Erst als das Bier vor ihm steht, fällt ihm auf, wie groß sein Durst ist.
Braun gebrannte junge Frauen haben sich Tücher um die Hüften geschlungen, die Männer tragen offene Hemden über weiten Boxershorts. In Grüppchen und mit Gläsern in der Hand stehen sie vor einer schmalen Theke. Was Hartmut bekannt vorkommt, ist nicht der Ort, sondern die wohltuende Mattigkeit der Ankunft. In Rapa geht er immer als Erstes hinüber in die alte Dorfhälfte, um im Café von Marias Tante ein kühles Sagres zu trinken. Auf dem rückwärtigen Balkon, mit Blick über die karge Landschaft der Serra da Estrela. Da er in Bonn nur selten Bier trinkt, versetzt ihn der Geschmack in seinem Mund augenblicklich in Ferienstimmung. Er ist im Süden. Der Strom der Badegäste und Flaneure wird stetig dichter. Drinnen singt Bob Marley I Shot the Sheriff .
Das gehört zu den Dingen, über die zwischen Bernhard und ihm Einigkeit herrschte: Allen südwärts gerichteten Sehnsüchten soll man nachgeben, sooft es geht. Bernhards Vater war Richter in der Nähe von München, er selbst spielt Geige und malt. Nach Bonn hatte man ihn seinerzeit berufen, weil die neuere französische Philosophie im Lehrplan zwar vorkommen, sich darin aber nicht zu sehr ausbreiten sollte. Der Poststrukturalismus sei der Epilog einer Verirrung, lautete Herweghs keineswegs isolierte Meinung, eine ephemere Erscheinung, für die eine Juniorprofessur völlig ausreichte. Fünf Jahre, bis die nächste Mode kommt. Dass Bernhard Tauschner ein humanistisches Gymnasium besucht hatte, die alten Sprachen konnte und Derrida trotzdem ernst nahm, machte ihn umso verdächtiger. Ein höflicher junger Mann, gut gekleidet und breit gebildet, der in den grauen Eminenzen des Instituts Nachtwächter sah, die sich als Chefs aufspielten.
«Verrückt. Heute Morgen hab ich an dich gedacht.«
Als Hartmut aufschaut, steht Bernhard neben seinem Tisch. Die Sonnenbrille hat er abgenommen und muss blinzeln gegen die Helligkeit. Sein Gesicht ist noch schmaler geworden, durch die kurzen braunen Haaren laufen silbergraue Strähnen. Obwohl er die Arme waagrecht in der Luft hält, sieht er weniger überrascht aus, als Hartmut gehofft hat. Eher still amüsiert. Seinerseits überrumpelt steht Hartmut auf und weiß nicht, wie er den anderen begrüßen soll.
«Du hast geschrieben: jederzeit«, sagt er und spürt das schiefe Grinsen, mit dem er versucht, seine aufkommenden Emotionen zu überspielen.»Also dachte ich mir, ich komme vorbei auf ein Getränk. Schön, dich zu sehen.«
Sie schütteln einander die Hand, lachen verlegen und machen aus dem Handschlag eine ungelenke Umarmung. Anders als seine Gäste trägt Bernhard keine Strandkleidung, sondern ein weißes Hemd zur beigen Leinenhose und dunkle Mokassins. Es fühlt sich merkwürdig an, das Rasierwasser eines alten Bekannten wiederzuerkennen.
«Das ist wirklich eine Überraschung«, sagt Bernhard, als sie einander wie vorher gegenüberstehen.»Ich hab an dich gedacht, weil ich mit jemandem über einen Film gesprochen habe. Da fiel mir ein, du hattest mir davon erzählt. Wilde Erdbeeren . Ich hab ihn immer noch nicht gesehen.«
«Nicht der beste, aber ein typischer Bergman-Film. Ingrid Thulin ist zauberhaft.«
«Irgendwann werde ich ihn mir ansehen. «Im Platznehmen gibt Bernhard der Bedienung ein Zeichen, stützt die Hände auf den Tisch und sieht Hartmut fragend an.»Und du — bist gerade angekommen, oder schon gestern? Mit dem Auto?«
«Ja, aus Paris.«
«Aus dem grauen Paris. Alleine?«
Nickend hebt Hartmut die Hände.
«Vor zehn Minuten eingetroffen. Die Adresse hab ich mir im Internet besorgt. Heute Morgen im Hotel, alles ganz spontan.«
«Bist du auf der Durchreise nach Portugal?«
«Mal sehen, vielleicht. In erster Linie bin ich deinetwegen gekommen. Wollte mir dein Weinlokal anschauen.«
Bernhard macht eine kreisende Kopfbewegung, der Hartmut entnimmt, dass er lieber nicht sofort darauf angesprochen worden wäre. Seine blauen Augen haben etwas Durchdringendes, das manche Studenten einschüchternd fanden. Als wollte er alles von einem wissen, hat Maria einmal gesagt. In der Tat fragt Bernhard gern und viel und behauptet selbst, es sei ein inneres Unbehagen, das er dadurch abzuschütteln versuche. Besonders Fremden gegenüber.
