— Hallo, Herr Tätzel!
Sie beschirmte auf eine alberne Weise ihr Gesicht mit den Händen, als sie sich zu ihm wandte. Okay, gar nicht so albern, ein Sonnenstrahl fiel direkt auf sie. Sonst herrschte Schatten im Garten.
— Morgen, sagte er.
— Wie geht’s Ihnen?
Er schaute die Nachbarin an. In seiner Hand lag der Schraubenzieher. Er machte einen Schritt vorwärts, sie lächelte, der Rand der Großen Seifenblase schob sich ins Leere, erwischte die Frau nicht. Ohnehin um einige Meter verschätzt. Er wusste gar nicht mehr, wo sein Zonenrand gewesen war, Herbst und Schatten, die Stimmen der anderen Dingos, verloren herumrollendes Gemüse auf einem schattseitigen Berghang am Semmering.
— Tut mir leid wegen letztem Mal, sagte er.
Nein, er hatte das nicht laut gesagt. Er hatte es ja nicht mal gedacht, also konnte sein Mund auch unmöglich –
— Schon okay, sagte sie.
Eine Wäscheklammer wurde festgehalten, ihr Maul geöffnet, wie ein zahmer Piranha an die richtige Stelle geführt, und durfte dort zubeißen. Frau Rabl führte diese Bewegungen mit einer gewissen Anmut aus. Wahrscheinlich war sie alleinerziehend. Robert hatte sie noch nie mit einem Mann gesehen. Auch der Junge war …
— Wie geht’s Ihrem Sohn?
Okay, ich schalt mich weg, dachte er. Tu doch, was du willst, du Sack. Du dreckiger Dingo.
— Danke. Ihm geht’s gut. Jetzt ist ja Gott sei Dank wieder Schule.
— Ah ja.
— Wo sind Sie denn zur Schule gegangen, Herr Tätzel?
Robert öffnete seinen Mund. Sein Gehirn hatte die Arme beleidigt vor der Brust verschränkt und schaute woanders hin. Tu doch, was du willst.
— In der Helianau, das ist –
— Ach so, sagte die Nachbarin. Natürlich, Entschuldigung.
— Nein, ist schon okay. Ich … Wissen Sie, meine Freundin … Sie …
Er machte eine Geste.
— Oh, du liebe Zeit, was ist denn passiert?
— Sie ist gegangen.
Warum erzählst du ihr das? Die Nachbarin ließ die kleinen bunten Piranhas zurück in den Eimer fallen und kam auf ihn zu. Sie fasste ihn an der Schulter. Warum musstest du ihr das unbedingt erzählen? Sie war wirklich eine sehr kleine Frau. Und kugelrund, vor allem im Gesicht. Robert fühlte, wie sich ihre Form, der Raum, den sie auf Erden beanspruchte, sanft gegen ihn wölbte. Warum bist du so ein jämmerlicher Idiot?
— Warten Sie, gehen wir rein, sagte sie. Das ist ja schrecklich.
Er ließ sich von ihr ins Haus begleiten. Eindeutig alleinerziehend. Vorsichtige Schritte. Glücklich über Gesellschaft.
— Dann waren Sie also in dem Helianau-Institut, ja? Ich hab mir schon gedacht, dass Sie da …
— Warum?
— Na ja, weil Sie … äh …
— Ist schon gut, sagte er. Ich ziehe Sie nur auf.
— Das ist ein schrecklicher Fall, finden Sie nicht?
— Was?
— Na, der Lehrer von dort. Der einen Mann umgebracht hat.
— Ah, ja.
— Er war eigentlich jahrelang Lehrer am Oeversee-Gymnasium, aber das erwähnt er nie! Immer heißt es nur: Helianau, Helianau. Ich glaube, er macht diese Schule für seine Verbrechen verantwortlich.
— So, aha, sagte Robert.
Die Frau begann ihm zu gefallen.
— Entschuldigen Sie, dass ich Sie gleich damit überfallen habe, lachte die Nachbarin. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass Sie in dieser Schule waren.
Sie trat einen Schritt auf ihn zu:
— Haben Sie ihn gekannt?
Ich habe gerade gestern versucht, ihn zu besuchen. Unangemeldet. Setze meine eigene Haut aufs Spiel, sozusagen.
— Nein, sagte Robert.
— Ach, sagte die Frau.
Sie schien ein wenig enttäuscht.
— Ich weiß nur, dass er Bücher schreibt. Und einem Mann bei lebendigem Leib –
— Aber die haben ihn freigesprochen! Haben Sie’s nicht gelesen?
— Doch.
