«So. Das war meine sehr ausführliche Antwort auf die Frage, was mich hierhergetrieben hat. «Hartmut hält inne und sieht Sandrine ins Gesicht. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie lange er erzählt hat. Fast eine Stunde, die ganze Geschichte von Marias Auszug über den großen Streit bis vorgestern Abend. Beinahe ist er überrascht, wie bruchlos sich eins aus dem anderen ergeben zu haben schien. Alleine die Schlussfolgerung klingt ein wenig gezwungen, jedenfalls spürt er den Schwung seiner Bewegung nicht so stark wie die Widerstände.
«Verstehe. «Sandrine hockt mit angezogenen Beinen auf ihrem Stuhl und lächelt. Das Kerzenlicht macht die Falten um ihren Mund als schmale Schattenlinien sichtbar. Die Augen blicken ein wenig spöttisch, als hege auch sie Zweifel an seiner Entschlossenheit.
«Wir sind ins Haus gegangen«, sagt er,»der Kerl hat angefangen, sich umzuschauen, und ich dachte: Verdammt ja, es ist möglich. Woran ich hänge, ist schließlich weder das Haus noch Bonn. Nachdem er gegangen war, hab ich die Mail geschrieben und ein Zimmer reserviert. Am nächsten Morgen musste ich nur noch meine Sachen packen und losfahren.«
«Und hier bist du. Nach all den Jahren.«
«Ich weiß nicht mehr, mit welcher Vereinbarung wir damals auseinandergegangen sind. Mir war bloß klar, dass es zu lange her ist und ich den Kontakt nicht abreißen lassen will. «Er greift nach der Karaffe auf dem Tisch und schenkt sich Wasser ein.
«Du willst also tatsächlich dein Haus verkaufen«, sagt Sandrine, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.»Vielleicht den Beruf wechseln. Ich gebe zu, das hätte ich dir nicht zugetraut.«
«Neulich hab ich gelesen, dass erwachsene Amerikaner im Schnitt alle fünf Jahre den Wohnort wechseln. In den USA tun die Leute es ständig: lassen das eine hinter sich und beginnen mit dem Nächsten. Du überlegst, mit Virginie zusammenzuziehen. Es ist ganz normal. Warum nicht für mich?«
Durch die Balkontür kommt kühle Luft herein. Sie sitzen einander über leeren Tellern gegenüber, an einem Klapptisch, den Hartmut ebenso sorgfältig stabilisiert hat wie am Nachmittag den Abstellplatz für das Tablett. In dem Journal-Artikel wurde außerdem ein direkter Zusammenhang zwischen Lebenseinstellung und Umzugsbereitschaft hergestellt: Je zuversichtlicher Leute in die Zukunft blicken, desto größer sei ihre Bereitschaft, den Wohnort zu wechseln. Über den Wert für Deutschland schrieben die Autoren, er sei vergleichsweise niedrig, aber im Steigen begriffen.
«Was mit dem Haus geschieht«, sagt er,»ist natürlich nicht die einzige Entscheidung, die demnächst ansteht. Nicht mal die wichtigste.«
«Das hab ich verstanden.«
«Eine Woche bleibt mir, und schon jetzt bin ich nervös, wenn ich meine E-Mails lese. Wahrscheinlich will der Verleger eine Antwort, bevor ich die Möglichkeit hatte, mit Maria zu sprechen. «Hartmut bricht ein Stück Baguette ab, fährt über die Olivenölreste auf seinem Teller und isst. Was Sandrine als kleine italienische Vorspeisenplatte angekündigt hatte, entpuppte sich als üppiges Mahl aus Meeresfrüchten und Parmaschinken, kleinen Melonenscheiben, Lachs und eingelegtem Gemüse. Den Salat dazu haben sie gemeinsam in der Küche zubereitet und über ihre früheren Kochversuche in Walters Haus gelacht. Während sie Schulter an Schulter Tomaten schnitten und an ihren Weingläsern nippten, war es so, wie er sich den Besuch vorgestellt hatte: Geschichten von früher, Orte, Namen. Wie die Bar hieß, die sie immer aufsuchten, wenn die Kochversuche gescheitert waren. Palmer’s Bar, Palmer’s Café oder einfach nur Palmer’s? Jetzt sitzt Sandrine mit verschränkten Armen auf ihrem Platz und schaut ihn fragend an.
