Die roten Lichter der Windräder verschwinden in der Nacht, blinken wieder auf, dort und woanders, unterschiedliche Intervalle, ein Blinken und Erlöschen, Aufleuchten und Erlöschen, von dem er kaum den Blicken wenden kann. Er fährt. Sein Diktiergerät flüstert vor ihm auf dem Armaturenbrett, die Stimmen mischen sich mit der leisen Musik eines Lokalsenders, er hört Daten und Tage, Moorgeschichten, Eliot Ness.»Herbstzeitlose«, wie kommt die Stimme seiner Kollegin aufs Band?» Bein anscheinend mit einer Art Knochensäge abgetrennt«, jemand erzählt von gewaltigen Farnen, abgestorbenen Bäumen und Schichten über Schichten, trocken und feucht, er hört das Stöhnen der Dicken, wann bin ich das letzte Mal bei ihr gewesen?; Nehmen Sie sich Urlaub und fahren Sie ans Meer , was soll der Blödsinn, es ist Herbst und die Saison längst vorbei. Kühl geworden auch.»Trollblume«. Eine andere Frauenstimme, die er nicht kennt. Anfang November hat er ein paar Tage Urlaub. Vielleicht fährt er dann endlich mal ins Haff. Und weiter zum Meer, die Oder stromabwärts. Auf zweiundneunzig Komma drei … Hast du dich schonmal gefragt, wer die Papiere Valachi besitzt … Was für Papiere? … Warum er aufsteigen konnte und die besten Immobilien besitzt und vermietet? … Wenn Weihnachten ist … Der Typ läuft schon wieder frei rum, obwohl ich ihn festnageln konnte. Nur dreieinhalb Jahre … Es ist wieder Piemontkirschen-Zeit … Ein rituelles Versenken von Leichen im Moor … Die Outsiders halten dem Alten den Rücken frei … Herbstzeitlose .
Sie sitzen im Wintergarten von Eliot Ness. Es ist dunkel draußen, die Nacht kommt schnell. Als er das letzte Mal bei ihm war, an einem Sonntagnachmittag, schien draußen die Sonne, als wäre noch Sommer, aber das Licht war golden und schwer. Ness raucht. Sie reden eine Weile über Betablocker. Ness’ Frau wohnt seit einigen Jahren in Berlin. Hat wohl das alles nicht mehr ausgehalten. Ness wohnt in einem Mehrfamilienhaus am südlichen Rand der Stadt. Weit weg von dem Moor, wo sie bald schon Fundamente legen werden, der Fundort war kein Tatort, die Investoren wollen vorankommen vorm Winter. Sie trinken Cognac, wie immer, wenn er Ness besucht. Die lichten Momente des ehemaligen Chefs der Abteilung Organisierte Kriminalität werden seltener. So oft hat er ihn gar nicht besucht in den letzten Jahren. Er überlegt. Drei-, viermal. Dafür zweimal in den letzten Wochen. Er muss aufpassen, dass er sich nicht in dem Netz des Eliot Ness verliert. Er hat drei Leichen. Und keine Täter. Sie reden eine Weile über neunzehnhundertneunzig. Und neunundachtzig. Wo sie waren, was sie machten. Was sie wollten. Später. Die großen Seen können nicht weit sein. Wenige Lichter in den Häusern um sie herum. Der Wintergarten ist der einzige Ort in der Wohnung, der frei vom Chaos ist. Obwohl Ness es nicht als Chaos bezeichnen würde. Dieses Netz aus Dokumenten, Zetteln, Zeitungsartikeln, Aktenkopien, Namen und Chiffren, mit Pfeilen verbunden. Mit Notizen übersäht. Der alte Bulle will nicht, dass seine drei Körper dort hineingehören. Aber er weiß, dass zumindest die Justizsekretärin Bärbel Kahn in dieses Netz gehört.
«Sie war dem großen Monopoly auf der Spur.«
«Diese kleine Angestellte? Bist du sicher? Sie hatte doch keinerlei Einfluss.«
«Sie hatte Material. Wer Material hat, hat Einfluss. Ob er will oder nicht. Ist gefährlich und gefährdet. Ob er will oder nicht.«
«Und was wollte sie?«
«Vielleicht wollte sie gar nichts. Vielleicht ist sie nur der Sache auf die Spur gekommen. Hat zu viel gesehen, hat zu viel gehört. Und hat das gesammelt. Vielleicht wollte sie ihr Wissen zu Geld machen. Vielleicht war sie auch einfach nur empört. Über die Sache.«
Er will Eliot Ness wieder einmal fragen, was genau die Sache ist. Aber er weiß, dass dann das Chaos auf den stillen kühlen Wintergarten übergreifen wird. Seit Jahren forscht und gräbt und wühlt Ness nur noch für sich, Akten, Daten, Geld, Namen, Verbindungen, Verschiebungen.
