«Okay. Klar.«
Das Kerzenlicht lässt zitternde Schatten über die Regale wandern, als Sandrine den Raum verlässt. Bei Dunkelheit erinnert er an eine Höhle, deren Enge Hartmut zu entkommen versucht, indem er sich erneut in die offene Balkontür stellt. Die kühle Nachtluft auf seinem Gesicht tut gut. Tu es! denkt er. Dasselbe wollte er sich vorgestern Abend zurufen. Nach einigem Suchen hatte er den Kaufvertrag gefunden und auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Herr Meier beugte sich darüber und schien in allem, was er las, seine Erwartungen bestätigt zu finden. Ein Grundstück von fünfhundert Quadratmetern sei klein für hiesige Verhältnisse und kaum mehr als zweihunderttausend Euro wert. Konservative Schätzung. Er habe von Fällen gehört, in denen vierhundertzwanzig Euro pro Quadratmeter gezahlt worden seien und etwas komme für das Haus natürlich dazu. Enttäuschung und Groll stiegen in Hartmut auf, als Herr Meier mit gewichtiger Miene zusammenfasste: Wegen mäßiger Bausubstanz sei der Wert des Hauses gering zu veranschlagen. Ihn durch Investitionen zu steigern, lohne sich nicht. Der wahrscheinlichste Käufer dürfte jemand sein, der es auf den Baugrund abgesehen habe. Dessen Wert steige. Die Schlussfolgerung oder, wie man in Hartmuts Beruf sage, die Konklusion zu ziehen, überlasse er ihm. Dass der Füllfederhalter, den er in seinen fleischigen Fingern drehte, nicht ihm gehörte, schien Herrn Meier nicht zu stören. Mit spürbarem Vergnügen spielte er die Rolle eines Maklers, der einen finanzschwachen Kunden mit den Realitäten des Geschäfts vertraut macht. Als wollte er als Nächstes raten: Vielleicht schauen Sie erst mal woanders.
Tu es — auch wenn es ökonomisch unklug ist?
Nachdem er mehrere Minuten auf Sandrine gewartet hat, geht Hartmut in die Küche und sieht sie mit verschränkten Armen vor dem Fenster stehen. Der Geruch von Zwiebeln und Olivenöl mischt sich mit dem süßen Duft seiner Blumen. Drinnen herrscht die schummrige Beleuchtung einer über der Spüle angebrachten Schreibtischlampe, draußen strahlt die nächtliche Metropole. Auf einmal ist ihm mulmig bei dem Gedanken, sich in Kürze verabschieden zu müssen.
«Den Blick werde ich vermissen«, sagt Sandrine,»wenn ich mit Virginie zusammenziehe.«
«Gibt’s schon ein Datum für den Umzug? Eine neue Wohnung?«
«Weder noch. Wir suchen.«
«Hab ich dich gelangweilt mit meinen Problemen?«Hartmut lehnt sich mit dem Steiß gegen die Spüle.»Falls ja, tut es mir leid.«
«Ich steh nur ein bisschen hier und hänge meinen Gedanken nach.«
«Okay.«
Eine Weile schauen sie schweigend nach draußen. Wie ein dunkles Band windet sich die Seine durch das Lichtermeer. Dann wirft Sandrine einen Blick über die Schulter, als müsste sie sich vergewissern, dass er noch hinter ihr steht.
«Haben wir uns sehr verändert seit dem letzten Mal? Es kommt mir so vor.«
«Inwiefern verändert?«
«Es ging mir durch den Kopf, als ich dir zugehört habe. Wie wir da sitzen und reden und Bedenken wälzen. Über die Ehe, die Arbeit, die Gesundheit. «Es klang, als wollte sie zu einer längeren Rede ansetzen, aber sie schüttelt den Kopf und führt ihr Glas an die Lippen. Hartmut kann nicht erkennen, ob sie ihn über das spiegelnde Fenster ebenso beobachtet wie er sie.
«Also doch gelangweilt«, sagt er.
«Es ist nicht deine Schuld, ich bin genauso. Das meinte ich: Früher haben wir nicht ängstlich nach vorne geschaut. Du bist gekommen, um mit mir zu schlafen und ein interessantes Wochenende zu verbringen. Ich hab mich darauf gefreut. Es war zwar falsch, hoffnungslos und verspätet, und das wussten wir auch. Aber wir haben es getan. Und ich zumindest habe es nie bereut.«
«Obwohl es deine Ehe ruiniert hat?«
«Die war schon vorher kaputt. Ich spreche auch nicht von Konsequenzen, sondern: Damals bist du gekommen, und es war spannend. Jetzt trinken wir zwei Flaschen Wein, ich erzähle von meinem Schlaganfall und du…«Eine resignierte Geste beendet den Satz.»Heute Nachmittag hab ich hier am Fenster gestanden, und da war das Gefühl wieder da. Ich hab nichts erwartet, weißt du, ich hab mich einfach gefühlt wie damals — als gäbe es etwas zu erwarten. Ein schönes Gefühl, ich hatte fast vergessen, wie es ist.«
«Dann komme ich mit Blumen.«
«Stell dir meine Begeisterung vor. Blumen! Beim nächsten Mal sind es Pralinen.«
Dann die Heizdecke, will er sagen, aber er kennt das englische Wort nicht.
