«Das Leben ist seltsam«, sagt sie und scheint einem ähnlichen Gedanken zu folgen wie er.»Ich wollte dem alten Knacker nicht recht geben. Koste es, was es wolle. Am Ende hat es mich über drei Jahre gekostet.«
«Und mich.«
«Stimmt. Sonst wäre ich heute von dir geschieden statt von George. «Sie klatscht in die Hände und freut sich über die böse Bemerkung. Einige der Briefe auf dem Tisch beinhalten flehende Petitionen, in denen er vergebens seine Liebe, ihre Vernunft und allerlei andere Dinge beschwört, die Sandrine ihrem angeborenen Stolz unterordnete. Ehrgeiz im eigentlichen Sinn hat sie nie besessen. Nie des Geldes wegen gearbeitet; in ihrer Familie war Geld immer vorhanden, zusammen mit einem Ferienhaus im Luberon, dem Kindermädchen Bernadette und den neurotischen Eltern, die nur am Tisch miteinander sprachen.
Sie rückt ein Stück näher an ihn heran und legt den Kopf an seine Schulter.
«Hast du geglaubt, dass es so sein würde? Heute.«
«Allenfalls hatte ich gehofft, du würdest weniger auf mir rumhacken.«
«Ich hatte Angst, dass es sich überflüssig anfühlen könnte. Ein Wiedersehen nach so vielen Jahren. All der emotionale Aufwand, nur um gemeinsam alte Erinnerungen aufzuwärmen. Wozu?«
«Du kannst zwar gemein sein, aber berechnend bist du nicht. Das hast du bestimmt nicht gedacht.«
«Was macht dich so sicher?«
«Nichts. Ich glaube es nicht.«
«Trotzdem stimmt es. Ich war nahe dran, dir abzusagen.«
Als Hartmut ihr einen zweifelnden Blick zuwirft, will sie von ihm wegrücken, aber er legt einen Arm um ihre Schulter und hält sie fest. Sandrine faltet die Hände im Schoß, bevor sie weiterspricht.
«Ich wollte nicht davon anfangen, aber wenn du unbedingt darauf bestehst. Hör mir zu, und mach kein betroffenes Gesicht. Okay? Ich meine es ernst.«
«Ich höre dir zu.«
«Es besteht kein Grund zur Betroffenheit, ich bin wieder völlig gesund, wie vorher. Ich kann sogar klettern, auch wenn die Ärzte das für riskant halten. «Sie scheint sich in Ruhe die nächsten Sätze zurechtzulegen, und Hartmut schickt einen Blick durch den Raum. Neben seinen Füßen liegt ein mit Lesezeichen gespicktes Buch, dessen Cover zwei Männer vor der offenen Fahrertür eines Autos zeigt. Ein Weißer im dunklen Anzug und ein Schwarzer, der die weiße Arbeitsjacke eines Kochs oder Friseurs trägt. Vielleicht ist er der Chauffeur. Beide schauen mit ernsten Mienen am Fotografen vorbei, als wären sie durch jenes namenlose Verhängnis verbunden, von dem Faulkner geschrieben hat. There Goes My Everything — White Southerners in the Age of Civil Rights heißt der Titel. Offenbar interessiert Sandrine sich immer noch für ihr altes Thema.
«Letzten Winter«, sagt sie und zeigt auf das Buch,»hatte ich einen Lehrauftrag in Nanterre. Ein Mal in der Woche ein Seminar, immer Donnerstagnachmittag. Schwarz und Weiß in Amerika. Ein Thema, das unter meinen Bekannten ein derart sorgsam verstecktes Desinteresse hervorruft, dass ich alleine deswegen immer wieder davon anfangen muss. Es gibt nichts Demaskierenderes als die Maske selbst. Übrigens ein Satz vom alten Carson Becker.«
Hartmut lehnt sich gegen die Sitzfläche des Sofas und ist froh, dass Sandrine die Umarmung nicht löst, um zu erzählen.
«Letzten Winter also«, sagt er.
