«Und den Mann mit dem Bren.«
«Und den Mann mit dem Bren, meinetwegen. Ja, vielleicht. Erinnerst du dich an den Steinmann, Mister Lübbke, den Verwalter der Häuser und Grundstücke.«
«Der Hauptabteilungsleiter für Immobilien- und Eigentumserklärung? Natürlich. War ich mit dran an dem Fall. Frau Kahn, ja. So weit waren wir schon.«
«Frau Kahn, natürlich. So weit waren wir schon. Sie wissen es doch alles selbst.«
«Wenn ich alles wüsste, wäre ich nicht hier.«
«Gemach, gemach. Trinken Sie noch einen mit, Herr Kollege?«
«Aber sehr gerne, Mister Ness.«
BUMM BUMM. Der letzte Blick. Der Steinmann. Auf den sie viermal geschossen haben. Lübbke, Schnauze! Der trotzdem immer noch lebt. Weit weg jetzt. Und ganz woanders. Die Abteilung OK hat damals den Fall übernommen. Andere waren noch mit drin. Die A, die Ämter. BKA. LKA. Lange her.»Und wer hat damals weggeschaut? Wer hat gewusst, dass die Schüsse fallen, und die anderen machen lassen, AK und die anderen …«Das Netz legt sich über ihn. Er weiß, dass sein Körper noch schläft. Apnoe. Hat er öfters. Er hört, wie er immer wieder nach Atem ringt. Der Silberfaden zwischen den Immobilien und denen, die investieren. Die Immobilien wollen. Denen der Hauptabteilungsleiter im Weg steht. Präteritum. Lange her. Eliot Ness hat recht. Es gibt keinen Täter. Die Geschäfte haben sich selbständig gemacht. Er will nichts davon wissen. Jetzt nicht mehr. Die Valachi-Papiere. Was für ein Scheiß. Legenden und Märchen.»Natürlich gibt es den Mann mit dem Dolch, den Mann mit der Pistole …«Ja, aber wo, verdammt nochmal, ist er? Die Steinmann-Killer haben sie erwischt. War auch sein Fall damals. Jeder wusste, dass da mehr dahinter war als diese vier kleinen Negerlein, die vielleicht nur Warnschüsse abgeben sollten, vielleicht ins Bein, vielleicht aber auch in den Kopf. Gewarnt werden immer auch andere. Sie schwiegen. Auch eine tschechische Waffe. Nur paar Kaliber kleiner. Die Crystal-Grenze. Er will, dass das alles Zufall ist, und schlafen, schlafen … Wo immer er auch ist, wo immer er auch liegt. Schlafen, bis das alles vorbei ist.
Alle drei müssen sie zu tief dort hineingeschaut haben. So wie Eliot Ness, den sie kaltgestellt haben. Und seine kleine Truppe liegt in den schmalen metallenen Kühlschränken der Rechtsmedizin. Frau Kahn damals, die beiden vor nicht allzu langer Zeit. Also was sie dahin gebracht hat. Bei den beiden ist er sich nicht sicher. Dieses Todespaar, an die Betonsockel geschnallt, sie, von ihm wegkriechend. Selbst im dunklen Moor noch. Die Einzige, von der sie nichts wissen. Sie haben ein Bild angefertigt von ihr, basierend auf den Fragmenten ihres Gesichts. Und es überall verteilt. Hinterm Bahnhof, bei den vergifteten jungen Huren des Straßenstrichs. Spieglein, Spieglein an der Wand … Es kann auch sein, dass man ihr die Gifte vorsätzlich verabreicht hat. Alles kann sein. Ihr Bild hängt an seinem Kühlschrank. Kurzes dunkles Haar. Schmale Oberlippe, volle Unterlippe. Was schmollst du mir, Mädchen?
Der Mann schien froh, als Bärbel jetzt wieder auftauchte. Nach so vielen Jahren.»Ich hab gewusst, dass sie tot ist. «Papiere fanden sie nicht, finden sie nicht. Keine Hinweise auf ihre angeblichen Entdeckungen, Ermittlungen im Monopoly der Immobilien. Er schreckt hoch, ringt nach Luft. Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Ein Bett. Sein Bett? Er riecht die Frische der Laken und Bezüge. Jemand liegt neben ihm. Er tastet und fühlt, Haut wie Leder, glatt und rau, und als er sich umdreht, liegt das Moormädchen neben ihm und lächelt ihn an mit einem schiefen Spalt in ihrem braunen, faltigen Gesicht.