«Noch einen Cognac, Kollege?«
«Aber gerne, Mister Ness.«
Eliot Ness steht auf und geht zu dem altmodischen Bar-Wagen, der an der Glaswand steht. Zwei der großen Fenster sind angekippt, und es scheint ihm, dass er das Rauschen der Bäume draußen hört. Ein Garten mit verschiedenen Bäumen, Apfelbäume, einige schon alt und verkrüppelt, und eine große Kastanie, um die die Apfelbäume wachsen, kreisförmig fast, die Kastanie in der Mitte wie der Mutterbaum. Oder Vater. Als seine Mutter neunzehnhundertneunzig starb, rauchte er noch. Es ist schwer, nicht zu rauchen, wenn die Angehörigen gehen. Ness gibt ihm da recht. Hinter ihnen an der Wand, links und rechts neben der Tür, hängen zwei Bilder unter Glas, Graphiken oder sowas, er kennt sich da nicht so aus. Der alte Bulle hat das Diktiergerät in seiner Jackentasche.»Leg doch ab.«
«Danke. Ich fühl mich besser mit Jacke. «Was für ein blöder Spruch, denkt er.
«Dann lass uns doch in den Wintergarten gehen.«
Und da sitzen sie nun. Das Diktiergerät ist aus. Was soll er auch aufnehmen, sein Gedächtnis ist noch ganz gut.
Ness bringt die beiden Cognac-Schwenker zu den Baststühlen und dem kleinen Tisch. Stellt sie auf die Marmorplatte. Passt irgendwie nicht zusammen das Mobiliar, denkt der alte Bulle.»Warst du bei ihr?«
«Bärbel Kahn? Bei ihrem damaligen Freund. Der weiß nichts.«
«Der sagt nichts. Ich weiß. «Ness setzt sich. Er raucht wieder. Prince of Denmark.»Ohne Zusatzstoffe, reiner Tabak«, wie ihm Ness einmal sagte.
«Schonmal was von den ›Outsiders‹ gehört, Mister Ness?«
«Hm. «Ness nickt. Schwenkt den Cognac im Glas. Fast schon bizarr groß sind diese Cognac-Tulpen, der alte Bulle hat solche riesigen bauchigen Cognac-Schwenker noch nie gesehen.
«Alles im Wandel. Aber auch die werden aus der Stadt verschwinden. Was wird mit den Engeln, musst du dich fragen.«
«Und der Alte?«
«Vom Berge …«Ness lacht.»Wird vielleicht auch verschwinden.«
«Einfach so?«
«Nein. Dafür sitzt er zu lange dort, wo er sitzt. «Auf seiner Schulter leuchtet das blonde Haar der Bärbel Kahn. Gut sieht sie aus für eine Achtundvierzigjährige. Das ist ein gutes Alter, um gut auszusehen.»Ich habe dir doch erzählt, von den Valachi-Papieren. Was denkst du, warum der Mann dort sitzt, wo er sitzt. Über all die Jahre.«
«Immer feste druff?«Der alte Bulle grinst, weil er den Tonfall der Einheimischen imitiert.
«Das auch, mein Freund, das auch. Zumindest zu Anfang. Aber die Silberfäden greift man sich nicht einfach so.«
«Du meinst …«
«Er weiß. Und er hat Material. Du kannst dich doch an diese böse Sache erinnern, dreiundneunzig. Das Haus. Die Wohnung. Im Winter dann flog alles auf.«
«Der Alte hatte damit nichts zu tun, soweit ich weiß. Nein, definitiv hatte er damit nichts zu tun.«
«Richtig, Herr Anwalt. Aber andere. The Princes of Denmark. Nicht königlich zwar, aber weit oben. Und gerngesehene Gäste in diesem dunklen Haus.«
«Und mein Fall …«Er bereut sofort, dass er zu schnell war. Er trinkt einen Schluck Cognac aus dem riesigen Glas, atmet den Duft ein, alt, dunkel und schwer.
«Hat nichts damit zu tun, im Prinzip. «Sie blicken schweigend auf die Fenster, sehen ihre blassen Spiegelbilder, die mit den Schemen der Bäume und des Gartens zu verschmelzen scheinen. Nur eine kleine Stehlampe neben ihnen gibt Licht. VSOP — very superior old pale.
Ness tippt auf die kleine Bronzestatue auf dem Tisch.»Ist ein Puma. Habe ich mal in Amerika gekauft. Ist von einem berühmten Künstler, Bildhauer und Maler, seine Pferde und Cowboys und Tiere sind einzigartig. Selbst im Oval Office steht eine Arbeit von ihm.«
«Jetzt klingst du selbst wie der Alte vom Berge oder die Prinzen mit den Silberfäden …«
«Wenn ich ein Machiavelli wäre, würde ich jetzt nicht hier sitzen. Und Cognac trinken mit dir. Und über die Toten reden.«
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