— Was?
— An welcher Stelle sind Sie denn ausgestiegen? fragte Ferenc freundlich.
— An keiner, ich… Vielleicht können wir kurz vor die Tür gehen?
— Sì, certo, sagte Ferenc. Es befindet sich ohnehin auf der Rückseite des Gebäudes.
Ich folgte ihm einen Gang entlang, der an einer Küche vorbeiführte, dann kamen die Toiletten (Strichmännchen und Raketenweibchen), schließlich traten wir durch eine Tür in einen Innenhof. An der Mauer gegenüber sah ich zwei Eingänge, beide mit Gegensprechanlage und Ziffern-Pad. Dazwischen eine schmale Blechtür, auf der ein Vorsicht-Elektrizität-Zeichen angebracht war: ein zackiger Pfeil, der ein dickköpfiges Strichmännchen in den Bauch traf. Herr Ferenc schloss diese Tür mit einem Schlüssel auf, der an einem kleinen silbernen Ufo hing. Stufen, die nach oben führten. Die Beine eines Mannes waren zu sehen, der auf einer höheren Treppenstufe stand. Er kam einige Schritte herunter, bis er auf Straßenniveau war.
Er lächelte, als er Ferenc erkannte, und begrüßte uns.
Ich hob die Hand, da ich plötzlich Angst davor hatte, den fremden Mann meine Stimme hören zu lassen.
— Combien? fragte Ferenc.
Der Mann öffnete seine Hand und zeigte: fünf.
— Et sur le toit?
Zwei Finger verschwanden.
Herr Ferenc nickte.
Dann stieg er die äußerst schmale Treppe hoch. Ich folgte ihm. Der Mann wandte sich demonstrativ von mir ab, als ich mich an ihm vorbeidrängte. Als mein Gesicht für einen kurzen Augenblick ganz nah an seinem war, be-
schirmte er sogar seine Augen mit einer Hand.
— Wir gehen gleich direkt aufs Dach, sagte Herr Ferenc.
Auf dem Dach angekommen, hatte ich das Gefühl, dem bewölkten Brüsseler Himmel sehr nahe zu sein. Es war erstaunlich warm hier oben. In einer Ecke saßen drei Männer. Kameras oder etwas Ähnliches baumelten um ihren Hals. Als ich näher an sie herantrat, erkannte ich, dass es Atemschutzmasken waren.
Die Männer spielten Karten. Neben ihnen auf dem Boden standen Bierflaschen. Blanche de Bruxelles. In einiger Entfernung von ihnen standen ein paar größere Spielzeugautos herum, die von Wind und Regen schmutzig und verblichen waren. Einem kleinen Bagger, etwa in der Größe einer Ratte, fehlten alle vier Reifen. Ein Polizeiauto lag auf der Seite, wie nach einem Unfall.
— Pause, sagte Herr Ferenc und deutete auf die Männer.
Sie winkten ihm zu.
Wir gingen zurück ins schmale Treppenhaus.
— Was ist das hier? fragte ich.
— Traitement sudorifique, sagte Herr Ferenc.
— Was bedeutet das?
— Cure de transpiration.
Ich sah, was Ferenc meinte. Der Mann auf der Treppe schwitzte ganz außerordentlich. Er schien von uns, die wir zwei Treppenstufen über ihm stehen geblieben waren und sich über ihn unterhielten, keine Notiz zu nehmen. Sein Kopf war frisch geschoren wie der eines Klosternovizen. Auf seinem Hemdrücken zeichnete sich ein riesiger v-förmiger Schweißfleck ab.
— Ah, fuck you, sagte er leise, und ein Schaudern ging durch seinen Körper.
Er streckte den Arm aus und berührte mit junkieartig verkrümmten Fingern die Wand. Als wäre sie brennend heiß, zuckte er zurück, führte die Finger schnell zum Mund und saugte an ihnen. Ich machte den Versuch und berührte die Wand ebenfalls. Eine gewöhnliche, kühle Mauer.