«Soll ich noch einen Wein aufmachen oder… Willst du Kaffee, einen Tee?«
«Einen Rat könnte ich gebrauchen.«
«Von mir?«
«Deine Cousine würde empfehlen: weiterleben wie bisher. Mein Fall liegt aber anders. «Tatsächlich hat seine plötzliche Entscheidungsfreude schon vorgestern Abend einen ersten Dämpfer erlitten. Auf den Wert des Hauses wollte sich Herr Meier nicht festlegen. Die Kellerwände seien ein Unsicherheitsfaktor, auf die müsste er bei Tageslicht einen genaueren Blick werfen, sagte er, als sie nach einem Rundgang durchs Haus wieder in der Küche standen. Das Dach scheine solide, aber neue Besitzer würden wohl bald an ein Auswechseln der Ziegel denken. Für den Zustand der Wasserleitungen lege er seine Hand nicht ins Feuer und so weiter. Der spontan berufene Gutachter nahm seine Aufgabe überaus ernst. Das Entscheidende beim Verkauf einer Immobilie sei ohnehin das Grundstück. Nur Laien klammerten sich an den Mietpreisspiegel, der Experte schaue auf den Bodenrichtwert. Hier oben auf dem Venusberg betrage er über vierhundert Euro. Wenn Hartmut ihm sage, wie groß das Grundstück sei, werde er ihm den Marktwert ausrechnen. Sofort, aber wohlgemerkt ohne Garantie, dass ein Käufer den Preis auch zahlen wolle.
Hartmut leert sein Wasserglas in einem Zug und schenkt sich gleich noch einmal ein.
«Ich hab den ganzen Tag nicht genug Wasser getrunken«, sagt er.»Willst du auch noch was?«
Sandrine schüttelt den Kopf.
«Du hast gar nicht gesagt, was du den ganzen Tag gemacht hast. Was hast du dir angesehen?«
«Heute Morgen bin ich einmal um die Oper und durch dieses Kaufhaus gelaufen. Danach saß ich in meinem Hotelzimmer und hab eine Doktorarbeit gelesen. Über den Weltgeist in China. Mehr wusste ich nicht mit mir anzufangen, alleine in Paris.«
«Was macht der Weltgeist in China?«
«Wenn ich den Autor richtig verstehe, sorgt er dafür, dass die Moderne Einzug hält. Wie er das schafft, bleibt sein Geheimnis. Sprachlich ist die Arbeit ein Alptraum.«
Sandrines Miene verrät nicht, ob sie sich für seine Antwort interessiert. Je später der Abend, desto kleiner scheint die Schnittmenge zu werden zwischen seinen und ihren Gedanken. Ein langsames Auseinanderdriften, mit dem Hartmut sich nicht abfinden will.
«Der Verfasser ist Chinese«, sagt er,»und hat sechs Jahre an der Arbeit gesessen. Vor zwei Tagen hab ich mich mit ihm unterhalten und festgestellt, dass ich wenig über ihn weiß oder wissen will. Einerseits beschwere ich mich, dass die begabten Leute nicht zu mir kommen, andererseits hab ich mir zugutegehalten, dass ich mich um die kümmere, die meine Hilfe brauchen. In Wirklichkeit kümmere ich mich nicht, sondern schleuse sie durch. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, zu meinen Studenten zu sein, wie Stan Hurwitz zu mir war.«
Sandrine lächelt und nickt.
«Hab mich schon gefragt, wann du endlich auf ihn zu sprechen kommst. Reverend Hightower und seine geheimen Studien. Dass du dich an jemanden hängst, der Nixon wählt — zwei Mal! — , konnte ich damals schwer akzeptieren. Nur als Nachtrag, weil ich vorher gesagt habe, ich hätte nichts an dir ändern wollen. «Den Spitznamen hatte sie seinem Doktorvater nicht wegen der Körpergröße, sondern in Anspielung auf den Priester aus Light in August verpasst, durch dessen Kopf die Kavallerie des Bürgerkriegs zog; so wie durch Stans Kopf die Infanterie des Zweiten Weltkriegs. Jetzt beugt sie sich nach vorne, als wäre es an der Zeit, das Geplauder sein zu lassen.
«Tu es, Hartmut! Verkauf das Haus, wechsel den Job und zieh nach Berlin, bevor die Einsamkeit dich aus der Bahn wirft. Du bist kurz davor.«
«Das ist dein Rat?«
«Bei unserem letzten Treffen hast du damit kokettiert, in der Midlife-Crisis zu stecken, aber du warst nicht halb so verunsichert wie jetzt.«
«Wenn du es sagst. Ich weiß nicht mehr, was ich damals gefühlt habe.«
«Versteck dich nicht hinter Paragraphen. So unfrei, wie du glauben willst, bist du nicht. Du hast bloß Angst.«
«Ein paar arbeitsrechtliche Fragen werde ich klären müssen. So ein Ausstieg ist keine Kleinigkeit.«
«Klär sie! Und dann fass dir ein Herz, und tu es!«Energisch rückt sie ihren Stuhl nach hinten und steht auf.»Ich bin gleich wieder da.«
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