«Hat früher einem Studienfreund gehört«, sagt er jetzt,»der es loswerden wollte. Ein Weinlokal hätte es werden sollen, und ich hab ein paar gute Flaschen im Angebot. Leben könnte ich davon nicht.«
Die Bedienung bringt ein zweites Bier. Sie stoßen an und trinken, danach fasst Bernhard die letzten drei Jahre in wenigen Sätzen zusammen: Übernahme des Lokals mit dem Ziel, den anspruchsvolleren Urlaubsgästen eine feste Adresse zu bieten; die schnell reifende Einsicht, dass die Zahl der Kunden nicht ausreichte für ein breites Angebot. Jetzt heule er mit den Wölfen und trinke die guten Weine selbst. Wie früher untermalt er seine Rede mit Gesten, die ein väterliches Erbe sein könnten. Ruhig und gemessen. Nachdem er seinen Bericht beendet hat, kommt er auf die Frage nach dem Anlass von Hartmuts Besuch zurück.
«Alleine unterwegs in Frankreich, das klingt ungewöhnlich. Wo ist deine Frau?«
«Maria arbeitet. Ich musste raus aus Bonn. «Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, begnügt Hartmut sich mit einer unbestimmten Geste in Richtung seines Kopfes.»Kleine Auszeit vom Reformstress. Es ist seit deinem Abgang nicht besser geworden.«
«Wo arbeitet sie?«
«An einem Berliner Theater. Falk Merlinger, du erinnerst dich. Im Moment ist sie mit der Truppe in Kopenhagen.«
«Okay. Aber ihr seid noch…?«Bernhards Hände hängen in der Luft, als wüsste er nicht, wie man das Wort ›zusammen‹ gestisch ausdrückt.
«Seit zwei Jahren führen wir eine Wochenendbeziehung. Angeblich tut uns das gut. Bewahrt uns vor dem Einrosten.«
«Die Euphorie steht dir ins Gesicht geschrieben.«
«Die ganze Geschichte erzähl ich dir später. Im Moment bin ich gedanklich noch bei deiner. Du betreibst also eine Bar. «Hartmut schaut sich um, als würde ihm das erst jetzt auffallen.
«Ich weiß, was du meinst. Eine Bar.«
«Es interessiert mich einfach. Ist es besser als an der Uni?«
«Es war für den Übergang gedacht, von der Uni in was Besseres. Hätte kein Dauerzustand werden sollen. Was als Nächstes kommt… on verra. Sparen wir uns die langen Geschichten für später auf. «Lächelnd lehnt er sich in seinem Stuhl zurück. Vielleicht in Reaktion auf Hartmuts Blick fügt er hinzu, dass er gutes Geld verdient und im letzten Frühjahr ein Haus gekauft habe. Eine Autostunde landeinwärts, mitten in der Heide. Während der Saison wohne er in einer kleinen Wohnung über der Bar, von Herbst bis Frühjahr schaue er nur ab und an vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Daraufhin schweigen sie, und Hartmut glaubt, in der Ferne den beharrlichen Takt der Wellen zu hören. Der Betrieb in den Straßen nimmt weiter zu. Gegenüber der Taverne wird Eis verkauft in hundert verschiedenen Sorten. Bob Marley singt den Redemption Song .
Hier sitzen wir, denkt Hartmut zufrieden. Drei Jahre sind eine Zeitspanne, in der Erwachsene sich verändern, ohne dass man sagen könnte wie. Schon in Bonn war Bernhard ein reifer und dabei merkwürdig unfertiger Mensch. Ebenso feinsinnig wie ungeschickt, verliebt in alles Mehrdeutige, aber mit festen Überzeugungen und einer bisweilen schroffen Art, sie zu äußern. Mit vierzig hatte er begonnen, Chinesisch zu lernen, und auf die Frage nach dem Warum geantwortet, man könne schließlich nie wissen. Hauptsache keine Scheuklappen.
Jetzt zieht ein nachdenkliches Lächeln über sein Gesicht.»Ich hab immer gedacht, wenn überhaupt, dann wirst du vorbeikommen, ohne dich vorher anzumelden. Es passt nicht zu dir, ist aber die einzige Möglichkeit.«
«Du kennst mein Leben: Bonn und Portugal. Was dazwischen liegt, ist mir nur vom Drüberfliegen bekannt.«
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