Ihr letzter Blick: Das Zimmer, in dem sie mit ihm wohnte. Klein, schmutzig. Nein, eigentlich nicht allzu schmutzig. Ein Bett, ein Tisch. Flaschen auf dem Tisch, spärliches Licht durch die Gardinen vorm Fenster. Draußen, nicht weit, der Zentralbahnhof, den sieht sie nicht. Sie spürt, dass sie stirbt, hört Schritte auf der Treppe, blickt auf die zwei Flaschen auf dem Tisch, das Licht bricht sich in ihnen, es sind diese Lichtvorgänge, die sie fesseln, während sie langsam verdämmert. Ob das die Sonne ist oder eine Straßenlaterne oder die Scheinwerfer eines Autos oder eine Leuchtreklame. Sie hat sich auf den Boden gesetzt, an die Wand gelehnt, vor einigen Stunden. Sie hat einige Tabletten genommen und alles, was sonst noch da war. Sie ist seit Wochen drauf, und jetzt will ihr Herz nicht mehr. Ihr letzter Blick. Dieses Gefunkel auf den Flaschen am Fenster, das in Wirklichkeit weit weniger spektakulär war.
Das Bild auf den Häuten des Augapfels.
Der Totendoktor lässt ihn wieder mal allein. Das ist ihr Deal. Dafür fährt er ihn an manchen Wochenenden in die Berge, Richtung Kristall-Grenze, wo der Totendoktor ein Wochenendgrundstück hat, eine Datscha, wie sie hier sagen. Der Doktor hat keinen Führerschein mehr, seit Jahren, aber sie sagen, dass er trocken ist. Manchmal ist der alte Bulle stundenlang bei seinen Toten. Diesmal allerdings nicht, er hat schon sehr viel Zeit bei ihnen im Moor verbracht. Zu viel. Sie sind auch nur noch zu zweit. Justizsekretärin Bärbel Kahn ist schon seit einigen Tagen unter der Erde. Beziehungsweise zurück in ihr. Er war auf ihrer Beerdigung. Ihre Mutter war da. Ihr damaliger Lebensgefährte mit seiner Frau. Ihr Sohn aus einer frühen Ehe. Sonst nur Friedhofsangestellte. Und der alte Bulle stand im Hintergrund, wollte sich nicht zu der kleinen Gruppe stellen, zu denen, die gekommen waren. Man war wohl eher erschrocken, dass sie wieder auftauchte, dachte er sich. Über zehn Jahre verschwunden, man versucht, das irgendwann und irgendwie zu vergessen, und dann, plötzlich, wühlen sie vor der Stadt, am Rand der Stadt, zwischen den Städten, im Boden, im Moor, legen trocken, um zu bauen, was für eine Ironie, wo sie doch laut Ness den faulen Immobiliengeschäften auf die Spur gekommen sein muss, damals, und dann, Jahre der Ruhe, Jahre, in denen das Suchen und Fragen sich langsam in ein Vergessen wandelte: Hallo! Ich bin wieder da. War nie richtig weg, hab mich nur versteckt . Jetzt wissen sie wenigstens, dass sie tot ist. Keine unnötigen Träumereien mehr. Er geht zwischen Reihen der Grabsteine hindurch, auf diesen kleinen Wegen, die ihn wieder zum Hauptweg bringen sollen, zumindest zu einem der Hauptwege, er blickt über Hunderte, Tausende Gräber und Steine hinweg, wie eine Miniaturstadt, denkt er. Bäume dazwischen, Bänke dazwischen, weite und schmale Wege dazwischen, er verliert die Orientierung. Er kann sich nicht erinnern, schon einmal auf diesem riesigen Friedhof gewesen zu sein. Er dreht sich um und erkennt Eliot Ness, der am Rand steht, aber direkt neben der Gruppe der Angehörigen und Offiziellen, und zusieht, wie sie den kleinen Sarg hinablassen. Ihre Mutter wollte nicht, dass sie verbrannt wird. Er überlegt kurz, ob er noch einmal zurückgehen soll. Er hatte ja auch nicht vorgehabt zu verschwinden, bevor sie verschwindet. Er hatte sogar einen kleinen Blumenstrauß mitgebracht, den er dann aber auf ein anderes Grab legte auf seinem Weg, als er die kleine Prozession schon erkennen konnte aus der Ferne. War ein vertrocknetes, verwildertes Grab, das ein paar Blumen nötig hatte, den Namen sah er nur aus den Augenwinkeln.
Was will Ness hier? denkt er. Abschied nehmen von den großen Fällen? Weil es keine Lösungen mehr gibt? Weil die Silberfäden bis ganz nach oben führen, wo immer das auch sein mag. Unten. Oben. Eliot Ness redete immer weiter, immer mehr Namen, Daten, Vorgänge und Nummern und Zahlen drangen aus seinem sich pausenlos öffnenden und schließenden Mund zu ihm, legten sich wie ein Netz um ihn, um sie beide, um alles, denn es ging um alles, wie Eliot Ness immer wieder sagte, die Welt, die Kartelle, die Krisen, oh nein, keine Krisen, ein Krieg, seit über zwanzig Jahren. In dem sich alles ineinanderschiebt, die Legierungen der Macht und des Geldes.
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