
— Hallo? Sind Sie noch da?
Ich blickte auf. Im beschlagenen Badezimmerspiegel hatte jemand eine Fingerschrift-Nachricht hinterlassen. Aber sie war zu unscharf und zu oft überhaucht worden, als dass man sie noch hätte lesen können. Wunderblock.
— Ja, sagte ich. Was? Äh, ist nur Wasser. Hält das Gehirn wach.
Frau Stennitzer machte ein Geräusch, als sauge sie an einer Zigarette. Dann hustete sie und sagte:
— Ja, Wasser ist notwendig für… Aber Herr Setz, störe ich Sie wirklich nicht?
— Nein, sagte ich, ich bin nur gerade in der Badewanne… Ich bade gern, wissen Sie.
— Ach so. Ja. Natürlich. Sie sind in der Badewanne. Na, dann will ich Sie –
— Nein, Sie stören mich ja nicht. Sie wollten mir gerade von Ihrem Sohn erzählen, und ich hab dann… ich war kurz abgelenkt.
Die Kopfschmerzen wurden von dem Wasser, das ich mir ständig über die Stirn goss, zwar ein wenig besser, aber als Frau Stennitzer zu sprechen begann, kamen sie wieder. Eine Sonne, die hinter dem Bergrücken wartete und jeden Augenblick unvermittelt aufgehen konnte.
Ich schloss die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Ich sah fraktale Wirbel vor mir, das Seepferdchental. Männchen, die schwanger werden und winzige Kopien ihrer selbst in die Welt entlassen. Söhne, Planeten.
— Ja, also, sagte Frau Stennitzer. Deswegen rufe ich Sie ja an. Christoph lässt Sie grüßen, er hegt wirklich keinen Groll gegen Sie, Herr Setz. Und die Artikel, na ja, die liegen ja jetzt auch schon eine ganze Weile zurück, nicht? Ja, und… Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie jederzeit bei mir willkommen sind und dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Christoph hat zwar, da will ich gar nicht drum herumreden, seine Probleme mit dem Transfer gehabt, natürlich, er kommt ja schließlich in das Alter, aber ich denke mir, trotz allem, es wäre nicht fair, wenn ich es nicht versucht hätte, oder?
— Ja, sagte ich.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprach.
— Wissen Sie, er ist in letzter Zeit oft lang spazieren gegangen. Und dann habe ich mir immer gesagt, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche, dass es ihm gutgeht, wo immer er sich zurück… wo immer er ist. Er hat die Natur sehr gern. Und die paar Besuche im Hallenbad damals, ich meine, gut, das war wahrscheinlich einfach eine Art Rückzug. Ich langweile Sie hoffentlich nicht, Herr Setz?
— Wie? Ich hab nur…
Ich plätscherte ein wenig in meinem Badewasser.
— Na, ich will Sie auf keinen Fall langweilen, Herr Setz, das Letzte, was ich will, wäre, Ihnen Ihre kostbare Zeit zu stehlen, die Sie bestimmt brauchen für… fürs Schreiben und Recherchieren und was immer Sie tun, wenn Sie Ihren nächsten Artikel –
— Sagen Sie, darf ich Sie etwas fragen?
— Bitte.
— Es ist mir ein bisschen unangenehm, dass ich ausge-rechnet Sie… ich meine, das soll jetzt nicht beleidigend klingen, aber… Kennen Sie zufällig ein gutes Mittel gegen Kopfschmerzen? Ich meine, Sie müssten ja …
— Erfahrung damit haben?
— Ach, das ist wirklich dumm, entschuldigen Sie.
— Nein, Herr Setz, gar nicht. Ist gar nicht dumm. Ich hab tatsächlich schon einiges ausprobiert. Welche Art von Kopfschmerz ist es denn? Mit Schwindel?
— Ja. Ein bisschen.
— Und wie ist der Schwindel? Mehr drehend oder einfach nur ein Gefühl von fehlender Orientierung… oder sitzt der Schwindel tiefer, weniger im Gleichgewichtssinn, sondern sozusagen im Kern. Sie wissen bestimmt, was ich meine.
— Eher das erste.
— Einfach nur Drehung?
— Ja, wenn ich mich zurücklehne. Und dazu diese rasenden Kopfschmerzen.
— Und Sie sind allein?
Eine Pause entstand. Sie hatte diese Frage nicht anders betont als alle anderen. Sachlich interessiert. Eine Frau, die wusste, wovon sie sprach.