— Ja, ich finde auch, dass das ein Skandal ist. Leute, die so etwas tun, schickt man doch nicht in die Gesellschaft zurück, als wäre nichts gewesen! Dass so ein Mann jahrelang mit Kindern zu tun hatte. Schauen Sie, hier!
Sie hielt Robert ein Buch hin. Er nahm es in die Hand.
— Ich hab’s noch nicht gelesen. Aber ich hab’s mir natürlich sofort gekauft, wissen Sie. Denn in einem Interview hat er jetzt behauptet, dass das Buch einen Code enthält. Er hat es damals geschrieben, als er … ah, wie war das … Er … er behauptet, dass es irgendwie seine Unschuld beweist.
— Das hier?
— Ja. Wenn Sie mich fragen, ist der krank. Einfach krank. Redet um sein Leben. Ganz besonders jetzt, wo er frei ist.
— Was bedeutet denn der Titel?
— Keine Ahnung. Aber der Roman war gar nicht leicht zu bekommen. Überall ausverkauft, wegen dem Fall. Dem Freispruch! Ein Skandal ist das, in was für einer Welt wir leben. Ich als Mutter … ich will mir gar nicht vorstellen, in was für einer Welt mein Sohn einmal leben wird.
— Was soll denn das Buch mit seiner Unschuld zu tun haben?
— Keine Ahnung, irgendeine Art Code, oder so. Aber wenn Sie mich fragen, das ist vollkommener Schwachsinn, ein Verkaufstrick. Asche.
— Asche?
— Na ja, Asche, sagte sie.
Und deutete auf ihre Stirn, als befinde sich dort ein entsprechendes Mal.
— Worum geht’s?
— Ach, ich hab keine Ahnung. Das ist so verworren. Ein junger Mann, der sich umbringt, und dann gibt sein Vater ein nachgelassenes Manuskript seines Sohnes heraus. Und dieses Manuskript wird am Ende irgendwie verbr… nein, das ist ein anderes, ach, das Buch ist total …
Sie nahm einen Apfel, legte ihn sich auf den Kopf und machte mit ihrem Zeigefinger Schießbewegungen ( P’tschiu, p’tschiu! ), um ihren Eindruck von dem Buch zu illustrieren. Dann lachte sie, und auch Robert lachte. Ja, ihm gefiel die Frau.
— Hat der Mann Sie neulich eigentlich gefunden? fragte sie, immer noch lachend.
— Was für ein Mann?
— Ein Mann, der war da … im Hof, und er hat mich gefragt, ob ich Sie kenne, und ich hab gesagt –
— Einen Moment, ein Mann? Wie hat er ausgesehen?
— Ach, ich weiß nicht, so … der Kopf kahl und etwa so groß und recht schmal. Vor allem hier an den Schultern. Hat er Sie gefunden?
Robert fühlte, wie starr sein Gesicht war. Er konnte sich nicht entschließen, irgendeinen Muskel zu bewegen.
— Ja, sagte er schließlich.
— Schön, sagte die Frau. Da bin ich beruhigt. Ich hab ihm nämlich nicht gesagt, wo Ihre Wohnung ist. Das hat ihn ein bisschen verärgert, glaube ich.
— Hatte der Mann …, begann Robert.
Aber dann fiel ihm ein, dass er ja gerade behauptet hatte, der Mann wäre bei ihm gewesen.
— Hatte der Mann … für Sie, ich meine, in Ihren Augen, nicht einen ziemlich … glühbirnenartigen Kopf?
Die Frau lachte. Dann sagte sie:
— Ja. Ich schätze ja. Hab ich nicht so betrachtet, aber … Ja.
— Er war also rund, Ihrer Meinung nach, so richtig glühbirnenförmig?
— Hihihi …
Mit dem Buch in der Hand war er aus der Wohnung gerannt. Frau Rabl hatte nicht einmal protestiert oder versucht, ihn zurückzuhalten. Er lief über die Straße, kam an einem Müllkorb vorbei, warf das Buch aber nicht hinein. Der Taxistand war leer. Es würde bestimmt nur zwei, drei Minuten dauern, bis die Wagen zurückkamen. Aber dann dauerte es vierzehn Minuten. In der Stadt fand gerade ein Augmented-Reality-Kongress statt, und es gab massenweise orientierungslos herumtaumelnde, sich in nur für sie sichtbaren Preisschildern oder im Dickicht herumschwebender Touristen-Informationsblasen verlaufende ausländische Gäste, die von allen zur Verfügung stehenden Taxis an diversen Straßenecken der Stadt abgeholt werden wollten.
Robert wartete auf einer Bank unter einem großen Baum, blätterte in dem Buch des Lehrers und kontrollierte, ob die Anfangsbuchstaben der Kapitel vielleicht einen Satz oder zumindest ein Anagramm ergaben.
Читать дальше