— Voulez vous lui donner un coup de pied?
— Was?
— Haben Sie Lust, ihn zu treten?
— Warum sollte ich das tun?
Herr Ferenc stieg eine Stufe nach unten und berührte den Mann sanft am Kopf. Der Mann zuckte zusammen und wand sich, als hätte man ihm einen brutalen Schlag verpasst. Dann holte Herr Ferenc aus und boxte ihm mit ganzer Kraft gegen die Schulter. Der andere schien den zweiten Schlag gar nicht zu bemerken, sondern hielt sich weiter jammernd die Stelle am Kopf, die ihm augenscheinlich sehr weh tat.
— Das ist die neue Lieferung. Da hinter der Wand. Ist gestern Morgen angekommen. Morgenstund’ hat Gold im Mund. Und ich hab mir das für ihn überlegt. Hier.
Herr Ferenc zeigte mir das kleine Spielzeugmodell einer Seilbahn, noch originalverpackt.
— Kommen Sie morgen wieder, sagte er. Dann gehen wir rein. In den Tank.
Im Hotel lag ich in der Badewanne und goss mir mit der hohlen Hand warmes Wasser über den Kopf. Eine Kelle nach der anderen. Nach einer Weile rief mich Julia an und fragte, was denn los sei. Ohne mir die Mühe zu machen, nachzufragen, warum und woher sie wisse, dass etwas nicht stimmte, erzählte ich ihr von dem grauenvollen Gespräch mit Ferenc, dem bizarren Treppenhaus, der originalverpackten Modellseilbahn, dem Video und schloss mit der Beschreibung der eindrucksvollen Stahlkonstruktion mit den Raben gestern im Park, als mich Julia unterbrach und sagte, zu Hause habe vor einer Stunde oder so eine etwas verstört wirkende Frau angerufen, die sie zuerst gar nicht verstanden habe. Gudrun Stennitzer.
— Okay, ich rufe sie gleich zurück.
— Ja, tu das.
– Übermorgen bin ich wieder zu Hause, murmelte ich, bevor ich mich von Julia verabschiedete.
Ich wählte die Nummer. Roaming-Gebühren, dachte ich müde.
— Stennitzer?
— Frau Stennitzer, wie geht es Ihnen?
— Oh, Herr Setz! Danke, dass Sie zurückrufen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas Wichtigem.
— Nein, ich bin nur gerade in… ach, egal. Was kann ich für Sie tun?
— Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe? Sind sie vielleicht gerade unterwegs? Oder im Ausland?
— Nein, alles okay, ich bin zu Hause.
— Sicher?
— Ja, ich bin mir sicher.
— Okay, sagte sie. Zu Hause. Ja, also… Ich wollte Ihnen nur sagen, dass alles glücklich verlaufen ist.
— Was denn?
— Ach, Herr Setz, sagte sie kichernd, als hätte ich einen Scherz gemacht. Na ja, Sie können sich sicher vorstellen, was so ein Transfer für einen jungen Menschen wie Christoph bedeutet. Er ist innerlich so eigenartig, wissen Sie. Er ist nicht wie andere Menschen, er ist eher wie eine Landschaft, das heißt ganz in seinem Inneren, manchmal kommt er mir vor wie eines dieser Lagerhäuser von großen Betrieben, was weiß ich, IKEA oder Ähnliches, diese Hallen entlang irgendwelcher Straßen, die alle aus der Stadt hinausführen, verbaute Areale, wo man nichts Geborgenes, keinerlei Anhaltspunkt findet, außer vielleicht ein paar grasbewachsene Streifen, wissen Sie? So wie diese kleinen Grüninseln zwischen den Parkplätzen. Aber sonst… nur Hallen und schmutziger, nasser Stahl und Industriemüll auf Gabelstaplern und so weiter, wie in der Anfangssequenz von diesem schrecklichen, düsteren russischen Science-Fiction-Film, mein Gott, den hab ich vor Jahren einmal gesehen, und seither habe ich immer Angst, dass ich eines Nachts beim Herumzappen plötzlich wieder hineingerate. Ich schalte meistens sofort weiter, wenn ich auf einen Schwarzweißfilm stoße und die Schauspieler nicht sofort erkenne.