«Wir saßen im Seminar und haben über einen Text gesprochen. Das heißt, ich hab eine Passage vorgelesen, auf Englisch, und sie grob übersetzt. Es ging um McClung versus Katzenbach, wenn du dich erinnerst. Um präzise zu sein, hatte ich mir mehr Notizen gemacht als sonst. An einem Punkt hab ich aufgeschaut in die Reihe der Gesichter. Wollte sehen, ob alle wach sind. Zwei Fenster standen offen, von draußen kam Baulärm herein. Alles ganz normal, ein sonniger Tag und das mittlere Aufmerksamkeitsniveau, an das ich mich inzwischen gewöhnt habe. Ich dachte: So, dann weiter im Text. Die Argumentation vor dem Berufungsgericht. Aber ich konnte nicht sprechen. Ich weiß immer noch nicht, wie ich es beschreiben soll. Von einem Moment auf den anderen war alles weg. Kein Wort mehr, kein Satz, keine Sprache. Ich war wach und bei Sinnen, und es hat nicht weh getan. Im Grunde wusste ich sogar, was ich sagen wollte. Bloß hatte dieses Etwas keine Form. Als ich auf den Zettel geschaut habe, standen dort Wörter in meiner Handschrift, aber auch nur ein einziges davon vorzulesen kam mir vor wie eine Herkulesaufgabe. Wo anfangen? Die Studenten wurden unruhig; alle haben mich angesehen und miteinander getuschelt. Später hab ich gehört, wie eine Studentin zu den Sanitätern sagte: Sie hat fast zwei Minuten stumm vor sich hin gestarrt. Und ich dachte: Zwei Minuten, was für ein Quatsch! Ich musste mich doch nur für ein paar Sekunden sammeln. Gleichzeitig wusste ich, dass ich einen komischen Eindruck mache, also wollte ich mich entschuldigen. Ging aber auch nicht. Stattdessen hab ich mich brabbeln gehört! Unverständliche Laute, die aus meinem Mund kamen. Was soll der Blödsinn, dachte ich. Ich war nicht schockiert, sondern verärgert. Dann hat jemand sein Handy aus der Tasche gezogen und begonnen zu telefonieren. Das hat mich so was von empört. Jetzt machen die, was sie wollen! Aber ich konnte nichts sagen. Die Welt stand mir vor Augen wie immer, und ich war eingeschlossen in mir selbst. Obwohl ich denken konnte, vielleicht sogar präziser und kleinteiliger als normal, aber ohne Ordnung. Das merkwürdigste Gefühl. Übrigens hab ich mich wirklich auf deinen Besuch vorbereitet. Hab ein paar Begriffe nachgeschlagen, weil ich genau wusste, früher oder später muss ich dir die Geschichte doch erzählen. Irgendwo auf dem Tisch liegt mein Spickzettel. «Sie beugt sich nach vorne, um danach zu suchen.»Je älter ich werde, desto mehr ähnele ich dir. Geheuer ist mir das nicht.«
«Such nicht nach dem Zettel. Was hattest du?«
«Technisch gesehen war’s eine Art Schlaganfall. «Ihr Gesicht kann er nicht sehen, weil sie sich über den Tisch streckt und in den Papieren wühlt.»Bloß, dass du immer wusstest, wo deine Sachen liegen.«
«Ein… was? Was heißt ›technisch gesehen‹?«
«Das ist eine Formulierung, die ich benutze, um nicht sagen zu müssen, ich hatte einen Schlaganfall. Hier ist er. «Mit einem gelben Notizzettel in der Hand lehnt sie sich wieder zurück und blickt auf die Einträge.»Denk bitte an unsere Abmachung, kein betroffenes Gesicht.«
«Erzähl, Sandrine!«
«Der Student mit dem Handy hat später gesagt, seinem Großvater sei dasselbe passiert, deshalb hat er die Situation erkannt und den Notarzt gerufen. Tja, ich hab einen Aussetzer im Seminar, und durch die Tür kommen Sanitäter. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich auf einer Trage transportiert. Mit Blaulicht und Martinshorn durch die Stadt. Ich konnte die Leute um mich herum genau verstehen. Der Fahrer hat zu jemandem gesagt: Ich komm um vor Hunger. Und ich dachte: Schokolade in der Tasche. Scho-ko-la-de. Es erschien mir schon weniger kompliziert, aber dann gingen die Türen auf, und ich bin weitergeschwebt. Hier. Bei uns sagt man UNV. «Der erste Eintrag auf ihrem Zettel.»Auf Englisch heißt es Stroke Unit.«
«Du hattest einen richtigen Schlaganfall?«
«Nein, Hartmut. Ich versuche dich zu unterhalten, wenn du extra aus Bonn kommst. Einen Schluck Wein dazu?«Sandrine muss den Hals verdrehen, um ihn anzuschauen. Nicht streng, eher peinlich berührt, als wollte sie sagen: Lass dich von meinem Tonfall nicht täuschen. Also hält er den Mund. Am Beginn ihrer Geschichte hat er sich an das erste Auftreten seines Ohrgeräuschs erinnert, den kurzen Aussetzer seines Verstandes an jenem Abend. Sandrines Fall ist offensichtlich ernster.
«Die Abteilung«, sagt sie,»kannst du dir vorstellen wie eine Hotelküche um acht Uhr. Im ersten Moment ist alles an mir vorbeigerauscht. Es geht viel zu hektisch zu, als dass man irgendwas in sich aufnehmen könnte. Time is brain, lautet das Motto. Ich wurde auf Lähmungen untersucht, kam in eine Röhre und wieder raus. Die Ärzte haben eine Reihe von Tests gemacht, wie im Kasperletheater. Fassen Sie sich mit der rechten Hand ans linke Ohr! Sprechen Sie mir nach! Ich konnte schon wieder reden, langsam zuerst, weil ich Angst hatte, dass nur Gebrabbel kommt, aber nach einer Weile war alles normal. Wenige Stunden. Es war der berühmte Schuss vor den Bug, wurde mir später gesagt. Der Körper gibt zu bedenken, dass für sein Funktionieren keine Garantie besteht. Man ist an einen launischen Vertragspartner gebunden. Genau genommen besteht gar kein Vertrag. Man hat so lange Glück, bis es einen verlässt.«
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