«Hast du noch Kontakt zu George?«
«Ich weiß, dass er in Montreal lebt. Das ist alles. «Transparent und vage steht sie sich selbst im Fenster gegenüber und spricht mit leiser Stimme.»Manchmal wäre ich gerne wie andere Frauen: ein bisschen heulen und dann zum Friseur gehen. Neue Schuhe kaufen. Wer aus materiellen Dingen Trost ziehen kann, hat wirklich Glück. Ich war dafür immer zu reich. Also betrachte ich mich nüchtern im Spiegel oder schaue aus dem Fenster. Vorhin hab ich gedacht, der beste Teil deiner Erzählung war, als du im Auto ausgerastet bist. Im Ernst. Nicht nur, weil es heißt, dass du deine Frau liebst, sondern weil es richtig ist und guttut. Ich hab kein Ventil. Obwohl ich unsportlich bin, klettere ich. Virginie hat mir auch nicht die Angst davor genommen, ich tue es trotz meiner Angst. Ich zwinge mich dazu, seit dem Schlaganfall noch mehr. Vielleicht nur, um mich von meiner Mutter zu unterscheiden.«
«Solange du beim Klettern besser auf dich aufpasst als damals auf unserer Reise.«
«Hast du mir zugehört? Auf meine Gesundheit zu achten ist mein Beruf geworden. Von März bis heute habe ich kein einziges Mal vergessen, mein Rattengift zu schlucken. Die Angst davor, dass ich zum Pflegefall werden könnte, begleitet mich auf Schritt und Tritt. Mein ganzes Leben ist davon bestimmt. Die Felswände klettere ich hoch, um mich darüber hinwegzutäuschen. Verstehst du das?«
«Es wird sich nicht wiederholen«, sagt er. Gerne würde er sie in den Arm nehmen, aber er weiß nicht, ob sie es auch will.»Du nimmst regelmäßig deine Medikamente und lässt das Blut untersuchen. Das ist vernünftig und…«
«Gutes Stichwort. «Sie schnaubt verächtlich.»Neulich hat ein Arzt gesagt: Madame Baubion, ich wünschte, alle Patienten wären so vernünftig wie Sie. Ein junger Typ mit Schwimmerfigur, ich hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt. Nichts fällt Frauen meines Alters leichter, als vernünftig zu sein. Die Gelegenheiten zur Unvernunft werden sowieso rar. Du kannst mit jungen Dingern auf Parkplätzen rumfummeln. Aber ich?«
«So jung war sie auch wieder nicht.«
«Im Vergleich zu dir schon. Ich müsste dafür bezahlen. Weißt du was? Vielleicht tu ich’s irgendwann. Genug Geld ist da, und es muss noch was anderes geben, als vernünftig zu sein.«
«Sandrine!«
«Sandrine was?«, ruft sie ungehalten.»Das war der Teil deiner Erzählung, der mir am wenigsten gefallen hat. Du wolltest deine Frau damals nicht betrügen und jetzt noch weniger, also solltest du’s nicht tun. Mit mir hast du’s aus alter Liebe getan, okay. Aber aus bloßer Geilheit? Bleib wenigstens dir selbst treu.«
«Manchmal tut man Dinge. Ohne es wirklich zu wollen, ohne zu wissen warum. «Er spürt ihr zorniges Funkeln, das sie ihm über die Fensterscheibe zuwirft. Wie damals vom Fahrersitz aus, wenn er Stan Hurwitz in Schutz nehmen oder Präsident Ford keinen Verbrecher nennen wollte. Wenn er lau war in Fragen, an denen Sandrines Temperament sich entzündete. Dann nannte sie ihn einen hoffnungslosen Fall und fuhr zehn Meilen später rechts ran, um es zurückzunehmen. Saß auf seinem Schoß in ihrem bunten Kleid, in der Weite der Landschaft, aufgebracht und reuevoll und alles andere als lau. In Wirklichkeit hatte sie viel an ihm ändern wollen. Sehr viel.
«Hast du dir schon mal überlegt«, sagt sie jetzt,»dass du der einzige Mensch sein könntest, den du mit deinen Handlungen überraschst? Sie sehen ziemlich folgerichtig aus, wenn man dich ein bisschen kennt. Bestimmt wusste deine Frau, warum du wirklich nach Paris gefahren bist. Was hast du ihr eigentlich erzählt, damals?«
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