Jetzt erst sieht er, dass sie nackt ist. Was er für ein Kleid hielt, ist angetrockneter Schlamm. Pflanzenpartikel. Wenn sie schon auf der Gabel des Baggers hing, dann lag sie sicher vorher anders, aber es scheint ihm, dass sie seit Jahren so auf der Seite gelegen hat. Eine Hand, einen Arm auf den Bauch gelegt, unter ihre Brüste, als wollte sie sich schützen, jetzt sieht er etwas auf ihrem Leder-Dekolleté, das ein Loch sein könnte, eine Schusswunde, eine Stichverletzung, aber das müssen andere feststellen, Gerichtsmedizin, er hebt ihren Körper kurz an. Was passiert mit dem Fleisch der Toten, wenn sie einmal in diesen schlammigen Tiefen verschwinden? Später hört er sich die Sätze auf seinem Diktiergerät an. Und hört das Hintergrundgezwitscher der Vögel. Und ist ein wenig durcheinander, weil er später den Vortrag des Moorkundigen aufgenommen hat. Nicht alles, aber immer mal wieder, wenn es ihm interessant schien, drückte er auf die Aufnahmetaste.
Da liegt ein Mann ohne Bein. Festgebunden auf einem kleinen Betonsockel. Das linke Bein ist direkt unterhalb der Hüfte abgetrennt. Die Konservierung hat auch hier bereits eingesetzt. Die Hautfarbe ist stellenweise noch erhalten. Braun, dunkelbraun. Weiß und gelb durchsetzt. Die andere Frau, die weiter weg liegt, sehr dunkel, sehr schwarz. Keine helle Haut. Mehr wie Bitumen. Bei Berührung fühlt sich auch diese Haut sehr weich an und beinahe elastisch. Drücke meinen Finger rein. (…) ja, ist gut, ich schaue, wirf runter, wo denn sonst!
Große Löcher in der Brust dieses Mannes. Eindeutig sichtbar. Einschusslöcher. Sieht großkalibrig aus. Die Kleidung weitflächig zerfetzt, die Einschusslöcher teilweise faustgroß. Beide Körper haben den gleichen Betonsockel untergeschnallt. Sieht aus wie Wäscheleine. Wäscheleinen. Wie das befestigt ist. Direkt unterm Rumpf. Was mir auffällt, ist …, als wenn die Frau, und das ist eindeutig eine jüngere Frau als die andere, als wenn die von ihm wegkriechen will, von dem Mann mit den großen Löchern in der Brust, beide Körper auf dem Rücken, aber sie dreht sich weg oder versucht das. Krümmt sich von ihm weg auf ihrem Sockel. Nicht dass sie noch gelebt hat. Möglich so etwas. Soweit das möglich ist. Vielleicht auch der Bagger. Der die Körper auseinandergebracht hat.
Die nackte Frau wohl vorher und eindeutig separat hier entsorgt. Circa anderthalb Meter liegt Paar von Frau entfernt. Zufall möglicherweise. Nein. Zusammenhänge immer möglich. Der Ort. Kein Zufall. Unmöglich. Die Nackte hat rote, als rot erkennbare, hochhackige Schuhe an den Füßen, an ihren Füßen. Bei der anderen Kleider, aber keine Schuhe. Barfuß. (…) Ja, ja, ist gut, lasst mir meine Zeit, Kollegen. Ich brauch Akten, über alle verschwundenen jungen Frauen der letzten zwanzig Jahre. (Lachen) Das sieht aus wie ein glatter Schnitt. Sucht nach dem Bein, Kollegen, sucht nach dem Bein, bitte.
Die Gerichtsmedizin sagt, dass das ein Schnitt ähnlich wie beim Schlachten wäre. Beim Zerteilen eines Rindes beispielsweise. Sauber, sauber. Tag drei.
Die im Moor vorhandenen Torfmoose bewirken, dass Moore ein stark saures Milieu besitzen.
Das Torfmoos ist maßgeblich für diese extremen Lebensbedingungen in den Hochmooren verantwortlich. Auch im Niedermoor.
Fuck you, geh heeme. Ich höre mein Band ab. Wieder und wieder. Ich habe Stunden auf dem Gerät. Kein Band. Wenn ich weit zurückspule, bin ich in Köln. Bin ich bei der Frau, wo ich oft bin. Meist wird der Körper zufällig gefunden. Bald ist wieder Sommer. Wieder Herbst.
Es gibt eine Spur zu der Frau. Der Frau ohne Kleider. Sie wurde erwürgt und erstochen. Ihr Freund, also ihr Ex-Freund, hat sie identifiziert. Moormoose sei Dank! Justizsekretärin Bärbel Kahn. Verschwunden neunzehnhundertsiebenundneunzig. Ihr Auto voller Blutspuren, blutverschmiert die Vordersitze, fanden wir damals vor einem Baumarkt, drüben im Süden der Stadt. In der Nähe der großen Seen. Die damals noch halbgeflutete Tagebaugruben waren. Wieso wurde sie nicht dort abgelegt? Nur ihre Fingerabdrücke im Auto. Ihre Finger sind in einem so guten Zustand, dass wir vergleichen konnten. Nicht hundertprozentig. Aber es sind mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Finger der Justizsekretärin Bärbel Kahn.