Ich goss mir noch einmal Wasser über den Kopf. Dabei musste ich das Handy ein wenig in die Höhe halten, damit es nicht nass wurde. Die Charakterisierung von Christophs Innenleben hatte mich durcheinandergebracht. Wieder hatte ich das Gefühl, eine vorbereitete Aussage, wie sie ein gekaufter Zeuge vor Gericht macht, gehört zu haben. Und mir ging ein Satz aus Josef Winklers erstem Roman durch den Kopf: Ich bin menschenleer. Der Zeitpunkt, an dem ein Wesen tatsächlich aufhört, sich von anderen bewohnt und bevölkert vorzukommen, und dieser beängstigende Punkt in der Geschichte, als den Menschen klarwurde, dass sie keine Homunculi in sich trugen, dass der Mann in seiner Samenflüssigkeit keine mikroskopischen Kopien seiner selbst in die Frau einpflanzt, die dann in gleichbleibender Proportion der Glieder vor sich hin wachsen. Wie muss sich diese plötzliche Erkenntnis angefühlt haben, dass wir von Aliens bewohnt werden, Bakterienkulturen und Hautmilben, die sich von abgestorbenen Schuppen und Zellen ernähren und den ganzen Tag, wie treue Hausmeister oder Platzwarte, auf einem winzigen Hautareal, das wahrscheinlich nicht viel größer als eine Briefmarke ist, herumwandern und ihre mechanische Abgrasarbeit verrichten? Die Diskussion in Swifts Gulliver fiel mir ein, wo Gelehrte des Hofs von Brobdingnag, des Landes der Riesen, darüber diskutieren, ob dieser kleine Mensch, den sie in einem Feld gefunden haben, nun eine Art Automaton, ein sprachgelehrtes Uhrwerk ohne Seele, oder tatsächlich ein Mensch sei. Wenn ich mich recht erinnerte, wird die Streitfrage, trotz Gullivers Fähigkeit zur intelligenten Interaktion mit den Gelehrten, erst durch die Vermessung seiner Glieder zu seinen Gunsten entschieden. Ich betrachtete meine schaumige Hand, von der die Wassertropfen fielen. Und hatte nicht der Arzt Sir Thomas Browne im siebzehnten Jahrhundert in einer Abhandlung von seinem seltsamen Schauder berichtet, als er beim Sezieren eines Gehirns eine Windung entdeckte, die ihn — auf ähnliche Weise, wie es der Mann im Mond schon seit Jahrhunderten tut — selbst bei geringem Fantasieaufgebot an eine winzige menschliche Gestalt erinnerte, eine Art stille, nicht mehr benötigte Bauanlei-tung für das Ganze, das tot vor ihm auf dem Operationstisch lag? Bestimmt hatte er sich gefragt, ob nicht auch in seinem Gehirn so eine Form vorhanden war, die in diesem Augenblick die exakt gleichen Bewegungen (das Schneiden, das Durchtrennen von Gewebe, das Festhalten, Drehen und bei Licht Studieren) ausführte wie er und vielleicht zu diesem unerhörten Kunststück wiederum einer verkleinerten Version ihrer selbst bedurfte, und immer so weiter, bis in alle Ewigkeit, ein fraktaler Vorgang wie bei Benoît Mandelbrots heiligem Apfelmännchen, das nach langem, langem Tiefenzoom durch die Randbezirke seiner verschiedenfarbig schillernden Täler und Seen und Inseln uns immer wieder sich selbst präsentiert, in seiner Winzigkeit wunderbar konserviert und identisch mit dem Großen, eine in beide Richtungen fortsetzbare unendliche Reihe.
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