— Also da gegen, Herr Setz… Nun ja, da gegen… gibt es nichts. Nichts, was mir auf die Schnelle einfallen würde. Außer Schmerzmittel. Massenweise Schmerzmittel. Aber davon gehen die Symptome meist nicht weg.
— Okay, sagte ich.
— Massenweise Schmerzmittel. Eins über dem anderen, zu einer Pyramide gestapelt. Aber achten Sie auf ausreichend Abstand zwischen den einzelnen Tabletten. Sonst könnte es zu einem Missverständnis in Ihrem Körper kommen.
— Danke. Ich werde versuchen –
— Mir fällt noch etwas ein. Ein Ortswechsel, vielleicht? Das tut auch manchmal gut. Fahren Sie in den Norden. Da sind die Nächte angenehmer. Ich kann das leider nicht. Ich muss immer hierbleiben.
— Residenz Verlag, sagte ich leise.
— Wie bitte? fragte Frau Stennitzer.
— Ich hab gesagt, Re… Ach, bitte entschuldigen Sie, mir ist nur gerade etwas durch den Kopf gegangen. Ein kleines Störsignal sozusagen, eine Interf… äh, Sie verstehen bestimmt, was ich…
— Ja, Sie machen einen verwirrten Eindruck, Herr Setz, sagte sie und legte grußlos auf.
10 Eine eigentümliche Einrichtung
Robert hatte das Gefühl, dickflüssigen Sirup durch die Augen getrunken zu haben. Um sich abzukühlen, starrte er auf einen ungefährlichen Fleck an der Wand. Ein Mal, das nichts mit ihm und dem Rest der Menschenwelt zu tun hatte.
Er hatte den Inhalt der Mappen fast komplett durchgelesen.
Magda T., friedliche Anwendung von Indigo-Potenzial, Oliver Baumherr, Ferenc.
Selbst wenn er die Augen schloss, standen die Begriffe vor ihm — derselbe Effekt, der sich einstellte, wenn man vor dem prächtigen leeren iSocket in der Annenstraße stand, mitten in der Nacht, wenn oben im Himmel nur wenige Sterne und unten auf der Erde nur wenige Lichter unterwegs waren.
Das Telefonbuch schien angenehm überrascht, dass er es, nach so vielen Jahren totaler Missachtung, innerhalb weniger Tage ein zweites Mal konsultierte. Es zirpte leise und kontinuierlich, während er den Namen suchte.
Hofrat Prim. Univ-Prof. Dr. Otto Rudolph.
Robert musste lachen. Er stellte sich vor, die über den Namen des Mannes hinausragenden Titel abzubeißen wie eine überstehende Zellophanhülle. Wie bei einer Zuckerstange, die man aus der Verpackung nimmt und wegknabbert bis auf einen kleinen Stummel, und den Stummel legt man dann zurück in die Hülle. Oder wie eine viel zu lange Vorhaut.
Robert schlug mit der Faust auf den Boden. Das Telefonbuch zirpte und wich ein wenig zurück.
In seinem Zimmer suchte er sich den Matrix-mäßigsten Mantel aus dem Schrank, den er finden konnte. Dazu eine Sonnenbrille. Es war ein wolkenverhangener Tag, aber egal. It’s 106 miles to Chicago, Robin, we got a full tank of gas, half a pack of cigarettes, it’s dark, and we’re wearing sunglasses. Kurz dachte er daran, seinen Darth-Vader-Helm mitzunehmen, aber er ließ ihn im Schrank liegen.
Als er auf die Straße ging, fing es gerade zu regnen an.
Auf seinem Weg begegnete er einem fröhlichen Festumzug aus zwanzig bis dreißig Leuten, der sich durch eine schmale Seitengasse schob. Er sah die mit Tröten und bunten Fahnen ausgerüsteten Menschen aus einiger Entfernung. Sie kamen auf ihn zu. Sofort machte er kehrt, lief aus der Seitenstraße und hielt sich für den Rest des Weges an die Hauptverkehrswege.
Der Portier schrieb sich Roberts Namen ganz genau auf, und der iBall über ihm in der kleinen Kabine sah verschreckt und paranoid aus, wie ein zu lange in einem Käfig gehaltenes Tier. Robert winkte ihm zu. Keine Reaktion.
Es wurde telefoniert, in Gegensprechanlagen gesprochen. Sogar ein kleiner Schlüssel wurde in guter James-Bond-Endboss-Manier in ein Schloss mitten auf dem Schreibtisch gesteckt und umgedreht. Dann wurde er durchgelassen.
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