«Vergiss die Bar und schau auf die Freiräume, die sie mir lässt. Wer außer mir ist acht Monate im Jahr ohne Verpflichtungen und verdient trotzdem gutes Geld?«Bernhard nahm einen Schluck und schien nicht zu wissen, ob er selbstgefällig oder trotzig klingen wollte.»Außerdem bin ich nicht aus Bonn abgehauen, weil ich unbedingt eine Bar betreiben wollte, sondern weil ich die Nase voll hatte von der ständigen Nörgelei. Im gemachten Nest sitzen und daran herummäkeln. Selbst wenn man damit im Recht ist — wer keine Drittmittelanträge mehr stellen und sich keiner geistlosen Evaluation unterziehen will, muss gehen. Voilà, ich bin gegangen.«
«Hast du noch Kontakt zu Julia?«
«Ab und zu kriege ich eine SMS. Einmal ist sie nach Bordeaux geflogen und mit dem Mietwagen hier heruntergebrettert, um mir ins Gewissen zu reden. Dass es mir nicht um die Steigerung meines Marktwerts geht, war ihr schwer zu vermitteln. Sie hält mich für romantisch. «Eine Einschätzung, die er laut lachend zurückwies. Hartmut dachte an ihre gemeinsamen Abende am Rhein, die entspannte Kumpanei unter Männern, für die er seitdem keinen Ersatz gefunden hatte.
«Seit drei Jahren«, sagte er,»hab ich mit keinem Kollegen ein Glas Wein getrunken. Mit welchem auch? Ich glaube, das fehlt mir mehr als die verloren gegangene Freiheit an unseren Lehranstalten.«
«Weißt du, was wir machen?«Bernhard griff nach der Flasche und schenkte nach.»Wir fahren übers Wochenende in mein Haus. Vielleicht hat Géraldine Zeit. Wir setzen uns auf die Terrasse und trinken Wein. Was meinst du? Wir könnten morgen losfahren.«
«Wenn du’s einrichten kannst. Géraldine ist…?«
«Meine Freundin. Seit letztem Jahr erst. Im Sommer sehen wir uns selten, weil sie in Mont-de-Marsan wohnt und ich meistens hier bin. Worüber lachst du?«
«Nichts. Hab mir schon gedacht, dass deine Zufriedenheit noch andere Gründe haben muss als das Geld, das du hier verdienst. «Hartmut nahm sein Glas und hielt den Zeitpunkt für gekommen, endlich über das zu sprechen, was ihn selbst aus Bonn fortgetrieben hatte.»Übrigens denke ich ebenfalls über einen Ausstieg aus der Uni nach. Ähnlich wie du, auch wenn ich keine Bar aufmachen werde. Ein Berliner Verlag hat mir ein Angebot gemacht. In gewissem Sinn ist das der Anlass meiner Reise.«
Das schrille Geräusch einer Trillerpfeife ruft ihn zurück in die Gegenwart. Eine Weile hat er sich dem Wasser und seinen Gedanken überlassen, jetzt blickt er auf und erschrickt über die Entfernung zum Strand. Gelblich hell und endlos weit erstreckt sich die Küste in beide Richtungen, davor hat sich ein breiter Wasserstreifen geschoben. Die Silhouetten der fernen Häuser sehen fremd aus. Ob der Pfiff ihm gegolten hat, weiß er nicht, möglicherweise ist er abgetrieben in das für Surfer abgesperrte Revier. Mit vollem Krafteinsatz beginnt Hartmut zu kraulen. Die Wellen heben ihn hoch, aber statt ihn mitzunehmen, rollen sie davon und lassen ihn schwer atmend zurück. Der Strand ist zu weit weg, um zu erkennen, ob dort jemand steht und nach ihm schaut.
Von einem Moment auf den anderen überfällt ihn Panik. Seine Bewegungen werden hastig. Er muss sich zwingen, nicht nach jedem Zug aufzublicken, um die Distanz zu schätzen, und verflucht die Arglosigkeit, mit der er sich hat treiben lassen. Erschöpfung lähmt seine Glieder, und sein Herzschlag wird zu einem schnellen Wummern. Bilder von Booten der Küstenwache schießen ihm durch den Kopf, nur eine leise Stimme versichert ihm, dass er nicht ernsthaft in Gefahr ist. Es dauert, bis sie sich Gehör verschafft und das Übertriebene seiner Angst ihm bewusst wird. Immer noch ist der Strand weit weg, aber die Entfernung schmilzt. Wenn Hartmut innehält, bevor eine Welle ihn erreicht, verleiht sie ihm zusätzlichen Schwung.
Etwa zweihundert Meter unterhalb der Stelle, wo er ins Wasser gegangen ist, watet er durch die knietiefe Brandung zurück an Land. Ausgepumpt, halb euphorisiert und halb beschämt von seinem Abenteuer. Über dem Hinterland steht die Sonne, als wollte sie sich durch den Himmel brennen. Er findet sein Handtuch und setzt die Brille wieder auf. Sofort verliert die Welt ihre bedrohliche Unschärfe, das Meer rauscht und rollt, als wäre nichts geschehen. Ein einzelnes Frachtschiff gleitet über den Horizont. Vergebens hält Hartmut Ausschau nach einer Person mit Trillerpfeife. Vielleicht war es ein Hundehalter beim morgendlichen Spaziergang.
