Draußen über dem Wasser fliegt eine Möwe gegen den Wind, mit ruhigen Schlägen und ohne sich von der Stelle zu bewegen. Statt etwas zu erwidern, nickt Hartmut nur. Solche Fragen hat er sich tausend Mal gestellt und keine Antwort gefunden.
«Früher sind wir zusammen gewandert«, sagt Bernhard.»Zwei oder drei Mal im Jahr für ein Wochenende. Mit Rucksäcken und unseren Schweizer Taschenmessern. Weil er selten zu Hause war, musste er mir unterwegs beibringen, was er für wesentlich hielt. Würde man das heute als Text lesen, käme kein Mensch auf die Idee, es seien die Siebziger gewesen. Es war zeitlos. Jetzt ist es so was von vorbei.«
Hartmut schlägt die Arme um seinen Oberkörper und blickt hinaus aufs Meer. Sein erstes Taschenmesser hat er sich gekauft, als er Lehrling am Bergenstädter Landratsamt war. Kein echtes Schweizer, sondern eins mit grün-schwarzem Griff, das seit Jahren in Roßbachs Schaufenster gelegen hatte. Ein Haushaltswarengeschäft mit angeschlossener Tankstelle, oberhalb der Kreuzung, die in Arnau ›Auf der Spitze‹ hieß. Am Rücken verwandelt sich die Feuchtigkeit seines Hemdes in unangenehme Kühle. Ein Surfer kommt aus dem Wasser und lässt sich erschöpft in den Sand fallen. Nach einer Weile gehen sie weiter. Das weiche Pulver unter den Füßen fühlt sich gut an.
«Was ich dich schon immer fragen wollte…«Bernhard muss laut sprechen, damit seine Worte nicht untergehen im Rauschen von Wind und Wellen. Beinahe ist es, als wollten die Elemente ihm das Rederecht streitig machen.»War dein alter Herr ein Nazi?«
«Was?«Hartmut schüttelt den Kopf und dreht sich um.»Nein, war er nicht. Wie kommst du darauf?«
«Der Generation nach? Außerdem hast du nie von ihm gesprochen.«
«Er ist lange tot. Ein Nazi war er so wenig wie ein Bildungsbürger. Wenn ich an ihn denke, trägt er seinen grauen Arbeitskittel. Leben und arbeiten war dasselbe für ihn. «Hartmut schaut aufs Meer hinaus, bis er ein Brennen in den Augen spürt. Seltsam, nach welch ferner Vergangenheit das klingt. Ein unauffälliger Mann mit kräftigen Händen, der bis ins Alter volles weißes Haar hatte. Was Hartmut spürt, ist ein Gefühl von Scham, schwächer geworden im Lauf der Jahrzehnte, aber tief im Innern unverändert. Um es abzuschütteln, macht er einen Schritt Richtung Wasser und fragt:»Wie warm oder kalt ist es?«
«Angenehm kühl. Zwanzig Grad. Spring morgen rein, ich muss zurück.«
«Gib mir eine Minute. «Mit einer knappen Handbewegung lässt er Bernhard stehen. Der Sandboden ist fester und grobkörniger als oben am Strand. Er geht, bis ihm die Ausläufer der Wellen zu den Waden reichen. Auf den Spaziergängen am Sonntag gab es für jeden ein Rippchen Karina-Schokolade. Manchmal nur ein halbes. Mit Ruth hat er letztes Wochenende darüber gesprochen, zum ersten Mal seit vielen Jahren und ohne dass sie sich hätten einigen können. Seine Schwester meinte, es sei keine billige, sondern besonders gute Schokolade gewesen, und der Vater habe sie manchmal eigens bestellen müssen. Im Tabakladen am Bahnhof. Er erinnert sich an den leicht seifigen Geschmack, bevor sie zu schmelzen begann. Jetzt überkommt ihn ein wohliger Schauer und lässt eine Gänsehaut auf seinen Armen zurück. Den Wind spürt er nicht mehr.
Möwen jagen dicht über der weißen Gischt dahin. Wellen rollen auf ihn zu, und der Horizont erstreckt sich so offen, dass der Anblick ihn schwindeln lässt.
7 Am nächsten Morgen geht Hartmut über den fast leeren Strand. Hundert Meter weiter haben Angler ihre Ruten in den Sand gesteckt und hocken daneben. Zwei Jogger verlieren sich auf dem breiten Sandstreifen, und draußen im Wasser liegen Wellenreiter bäuchlings auf ihren Brettern. Paddeln in die beste Position für den nächsten Ritt. Hartmut hat sich ein Badetuch aus dem Hotel über die Schultern gelegt, atmet salzige Meeresluft und fühlt sich ungewohnt nackt an den Waden. Glasiges Sonnenlicht fällt den brechenden Wellen entgegen.