Riesige Sümpfe, tiefe Moore, undurchdringlicher Urwald, gigantische Bäume, die mehr als hundert Meter in den Himmel wuchsen. Dazwischen haushohe Farne, Halme, Gewächse und Sträucher …
Was hat dieser Mist mit der Spezifik von Moorleichen zu tun? Aber der Mann, der Experte, ging zurück bis zum Anfang. Holte weit aus. Gewaltige Moore, verrottete Wälder in den Schichten unter uns. Überstunden. Vorträge. Gerichtsmedizin. Akten. Papiere. Daten und Fleisch.
Dieses Moor ist wie der Wal aus dem alten Märchen, der die drei Menschlein wieder ausspuckt. Blödsinn. (Lachen) Ich muss Eliot Ness besuchen, den sie kaltgestellt haben. Informationen. Sie wollen den Fall Bärbel Kahn in die Beziehungsecke abschieben. Tat aus Eifersucht. Aber wer? Ihr Ex-Freund. Ganz bestimmt nicht. Er sagte, dass sie an was dran war. Dass sie an irgendeiner großen Sache dran war. Immobilien. Alte Geschichten inzwischen. Hast zu lange geschlafen im dunklen Moor, Justizsekretärin Bärbel Kahn. Neunzehnhundertsiebenundneunzig. Ein anderes Jahrtausend.
Der Mann ist identifiziert. Kleine miese Nummer. Drogen. Drogenstrich. War vor vielen Jahren mal Hauptverdächtiger in der Mordsache Professor. Endete aber mit Freispruch. War nicht besonders beliebt. Hing wohl auch im Objekt Kolumbusfalter mit drin. Am Rande. Nie nachgewiesen. Als die Bosse des Fleischmarkts sich sauber gaben, sich die Hände säuberten, als der große Frieden begann, der Geschäftsfrieden, war er schnell weg vom Fenster. Ich denke, dass er mit seinen kleinen Drecksgeschäften jemanden verärgert hat. Das große Kaliber sieht nach verdammt viel Wut aus. Wer tötet mit einem tschechoslowakisch-englischen Maschinengewehr? Eine Hinrichtung. Ein Rätsel. Das Mädchen starb an Herzversagen. Medikamente. Drogen. Die muss drinnen so schwarz ausgesehen haben wie draußen. Hat sie auch. Es wird schwierig sein, in diesem ganzen Chaos, das zurzeit herrscht, die Täter zu finden. Den Täter. Ich gehe immer noch davon aus, dass es verschiedene Täter sind. Nicht nur auf Grund der Jahre, die dazwischenliegen. Eliot Ness meint, der Mann mit der zerfetzten Brust wusste zu viel. Genau wie Bärbel. Aber das sagt Eliot Ness, seit ich ihn kenne. Geheimnisse. Zu viel Wissen. Irgendjemand wird irgendjemandem gefährlich. Durch Wissen. Durch zu viel Wissen. Schmutzwäsche der Vergangenheit. Geheimnisse. Belastendes. Materialien. Der hält sich nur da oben , weil … Der ist nur verschwunden, weil … Wir sind nicht in Hollywood, sage ich immer zu Eliot Ness. Aber er schweigt und bohrt sich weiter in die letzten beiden Jahrzehnte. Obwohl sie ihn kaltgestellt haben.
Die Kleine im Moor war mit Sicherheit eine Hure, wenn auch in einer ganz anderen Branche als seine dicke Hure, in einem ganz anderen Umfeld, Gift und Bordstein, gar nicht zu vergleichen mit seiner Dicken und ihrem gemütlichen Warten im Warmen, sie haben immer noch nicht ihre Identität feststellen können, keine Fingerabdrücke, keine Vorstrafen, keine Akte, die zu ihr passt, keine Vermisste der letzten Jahre, die ihr ähnelt, sie kann von außerhalb sein, Hepatitis C, unschöne Sache, er war auch um den Bahnhof herumgefahren, den Zentralbahnhof, der im Herbstlicht in anderen, weicheren Farben leuchtet, wie das Laub der Bäume, Ocker, Rot und Braun, aber in den Nächten, wenn es auf den Winter zugeht, wenn der Atem schon anfängt zu dampfen, wird der Monolith schwarz. Von oben gesehen ein silbernes Aderwerk, das zum dunklen Klumpen des Herzens führt. Ob das Mädchen hier arbeitete? Arbeiten ist vielleicht das falsche Wort. Sein fideles Dickerchen, seine Lieblingshure, die arbeitet. Vernünftig. Geschützt. Zumindest halbwegs. Versichert. Gemeldet. Hygienisch. So denkt er sich das, während er, die Augen halbgeschlossen, sich mit seinem Wagen durch die Straßen treiben lässt. Aber was weiß ich schon von ihr, denkt er. Er versteht ja nicht einmal, warum er bei ihr bleibt. Als stetiger Gast. Er ist bei vielen gewesen in den Jahren, Jahrzehnten, hat den Wandel der Sitten und Gebräuche als Gast erlebt, hat hier in der Stadt den Wandel erlebt, hat versucht, darauf zu achten, dass …, auf was eigentlich? Dass er nur dort ist, wo die Hygiene ist, wo die Schatten nicht zu sehen sind? Fahren durchs Rot, Grün, Gelb. Das Blinken der Phasen. Der Winkel des einfallenden Lichts fast waagerecht inzwischen. Wie es sich rot und rötlich färbt ganz langsam.
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