«Keine Folgeschäden?«
«Ich bin eine Nacht zur Beobachtung geblieben. Die Ärzte haben mir erklärt, dass ich keine Hirnblutung hatte. Ein Herzfehler war die Ursache. «Sie liest das nächste Wort von ihrer Liste, ein langes diesmal, das Hartmut nicht versteht.»Im Kern bedeutet es mangelnde Koordination. Ein bisschen Blut bleibt vor den Herzkammern stehen, dadurch bilden sich Gerinnsel. Ich hab ein Mittel zur Blutverdünnung bekommen. Ursprünglich ein Rattengift, kein Witz. Mein Arzt konnte mir nicht sagen, wie man rausgefunden hat, dass es zur medizinischen Behandlung taugt. Das muss ich jetzt nehmen für den Rest meines Lebens: Coumadine. Klingt wie ein indonesisches Gewürz, ist aber Rattengift und schmeckt ein bisschen nach Vanille.«
«Und du kletterst wieder.«
«Die Ärzte meinten, ich muss selbst wissen, ob ich das Risiko auf mich nehmen will. Stürze sind gefährlich wegen des dünnen Blutes. Virginie hat bloß gesagt: Du stürzt nicht, ganz einfach. Falls du dich gefragt hast, warum ich dieses enge Verhältnis zu einer Cousine habe, die meine Tochter sein könnte — deshalb. Weil Freundinnen meines Alters betroffen den Kopf geschüttelt und von Kuren gesprochen haben. Mir einschärfen wollten, dass ich besser auf mich aufpassen muss. Schließlich lebe ich alleine! Was, wenn es wieder passiert, nachts? Virginie meinte, die beste Kur ist weiterleben wie vorher. Ein Mann mag seine Vorzüge haben, aber im Zweifelsfall schläft er sowieso. Zur Schlaganfallprävention ist Rattengift besser.«
«Als ich reinkam, hast du gesagt, du seist noch nicht wieder ganz die Alte. Du hast abgenommen.«
«Gefall ich dir nicht?«Noch immer sitzt sie dicht neben ihm und lehnt den Kopf gegen seine Schulter. Trotzdem wirkt sie verändert. Weniger angespannt und nicht länger auf Widerspruch aus, sondern trostbedürftig gegen ihren Willen.»Wahrscheinlich hätte ich nicht davon anfangen sollen. Ich rede ungern darüber, schließlich ist nichts Schlimmes passiert. In den ersten Wochen hab ich weitergelebt wie vorher, genau wie meine Cousine meinte. Nur den Lehrauftrag konnte ich nicht fortsetzen, weil ich täglich zur Blutuntersuchung musste. Das hat mir beinahe mehr zu schaffen gemacht als der Schlaganfall selbst. Wie soll man sich gesund fühlen, wenn man jeden Tag mit Ärzten zu tun hat? Irgendwann ging es dann los. Ich saß am Schreibtisch und hab Schweißausbrüche gekriegt, von einem Moment auf den anderen. Die Ärzte sagen, es kommt vor, dass der Schock mit Verzögerung einsetzt. Der Körper erholt sich schneller als der Kopf. Manchmal träume ich von den armen Teufeln, die ich auf der Stroke Unit gesehen habe. Die mit den halbseitigen Lähmungen, die drei Monate Reha machen müssen, bevor sie’s wieder alleine aufs Klo schaffen. Das Ganze ist Anfang März passiert, und seitdem habe ich das Gefühl, als gebe es in mir eine zweite Person. Die schwache kleine Frau, der ich nie ähneln wollte und auch jetzt nicht ähneln will. Mein ganzes Leben lang hab ich sie in den Schrank gesperrt, und auf einmal drückt sie von innen gegen die Tür. Es ist der Gipfel der Ironie. Weißt du, wen ich meine?«
Weder ihren Vater noch die Mutter hat Hartmut je gesehen, nicht einmal auf Fotos, aber Sandrines Beschreibungen waren eindrücklich genug. Vor seinem inneren Auge erscheint ein abgedunkeltes Zimmer, in dem es nach Blumen und Seife riecht. Still über der Decke gefaltete Hände.
«Ich weiß noch, was du über sie gesagt hast: Eine gebildete kluge Frau, die alles, was sie schluckt, Aspirin nennt.«
Das Nicken, mit dem Sandrine seine Vermutung bestätigt, wirkt dankbar.