Er setzt sich in den Sand, streckt die Beine aus und betrachtet die blau mäandernden Adern an den Fußgelenken. Angenehm kühl laufen Wassertropfen über seine Haut. Kurz darauf taucht die erste Familie am Strand auf. Vater und Mutter mit Tochter und Sohn, alle vier ausgestattet mit schützender Kopfbedeckung und bepackt wie eine Karawane reisender Händler. Mit ihren aufgeblasenen Schwimmtieren um den Körper sehen die Kinder aus wie Nachfahren des Minotaurus. Vermutlich Deutsche, wer sonst beginnt seinen Urlaubstag schon um kurz vor neun? Als wäre die Ankunft weiterer Badegäste ein Signal für sie, beginnen die Angler, ihre Sachen zusammenzupacken.
Einen Steinwurf von Hartmut entfernt bleiben die vier stehen, um über den besten Lagerplatz zu beraten. Kinderfinger weisen hierhin und dorthin. Der Anblick erfüllt ihn mit Wehmut: die Nähe, das Zusammenspiel von großen und kleinen Körpern. Mit geschlossenen Augen streckt er sich im Sand aus und sieht seine vierjährige Tochter über den Praia da Falésia rennen. Noch nicht das schlaksige Schulkind späterer Jahre, sondern liebenswert pummelig in ihrem türkisen Badeanzug. Die Taucherbrille ist verrutscht, nasse Haare kleben am Kopf, so kommt sie in seine Arme gelaufen mit dringenden Mitteilungen: was Delphine über Haie denken und dass sie einen Krebs gesehen hat. Maria liegt daneben und gibt vor, in ihrem Buch zu lesen. Theatertheorie, viel zu schwierige Lektüre für den Strand. Mit der Fingerspitze entfernt sie ein Stück Seetang von Philippas Wade, bevor sie gemächlich umblättert.
Ferne Rufe. Warmer Sand. Das Geschrei von Möwen und dahinter das Meer, so beständig rauschend, dass man es beinahe nicht hört.
Als er die Augen wieder öffnet, hat die Familie sich eingerichtet unter einem roten Sonnenschirm. Die Eltern werden träge, die Kinder reiten auf Schwimmtieren davon Richtung Wasser. Vater und Mutter reden miteinander; bestimmt sagt sie einen Satz, der mit ›Ich hab letzte Nacht‹ beginnt, denn sofort nickt er einsichtig und setzt sich auf, legt die Zeitung beiseite für später. Genau so war es, denkt Hartmut. Jahr für Jahr. Sommer für Sommer. Am Abend sind sie zum Strand zurückgekehrt, weil Philippa Muscheln sammeln wollte. Maria und er schlenderten hinterdrein, Arm in Arm und in der freien Hand ein Eimerchen. Am Ende jedes Urlaubs mussten sie ihrer Tochter erklären, warum sie von tausend Muscheln nur zwei Hände voll mit ins Flugzeug nehmen konnte.
Am liebsten würde er zu den Eltern hingehen und sagen: Besser wird’s nicht mehr. Genießt jede Minute.
Die Sonne steigt höher, und der feinkörnige Sand beginnt Hitze zu speichern. Bernhard hat angekündigt, ihn um ein Uhr im Hotel abzuholen. Der gemeinsame Abend gestern endete, als der Betrieb in der Bar zunahm und der Chef drinnen aushelfen musste. Eine Weile saß Hartmut noch an der Theke, versuchte zu ignorieren, dass er der älteste Gast war, und zu ergründen, warum Bernhards zurückhaltende Reaktion auf seine Berlin-Pläne ihn stärker ernüchtert hatte, als er im ersten Moment glauben wollte. Gegen Mitternacht übernahm im hinteren Teil der Bar ein Diskjockey das Kommando. Mechanisch stupide Rhythmen dröhnten durch den Raum. Als an der Theke das nächste Sonderangebot ausgerufen wurde — fünfzehn Minuten lang kostete jeder Tequila-Shot einen Euro — beschloss Hartmut aufzubrechen. Auf der Promenade herrschte derselbe Betrieb wie um sieben Uhr, oben auf der Düne saßen Jugendliche im Kreis und sangen. Über den Strand huschten Schatten, meistens paarweise. Alleine stand Hartmut dort, wo jetzt der junge Vater steht und auf einmal älter aussieht mit seinen nach vorne gezogenen Schultern und dem leichten Bauchansatz. Alles vergeht wie im Zeitraffer. Ein Dutzend Kinder toben in der Brandung, und auf dem Hochsitz der Strandaufsicht wachen zwei sonnenbebrillte Rettungsschwimmer über das Geschehen. Vom bleichen Mond gerufen, arbeitet das Meer sich den Strand hinauf. Über die Düne kommen neue Badegäste, Familien, Paare, Einzelgänger. Sein knurrender Magen erinnert Hartmut daran, dass er noch nicht gefrühstückt hat. Im Aufstehen streift er sich das Hemd über den Kopf und geht zurück zum Hotel.
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