«Was auch immer das heißt.«
Die Briefe auf dem Tisch sind versehen mit antiquiert aussehenden deutschen Marken. Seine damalige Handschrift ist nach rechts geneigt, als zögen die Buchstaben schwere Lasten hinter sich her. Auf einem der Umschläge prangt ein schwarzer, halb verblichener Stempel: Post — damit wir uns besser verstehen. Insgesamt ein Dutzend Briefe, schätzt er und zeigt mit dem Kinn darauf.
«Hast du dich vorbereitet auf meinen Besuch?«
«Du hast mir nicht viel Zeit gelassen. Beim Lesen ist mir eingefallen, wie du in Minneapolis alle Briefe auf Matrize geschrieben und die Durchschläge aufbewahrt hast. Als würdest du davon ausgehen, dass irgendwann deine gesammelte Korrespondenz publiziert wird. «Sandrine zeigt ihrerseits auf den Tisch.»Hast du von denen auch Abzüge?«
«Bestimmt.«
«Warum? Falls du eines Tages nach dir selbst suchen musst?«
«Oder nach jemand anderem. «Sobald er das Weinglas abstellt, warten seine Hände auf Beschäftigung.
«Ich habe immer noch diese Karteikarte vor Augen, ganz oben auf einem großen Stapel: ›Take care, man‹. Die Übersetzung hab ich vergessen, aber bestimmt war sie sehr akkurat. «Die Erinnerung bringt Sandrine zum Lachen.»Du hast alles aufgeschrieben. Am Anfang dachte ich, es muss entweder deutscher Ordnungssinn oder ein zwanghafter Zug sein. Ich hab nicht gewusst, dass man sich selbst so systematisch erziehen kann. Offen gestanden bin ich immer noch skeptisch.«
Hartmut nickt. Sandrine gehört zu den wenigen Menschen, die ihn aufziehen dürfen, ohne dass er es ihnen übel nimmt, aber in diesem Moment wünscht er, sie würde nicht direkt ins Zentrum zielen. Da ihm keine Erwiderung einfällt, greift er nach einem Foto auf dem Tisch. Die Aufnahme ist neu und zeigt Sandrine neben einer dunkelhaarigen jungen Frau. Beide stehen im Freien, tragen Sonnenbrille und Kletterausrüstung und halten dem Fotografen einen gestreckten Daumen entgegen. Im Hintergrund leuchtet heller Fels, offenbar Sandstein. Seit wann machst du solche Sportlergesten, will er fragen, aber Sandrine kommt ihm zuvor.
«Meine jüngste Cousine, Virginie. Vor zwei Jahren ist sie nach Paris gezogen und hat mich fürs Klettern begeistert — beziehungsweise: Sie hat mir die Angst davor genommen, danach kam die Begeisterung von alleine. Inzwischen ist sie meine beste Freundin. Wir überlegen sogar zusammenzuziehen.«
Die Cousine ist schlank und kaum größer als Sandrine, mit langen, zum Zopf gebundenen Haaren. Sie trägt ein ärmelloses Trikot, und entweder ist der Fotograf ihr Geliebter, oder sie besitzt eine herausfordernd offenherzige Art im Umgang mit anderen Menschen.
«Sympathisch. «In Sandrines Art, die Geste der Jüngeren zu kopieren, erkennt er eine ironische Überlegenheit, die ihr schon als Studentin eigen war. Tochter eines flamboyanten Lokalpolitikers, der sich dem letzten seiner vielen Schmiergeldprozesse durch Herzstillstand entzogen hat. Manchmal behauptet Sandrine, seine Verschlagenheit geerbt zu haben, aber das gehört zum sparsamen Gebrauch, den sie von Koketterie und Selbststilisierung macht. Auch das eine Ähnlichkeit mit Maria.
«Virginie ist ein Schatz«, verkündet sie und nimmt ihm das Foto aus der Hand.»Das Beste an den letzten beiden Jahren war die Zeit, die ich mit ihr verbracht habe. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages ein Hobby finden würde, das aus körperlicher Anstrengung im Freien besteht. Oder eine Freundin, die meine Tochter sein könnte.«
«Wenn ich mich richtig erinnere, bist du nicht mal schwindelfrei.«
«Ich übe«, sagt sie.»Meine Freundinnen fiebern den Wochenenden entgegen, wenn die Kinder oder die Enkel kommen, und ich freue mich darauf, mit Virginie in die Berge zu fahren. Das ist meine Erholung. Findest du nicht, dass junge Leute heutzutage bemerkenswert gesund sind? Einen gesunden Optimismus besitzen, eine gesunde Portion Nachdenklichkeit. Ich glaube, wir waren nie so, als Generation.«
«Ich weiß, dass ich nicht so war.«
Sandrine schüttelt den Kopf, als hätte er ihr widersprochen.
