. Auf ihrem Gesicht wechselten die Stimmungen wie Licht und Wolken. Er steckte seine Hand tief in die Hosentasche des neuen Anzugs und stand vor ihr da und betrachtete den Teppichboden unter ihren Füßen. Sie stand mit dem Rücken zur Tür.
«Ich zieh mich um«, sagte er.»Setz dich.«
Sie setzte sich nicht, als er ins Bad ging, sondern blieb stehen und blickte von der Tür aus in die aufgeräumte Helle des Zimmers. Dann setzte sie sich doch auf den Rand des Bettes und betrachtete die Tür. Zwischen Fenster und Tür lag ein länglicher Bettvorleger aus Licht. Sie hörte, wie er vom Bad in das Zimmer trat und dann stehen blieb. Sie wusste, dass er die Hände in die Hosentaschen grub und von hinten ihren Umriss betrachtete, während sie weiterhin die Tür anstarrte. Sein Blick lag schwer und warm in ihrem Nacken. Sie fasste mit der Hand dorthin und meinte, seinen Blick in die Handfläche schließen zu können, wie etwas Stoffliches, einen warmen, von der Sonne aufgeheizten Kieselstein, den man in die Tasche steckte. Sie stand auf und drehte sich um. Er trug nun wieder seine alten Kleider. Die ausgebeulte Cordhose und das schwarze Hemd mit hochgeschlagenen Ärmeln. Er hob die Schultern.
«Besser«, sagte sie.»Gehen wir?«
Er nickte, blieb aber stehen.
«Was ist?«, fragte er.
«Nichts«, sagte sie.»Ich weiß auch nicht.«
Er ging um das Bett herum auf sie zu.
«Vielleicht hätte ich dich nicht anrufen sollen.«
«Doch«, sagte er.»Gehen wir«, sagte er. Aber er blieb dicht vor ihr stehen. Er nahm ihre Hände, die neben ihren Hüften herabhingen, und lehnte seine Stirn an ihre. Niemand hätte sagen können, wer damit angefangen hatte, mit dem Küssen, das ein Suchen war. Sie küssten sich das Gesicht, zuerst die Wangen, dann die Lippen. Es war, als suchten sie einander zwischen all den Jahren, die sie ringförmig umschlossen, hindurch, und mit den Händen betasteten sie die Umrisse ihrer Gesichter, und mit den Lippen, den Zähnen, die aneinanderschlugen, während sie versuchten, sich gegenseitig auszuziehen, nicht nur die Kleider, sondern auch die Haut.
Seine Hand war in ihrem Haar, zog ihr den Kopf zurück, die andere lag auf ihrem nach hinten gebogenen Hals, den er küsste, als sie an eine Kommode stießen, auf die er sie hob. Sie umschloss ihn mit den Beinen. Hielt ihn aber mit ausgestreckten Armen auf Abstand, drückte die Finger in seine Kehle, zog ihn dann an sich und umklammerte ihn, riss ihm das Hemd aus dem Gürtel. Sie lachte, als er ihre Hose aufknöpfte und es ihm nicht gelang, sie über ihren Hintern, weil sie auf diesem saß, hinabzuziehen. Er riss daran, riss ihr Hose und Slip herunter, küsste sie zwischen den Beinen, er stöhnte, atmete zwischen ihren Beinen, schob einen Finger in sie, und sie fühlte nichts als diesen Ort, an dem er mit seiner Zunge war und gleichzeitig tief in ihr, und der sich warm über ihren ganzen Körper auszubreiten schien. Sie zog ihn zu sich hinauf, öffnete seinen Gürtel, den Reißverschluss, und schloss ihn zwischen ihre Oberschenkel, Hände an seinem Hintern. Die Blicke hatten sie fest ineinander verschränkt, bis sie gleichzeitig kamen, was bald geschah, nach wenigen Stößen, und dann umarmten sie sich, sein Kopf lag an ihrem Hals, sie hatte Beine und Arme um ihn geschlungen, so hielt sie ihn lange. Bis es unbequem wurde und darüber hinaus, und erst als der ziehende Schmerz in ihren Oberschenkeln unerträglich wurde, lachte sie etwas und schob ihn von sich.
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