«Das letzte Drittel ihres Lebens hat sie im Sanatorium verbracht. Das war die beste Lösung für beide. Mein Vater konnte arbeiten und Geliebte haben, und meine Mutter hat sich ganz ihren Leiden hingegeben, frei von jeder Verantwortung für ihr Leben. Nachdem ich aus Amerika zurückgekommen war, hab ich sie nicht mehr oft gesehen, das war die beste Lösung für mich. Im Grunde habe ich ihr ihre Schwäche nie verziehen. Eine körperlich gesunde Frau, die ihr Leben im Bett verbringt. Vor fünfzehn Jahren ist sie gestorben, seitdem habe ich kaum an sie gedacht. Virginie, wer sonst, musste mir erklären, wer die Person im Schrank ist, von der ich mich bedrängt fühle. Ich wollte nicht glauben, dass zwischen uns Ähnlichkeiten bestehen, aber natürlich bestehen sie. Wie nicht? Sie war meine Mutter.«
Hartmut sagt nichts, greift nur nach ihrer Hand, die ihm kälter vorkommt als zuvor. Gerne würde er sich besser an die damaligen Gespräche erinnern, an die Orte und die Umstände, aber es sind nur Versatzstücke. Versprengte Zitate.
«Seitdem versuche ich, gewisse Erschütterungen zu vermeiden«, sagt sie.»Ich leiste mir eine Egozentrik, die ich früher peinlich gefunden hätte. Arbeite weniger, gehe regelmäßig zur Massage und so weiter. Schaue weniger Nachrichten und trinke kaum Alkohol. Ich mag nicht, wer ich bin im Moment, aber zumindest für eine begrenzte Zeit muss ich mich so akzeptieren. «Ruckartig richtet sie sich auf und sieht ihn an, als würde sie ihre Worte im Geist noch einmal durchgehen.»Das war die sehr lange Erklärung meiner ersten Reaktion auf deine E-Mail. Ich hab sie gelesen und einen Moment lang gedacht: Vielleicht lieber nicht.«
«Verstehe.«
«Dann hab ich mir gesagt: Scheiß drauf. Wenn der Kerl unbedingt will, soll er kommen. Hab ich vorhin gesagt, ich hätte lange überlegt, ob ich antworten soll? Es war eine halbe Stunde.«
Erst als Hartmut ihre Hand an seine Lippen führt, fällt ihm auf, dass es sich um eine Geste aus seinem Repertoire ehelicher Zärtlichkeiten handelt. Falls Sandrine das spürt, lässt sie sich nichts anmerken. Draußen ist aus dem kühlen Nachmittag ein milder Abend geworden, der seine Sonnenstrahlen durch die offene Balkontür schickt. Die Wolken, die er am Morgen über dem Opernhaus beobachtet hat, haben den Himmel über Paris geräumt. Langsam zieht von Westen her ein blasses Abendrot herauf. Es tut gut zu wissen, dass er jetzt nichts sagen muss.
«Wenn ich schon dabei bin«, fährt Sandrine fort.»Neulich ist was Merkwürdiges passiert, ein Beispiel für die seltsamen Anwandlungen, die mich gelegentlich überkommen. Vielleicht gefällt es dir. Ich hab in dem kleinen Gemüseladen um die Ecke eingekauft, die üblichen Sachen fürs Wochenende, unter anderem einen Beutel Kartoffeln. Seit Amerika mag ich Kartoffeln. Ich hatte den Beutel in der Hand und wollte ihn gerade in meinen Korb legen, als du auf einmal neben mir standest und sagtest: They are such a pain to pick, you know. «Die Imitation seiner Stimme gelingt nicht und Sandrine schüttelt sich, als wäre es ihr peinlich. Auch ihre Hand zuckt, aber Hartmut hält sie fest.
«Sind sie wirklich«, sagt er.»Sogar in deinen Phantasien weiß ich, wovon ich spreche. Das ist ein gutes Zeichen.«
«Ich konnte hören, wie du das sagst, okay? Direkt neben mir, als würdest du mir über die Schulter schauen. Im ersten Moment war ich erschrocken und dachte: Jetzt ist es so weit, jetzt verliere ich den Verstand, genau wie meine Mutter. Gleichzeitig musste ich laut lachen, mitten im Laden. Es ist kein witziger Satz, nur klang er in dem Moment wie etwas, das du genau so sagen würdest. Verstehst du, was ich meine? Da stand ich, eine nicht mehr junge Frau, den Einkaufskorb und einen Beutel Kartoffeln in der Hand. Lachend über nichts. So weit ist es mit mir gekommen.«
«Ich hab mich in den letzten Monaten auch ein paar Mal so verhalten, dass ich mich hinterher fragen musste: Was ist los mit mir? Wahrscheinlich gehört es einfach…«
«Du verstehst nicht, was ich meine, Hartmut. «Sie legt eine Eindringlichkeit in ihre Stimme, die er von früher kennt.»Es war ein schöner Moment. Mir war völlig egal, ob andere mich sehen und was sie denken. Es war real!«
In der Rue Lamarck quietschen Reifen. Ein Hupen ertönt, dann schüttelt Sandrine den Kopf, greift nach der Weinflasche und gießt den restlichen Inhalt in sein Glas.
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