«Erst waren wir naiv, dann entweder verbittert oder selbstgerecht. Jetzt sind wir gleichgültig. Seit ich Virginie kenne, langweilen mich die Abendessen mit Freunden immer mehr. Dieselben Themen, derselbe Ton, abgeklärt und leidenschaftslos. Wir wissen alles besser, aber nur besser als früher, und das heißt gar nichts. «Obwohl sie erst ein halbes Glas getrunken hat, lauert in ihrem Blick die Bereitschaft zu einer aggressiven Litanei, von der Hartmut sie gerne abhalten würde. Zu gut erinnert er sich an ihre Tiraden im Auto, über amerikanischen Rassismus, Bürgerrechte und die Frage, welche Formen von Religiosität mit dem Ausdruck Zivilisation vereinbar sind. Abgeklärt und leidenschaftslos war Sandrine Baubion nie, das ist eine Qualität ihres Charakters, die zu würdigen nicht immer leichtfällt.
«Nichts gegen deine Cousine, aber da ich beruflich mit der jungen Generation zu tun habe…«
«Ich weiß. In Wirklichkeit sind sie angepasst, oberflächlich und karriereorientiert. Ich werde mich nicht darüber beklagen. Wir haben Mao Zedong verehrt.«
«Ich nicht.«
«Du natürlich nicht. Du bist zu Kundgebungen von Hubert Humphrey gefahren.«
Ein Mal hat er das getan, im Herbst 76, als Humphrey für den Senat kandidierte. Kürzlich hat er darüber nachgedacht und festgestellt: Er besitzt eine Schwäche für uncharismatische Politiker. Obwohl er zeitlebens SPD gewählt hat, kann er mit Angela Merkel gut leben. Charisma verführt den Besitzer zur Unaufrichtigkeit und lässt alle anderen darüber hinwegsehen. Eine Einladung zum Missbrauch im beiderseitigen Einvernehmen.
«Wenn ich gewusst hätte, wie lange du dich darüber mokieren würdest«, sagt er,»wäre ich zu Hause geblieben.«
«Du hast kein Haschisch geraucht und nicht getrunken. Warst kein Marxist und gegen jede Form politischer Gewalt. Die Liste deiner Jugendsünden würde einen Mormonen zum Lächeln bringen.«
«Die jungen Leute von heute nennst du gesund. Aber mich?«
«Dein größtes Laster waren English Muffins. Ist das immer noch so?«
«Ich beginne zu verstehen, warum ich so lange nicht hier war. Warum bist du jetzt gemein zu mir? Was hab ich getan?«
«Du warst ein komischer Vogel mit deinen hässlichen Hemden und dem deutschen Akzent, und ich wollte nichts an dir verändern. Gar nichts. Es ist mir erst später aufgegangen, wie selten das ist. «Sie sieht ihn an und legt den aggressiven Tonfall ebenso schnell ab, wie sie ihn angenommen hatte.»Genau genommen war es einmalig, also beschwer dich nicht. Du schreibst eine betrunkene Mail, und ich fange an, in alten Briefen zu lesen. Ich hab mir vorgenommen, ein bisschen gemein zu sein. Es geschieht mit Absicht.«
«Okay.«
Ein paar Mal nickt sie still vor sich hin. Leert ihr Glas und stellt es auf den Tisch. Das Foto der Cousine wandert zurück zu den anderen Bildern.
«Letzten Monat ist Carson Becker gestorben«, sagt sie.
«Letzten Monat erst?«
«Genau was ich gedacht habe. Ich bin zufällig auf die Nachricht gestoßen. Wollte einen alten Text von ihm zitieren — um ihn zu kritisieren, natürlich —, und als ich im Internet nachgeschaut habe, fiel mir der Nachruf ins Auge. Sehr kurz, eher eine Notiz. Er muss fast hundert Jahre alt geworden sein. Kannst du dir einen überzeugenderen Beweis für seine Selbstgerechtigkeit denken? Hundert Jahre!«
«Hast du ihn trotzdem zitiert?«
«Ja. Aber zustimmend. «Zum ersten Mal seit seiner Ankunft lacht sie so fröhlich wie früher. Jahrelang haben Professor Becker und sie im Clinch gelegen, weil Sandrine sich in den Kopf gesetzt hatte, in ihrer Doktorarbeit Lynchjustiz als eine primitive Ritualform zu untersuchen. Damals ein gewagter Ansatz, von dem ihr Betreuer nichts wissen wollte. Ein stoischer weißhaariger Mann aus Montana, der auf die Siebzig zuging und ungerührt zur Kenntnis nahm, dass seine Studentin ihn für borniert hielt. Er fand das Thema ungeeignet und witterte in Sandrines Haltung den typischen französischen Kulturchauvinismus. Mit Beckers Namen kehrt die Erinnerung an einen Nachmittag kurz vor Hartmuts Abflug zurück. Sandrine berichtete empört, ihr Professor habe angeregt, sie solle lieber eine theoretische Arbeit schreiben, über die methodischen Probleme einer Ethnologie des Eigenen. Ihre Empörung wurzelte in Beckers stillschweigender Unterstellung, sie, Sandrine Baubion, könnte über einen Begriff des Eigenen verfügen, der die blutrünstigen Normalbürger von Mississippi und Kentucky mit einschloss. Das hatte sie in aller Deutlichkeit verneint und ihre Entrüstung auf Hartmut gerichtet, weil der Beckers Entgegnung zum Lachen fand: How about Louisiana, then? Am Ende führte der fruchtlose Streit dazu, dass sie von Minneapolis an die Ostküste zog, wo ein College seinem liberalen Ruf gerecht wurde und Sandrine machen durfte, was sie wollte.
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