«Das geht dich nichts an«, antwortet er sanft, aber bestimmt.»Das gehört zu den Fragen, die wir einander nicht stellen.«
«Den vielen.«
Vorsichtig tritt er hinter sie. Sieht seine eigene Bewegung im Fenster und dass auch Sandrine sie bemerkt und still hält. Mit den Schultern lehnt sie sich gegen seine Brust, ins Hohlkreuz gehend, um eine intimere Berührung zu vermeiden. Richtig ist, dass ihre Vertrautheit in der fernen Vergangenheit wurzelt und seitdem eher vorausgesetzt als bestätigt wurde. Nichts, worum sie oder er sich bemüht hätten. Er erinnert sich, wie sie vor demselben Fenster gestanden haben, er in Unterhose und Sandrine in ein Laken gewickelt, halb volle Gläser in der Hand. Drei Besuche insgesamt, verteilt über ein halbes Jahr. Hoffnungslos und verspätet und besser als ein Leben ohne Geheimnisse. Beim ersten Mal waren Maria und Philippa in Portugal, danach hat er berufliche Verpflichtungen vorgetäuscht. Zu lügen ist zwar hässlich, aber nicht schwer. Es erfordert Disziplin, und die hat er. Beim letzten Mal sind Sandrine und er übereingekommen, dass es so nicht weitergehen könne, also ist es nicht weitergegangen. Weder so noch anders.
Vor ihm in der Fensterscheibe stehen zwei ältere Menschen, die beharrlich Abstand halten, sogar bei körperlicher Nähe. Deren jugendliche Pendants neben ihnen auf dem Tisch liegen. Sandrine und er auf dem Schiff. Als sie in der Küche zugange waren, hat Hartmut das Foto geholt, um sie danach zu fragen. Jetzt fällt sein Blick erneut auf die beiden mürrischen Gesichter, und zum ersten Mal glaubt er, einen Zipfel der Erinnerung zu erhaschen: Hannibal, Missouri, der Geburtsort von Mark Twain. Drückende Schwüle, die Luft war voller Moskitos, und in den Straßen roch es penetrant nach Schiffsdiesel.
Mit der linken Hand deutet er auf das Bild.
«Das sind wir nicht, oder? Es war ein schlechter Moment.«
«Ein Crewmitglied hat das Foto gemacht und uns mit seinen Sprüchen genervt. So ein Typ mit Kapitänsmütze und zu großen Eiern in der Hose.«
«Glaubst du, wir wären zusammengeblieben?«, fragt Hartmut.»Wenn wir die Chance gehabt hätten?«
Als Sandrine sich aus seiner Umarmung löst, befürchtet er, sie sei verärgert und wolle zurück ins Wohnzimmer gehen. Stattdessen nimmt sie ein Feuerzeug von der Anrichte, zündet zwei Kerzen auf dem Tisch an und knipst die Lampe über der Spüle aus. Murmelt vor sich hin, dass sie dieses Licht nie gemocht habe, bevor sie am Tisch Platz nimmt, das Gesicht ihm zugewendet, mit verschränkten Armen.
«Was wirst du jetzt machen?«, fragt sie.»Ich meine morgen. Zurück nach Bonn fahren und dein Haus verkaufen?«
«Noch nicht. Wenn ich mich schon mal losgeeist habe von meiner Arbeit, will ich die Freiheit genießen. Erst mal fahre ich weiter in den Süden.«
«Wohin?«
«Ein ehemaliger Kollege betreibt ein Weinlokal in Mimizan. Den wollte ich schon lange besuchen.«
Der Tisch ist so klein, dass ihre Knie einander berühren, als Hartmut ihr gegenüber Platz nimmt. Auf der hölzernen Tischplatte stapeln sich Zeitschriften und Bücher. Der freie Platz reicht gerade, um seine Hände darauf abzulegen, und sobald er es getan hat, greift Sandrine danach und hält sie fest. Nachdem sie zuvor den meisten Berührungen ausgewichen ist, überrascht ihn die Geste. Was wäre, wenn. Warum Fragen stellen, wenn man die Antwort nicht wissen will?