Trotz der frühen Stunde stehen Schweißperlen auf seiner Stirn. Wenige Meter vor dem Wasser zieht er Shorts und Hemd aus, dreht beide ins Badetuch ein und legt das Bündel auf seine Schuhe. Ohne Brille wird aus der morgendlichen Szenerie ein Feld mit verwischten Linien, und wie immer fühlt er sich beobachtet, sobald er nicht mehr scharf sieht. Vor ihm wogt und rauscht ein kräftiges Blau, auf das er zugeht, bis ihn der erste kühle Schock an den Beinen trifft. Muscheln und kleine Steine stecken im Boden. Unter seinen Fußsohlen wird der Sand weggespült, strömt das Wasser zurück und macht seinen Gang unsicher. Obwohl er sich darauf gefreut hat, kostet es ihn Überwindung, ins offene Meer hineinzugehen.
Als die Füße den Bodenkontakt verlieren, ist der Strand bereits ein Stück entfernt, eine andere Welt, die hinter davonrollenden Wellenkämmen auftaucht und wieder verschwindet. Die Umrisse von Dünen und Häusern zeichnen sich ab vor dem glänzenden Himmel. Beim Verlassen des Hotels hat er sich an frühere Urlaube erinnert, die gemeinsamen Aufbrüche zum Strand und Philippas morgendliche Ungeduld. Jetzt macht er ein paar kräftige Kraulzüge, bevor er sich der Wucht des Meeres überlässt. Die Wellen heben ihn hoch und lassen ihn sinken, eine starke Strömung hat ihn bereits ein Stück die Küste hinabgetrieben. Das Atlantique liegt direkt hinter der Düne, mit Brille könnte er das rot leuchtende Dach zwischen den Nachbarhäusern erkennen. Gestern Abend war er dort der einzige Alleinreisende zwischen jungen Familien und älteren Ehepaaren, die das zur Halbpension gehörende Menü verzehrten. Ein gemütlicher Speisesaal, zwischen dessen Backsteinwänden ein Hauch kleinbürgerlicher Enge hing; manche Gäste tranken Rotwein mit Eiswürfeln und hielten ihr Besteck wie schweres Werkzeug in den Händen. Zwei unter dem Tisch hechelnde Hunde bekamen ihren Teil der gebratenen Entenflügel ab.
Als Hartmut sich auf den Rücken dreht, hat die Sonne Ringe bekommen. Mit jeder Welle, die unter ihm hinweg zum Strand läuft, zieht es ihn weiter aufs Meer hinaus, aber für den Moment bezwingt er den Drang gegenzusteuern. Treibt mit weit ausgebreiteten Armen dahin und fühlt sich auf angenehme Weise ausgeliefert. Einverstanden mit dem Geschehen. Um neun Uhr gestern Abend ist er in die Taverne zurückgekehrt, wo ein jüngeres Publikum als im Hotel vor neonfarbenen Cocktails saß. Solange Bernhard nicht hinter der Theke aushelfen musste, blieben sie draußen auf der Veranda und tranken eine Flasche Bordeaux, die nicht auf der Karte stand. Das Gespräch drehte sich um die Situation an den Universitäten, von denen Bernhard sprach, als weise er einer früheren Geliebten die Schuld an der Trennung zu. Hartmut nippte an seinem Wein und musste an den energischen Ausdruck in Julia Ravenburgs rotwangigem Gesicht denken: eine kulturell interessierte Unternehmensberaterin mit mehr Bonusmeilen auf dem Konto, als Normalsterbliche im gesamten Leben fliegen. Bernhards Trennung von ihr war in dieselbe Zeit gefallen, in der er seinen Abgang aus Bonn vorbereitet hatte. Zufall oder nicht? Hartmut konnte sich an kein Gespräch darüber erinnern.
Drinnen wiegten sich die ersten Gäste im Takt der Musik. Schwaden von blauem Qualm waberten durch den Raum, den der leuchtende Schriftzug einer Biermarke in fahles Licht hüllte. Draußen saßen Bernhard und er über den Tisch gebeugt gegen den Trubel der Umgebung.
«Nenn es, wie du willst. «Bernhards Finger drehten den langen Stiel seines Weinglases.»Ich sage, es sind sterile Anstalten der Wissensvermittlung geworden. Handlichkeit, klare Disziplingrenzen, und jetzt das alberne Eins-zwei-drei der Module. Wie ein Setzkasten: schicke kleine Teile, die ein hübsch anzusehendes Ganzes bilden. Aber kein Platz für sperrige Gedanken.«
«Du hingegen…«, sagte Hartmut und versuchte, die zwei angetrunkenen Mädchen zu ignorieren, die am Nebentisch miteinander kicherten.»Ich bemühe mich, aber es fällt mir schwer, in einer Bar die bessere Alternative zu sehen.«
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