«Von Anfang an hab ich deine Hände gemocht«, sagt sie, ohne ihn anzuschauen.»Ich weiß noch, wie merkwürdig dir das vorkam. Hände. Offenbar hatte dir niemand gesagt, dass Frauen die attraktiv finden können.«
«Es gibt einiges, was ich von dir zum ersten Mal gehört habe. Ich glaube, ich hab nicht viel davon vergessen.«
«Weißt du, was der Grund für deinen Besuch ist?«, fragt sie.»Du bist gekommen, um dich zu vergewissern, dass deine Entscheidung richtig war. Dass du keinen Fehler gemacht hast, jedenfalls nicht diesen. Bevor du die nächste Entscheidung treffen musst. Ist es so? Sag die Wahrheit.«
«Damals hat es sich nicht wie eine Entscheidung angefühlt.«
«Trotzdem war’s eine. «Lächelnd spielt sie mit seinen Händen. Hält sie gegen ihre Wangen, fährt einzeln über die Finger und scheint ihren Worten keine Bedeutung beizumessen.»Mein Vater, der eine interessante Mischung aus Mann von Welt und dreistem Dummkopf war, hat zu dem Thema gesagt: Bestenfalls trifft man eine Entscheidung, und dann macht man sie richtig, hinterher. Nicht dass es ihm allzu oft gelungen wäre, aber es ist einer der wenigen Ratschläge, die ich behalten habe.«
«Für einen Politiker nicht schlecht.«
«Das ist es, was du tun musst, dich entscheiden und das Beste draus machen. Nicht vorher wissen wollen, was du erst hinterher wissen kannst.«
«Klingt nach der leichtesten Sache der Welt.«
«Nein. Aber nach deiner Sache. «Sie sieht ihn an, und er versteht, was sie meint. Unter ihnen glitzert Paris in tausend Lichtern. Erst jetzt fällt ihm auf, dass sie den ganzen Abend keine Musik gehört haben. Damals war es Purple Sun , das Geschenk ihres Vaters und der Anfang von so vielem, wovon es längst zu spät ist zu sprechen. Was Sandrine mit seinen Händen tut, gehört bereits zum Abschied, und sie wird nicht dulden, dass er ihn dramatisiert oder verkitscht. Alles Wichtige ist gesagt. Als er seine Hände zurückzieht, nickt sie lediglich.
«Ich muss los. «Er steht auf.
«Ich weiß noch, wie wir in Minneapolis am Flughafen standen. Du hast von Berlin geredet, und ich wollte mir nichts anmerken lassen. Ich war kurz davor, es zu sagen, aber dann hättest du mir widersprochen, und wir hätten uns im letzten Moment gestritten. Das wollte ich nicht. «Sie spricht geradeaus, als säße er ihr noch gegenüber.
«Ich wusste es selbst«, sagt er.»Es war nicht realistisch.«
«Hinterher hat es mich gestört, dass ich ausgerechnet in diesem Moment nicht ehrlich war. Es ist das Einzige, was ich lange Zeit bereut habe.«
«Es hätte nichts geändert.«
«Trotzdem. Um unseretwillen.«
Er würde gerne etwas tun: ein Glas in die Spüle stellen, ihre Teller aus dem Wohnzimmer holen, den wackeligen Esstisch wieder zusammenklappen, irgendwas. Stattdessen nimmt er das Foto vom Küchentisch und fragt:»Kann ich das mitnehmen?«
«Ich hab ein besseres Andenken für dich. Fiel mir in die Hände, als ich nach deinen Briefen gesucht habe. «Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer.
Ein weiterer Teil der Erinnerung an jenen Nachmittag kehrt zurück, an ein trostloses Kaff mit billigen Souvenirläden und Cafés. Leere Straßen und scheele Blicke auf Sandrines kurzes Kleid. Es war im Sommer 74, kurz nach Nixons Rücktritt. Außer einer Dampferfahrt über den Mississippi hatte Hannibal nichts zu bieten. Dann kam der Typ in Uniform von der Brücke geschlendert und entdeckte, wonach er gesucht hatte. Lächelte maliziös und steuerte direkt auf sie zu.
Sandrine kommt mit einer Schallplatte in der Hand zurück. Einer Single, verpackt lediglich in die weiße Innenhülle. Auf dem kreisförmigen Label steht ›Voice-O-Graph‹, sonst nichts.
«Ich wette, du hast zu Hause einen Plattenspieler«, sagt sie.
«Ich hab sogar noch ein Tonbandgerät. Haben wir das aufgenommen?«
«Hör’s dir an, dann fällt es dir wieder ein. Es ist ziemlich authentisch.«
«Ich erinnere mich jetzt an den Typ auf dem Schiff. Er wollte, dass ich dir den Arm um die Schultern lege, und als ich es nicht getan habe, hat er mich als sissy verspottet.«
Sandrine stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn auf die Wange.
«Danach hast du den ganzen Tag kein Wort geredet. Wir sind runter vom Schiff und sofort weitergefahren nach St. Louis.«
Alles, was er vorher vermisst hat an ihr, ist auf einmal wieder da: die beiläufige Art, mit der sie ihre Zärtlichkeiten verteilt und doch genau weiß, was sie tut. Die Ernsthaftigkeit ihrer Zuneigung, beinahe eine Art von Loyalität. Ihr Lächeln ist halb nach innen gekehrt, der Stolz versteckt, und gleichzeitig lässt ihre Entschiedenheit keinen Zweifel daran, dass sie einander gleich zum letzten Mal umarmen werden. Einen Besuch mit Pralinen wird es nicht geben. Ihre Geschichte endet jetzt.
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