Dann sei ein anderer Mann gekommen und habe sie von dem ersten Mann weggeführt. Dieser zweite Mann sei um vieles zugänglicher und verständiger gewesen. Er habe sie nach ihrem Namen gefragt, nach ihrer Adresse, nach den Namen ihrer Eltern, nach ihrem Geburtstag, nach ihrer Lieblingseissorte, nach dem Namen ihres Kopfkissens, nach dem genauen Alter ihrer Fingernägel. Die wüchsen nämlich alle paar Wochen vollständig nach, meinte er, auch wenn man sie abzöge, als Ganzes — das sei zwar sehr schmerzhaft, doch könnte man sicher sein, dass sie irgendwann wieder da wären, so schön und lang wie vorher. Ihr sei es nicht möglich gewesen, all die Fragen des Mannes zu beantworten, also habe sie ihn gebeten, sie zu einem Telefon zu führen.
Darauf habe der Mann gelacht und gesagt, es sei ihnen selbstverständlich verboten zu telefonieren, davon bekäme man nur Strahlung in den Schädel und ein Satellit lade einen mit Elektrizität aus dem All auf, so dass man für mehrere Tage kampfunfähig im Bett liege, der Kopf so groß wie das Zimmer und die Hände so klein wie die roten Schwefelköpfe von Streichhölzern.
Irgendwann sei sie dann auch von diesem Mann weggezerrt worden, endlich habe man ihr zugehört und es sei auf einmal alles ganz schnell gegangen, sogar ein Telefon sei bereitgestanden und man habe für sie verschiedene Stellen angerufen. Nach einer halben Stunde bei den freundlichen und verständigen Menschen sei sie wieder allein gelassen worden und nach einer Weile sei der verständige Mann mit Bart zurückgekommen, der einen weißen Kittel getragen habe, und habe gesagt, ihm sei etwas übel und schwindlig, er habe sich wohl den Magen verdorben an dem elenden Fraß, den sie einem hier vorsetzen.
Obwohl ich nicht ganz verstand, was genau passiert war und was ich da gerade gelesen hatte, musste ich herzlich lachen.
Um die Aufregung vor dem Treffen mit Herrn Ferenc in den Griff zu bekommen, hörte ich mir ein paar Lieder der englischen Band Faithless auf dem iPod an: Mass Destruction, Insomnia und Bombs.
Außerdem war ich in der Stadt, in der Europa hergestellt wurde. Hier konnte man sich zumindest für einige Stunden zerstreuen. Ich schaute mir das pinkelnde Männchen an, die größte Attraktion der Stadt. Eine dichte Traube von Touristen umstand die winzige Skulptur. Eine italienische Touristin war vor lauter Staunen in Tränen ausgebrochen und fotografierte sie inbrünstig von allen Seiten.
Als ich wieder ins Hotel zurückkam, sagte der Mann an der Rezeption, jemand habe etwas für mich abgegeben.
— Voilà, sagte er leise, als er es mir übergab.
Ein Jenga-Stein. Etwas abgewetzt, aber noch gut erkennbar.
— Merci, sagte ich.
Ich hatte mit der Stimme am Telefon einen Treffpunkt in der Nähe meines Hotels vereinbart. In einem kleinen, grünbraunen Park voller Raben wartete ich darauf, dass mich jemand ansprach. Ich hielt den Jenga-Stein vor mich hin, gut sichtbar für alle, die vorbeigingen.
Die großen Vögel mit ihren vollkommen schwarzen, augenlos erscheinenden Köpfen staksten mürrisch über die Wiese und stöberten mit ihren Schnäbeln zwischen den Grashalmen nach Nahrung. In einiger Entfernung stand eine Stahlkonstruktion, die offensichtlich den Anspruch erhob, Kunst zu sein, und dadurch so vollkommen allen gegenwärtigen und zukünftigen Problemen der Brüsseler Bevölkerung enthoben und entrückt schien, dass es fast schon beleidigend wirkte.
— Jenga.
Herr Ferenc war eine eigenartige Erscheinung. Sein Gesicht zierten lange Koteletten, obwohl sich sein Haupthaar bereits deutlich gelichtet hatte. Er war auffallend dünn und hatte ungefähr so viel Schultern wie ein Ei. Wenn er lachte, bekam sein Ausdruck etwas Stillzufriedenes und Offenes wie der eines Faultiers.
Auf dem Weg hinaus aus dem Park überquerten wir eine Wiese, auf der eine große Eichenholztruhe stand, daneben lehnten zwei Menschen, die silbrig buntes Bühnengewand wie für eine Zauber-Show trugen, an einem Baum und rauchten Zigaretten. Drei Steinstufen führten uns von der Grünfläche hinunter auf den Gehsteig der Avenue des Azalées. Wir folgten ihr südwärts und betraten schließlich ein kleines Restaurant, in dem Herr Ferenc mit einer Verbeugung begrüßt wurde.
— Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben, sagte ich.
Herr Ferenc nickte nur.
— Sie müssen mein Deutsch entschuldigen, sagte er. Es ist angerostet.
Er sprach mit einem sehr leichten Akzent, der osteuropäisch klang.
— Wie sind Sie zu dem Namen Ferenc gekommen?
— Oh, sagte er. Auf dem Schwarzmarkt.
Er lachte.
— Es gibt für alles einen Schwarzmarkt. Auch für Namen. Auch für Aussehen. Einen gigantischen. Einen monströsen. Aber das Problem ist nie die Herstellung an sich. Das heißt, keiner weiß die Formel. Wie’s geht. Verstehen Sie? Ein richtiger, ein funktionierender Name.
Ich ließ die Kürbiscremesuppe von meinem Löffel zurück in den Teller tropfen, legte den Löffel hin und blickte ihn an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde weicher, mitleidiger. Er schüttelte den Kopf und sagte:
— Schrecklich, nicht?
Ich nickte.
— Aber so sind die Menschen eben, sagte er, steckte sich eine Gabel mit aufgewickelten Spaghetti in den Mund, kaute. Mmh… Mh… Sie sehen ihre Mitmenschen eben als Werkzeuge… mh… Manche Werkzeuge stehen erntebereit herum, man muss sie nur rechtzeitig in einen Lieferwagen stopfen und mit ihnen davonfahren. Andere muss man erst anpflanzen, wie zum Beispiel bei… Sagen wir, Sie brauchen ein kleines… einen Namen für ein Experiment, dann ist es doch kaum sinnvoll, diesen Namen irgendwo zu lokalisieren, die Tageszeiten auswendig zu lernen, wann er erreichbar ist, das heißt, wann ein kontrollierter Zugriff stattfinden kann und so weiter. Nein. Es wäre viel leichter, wenn Sie einfach eine Frau aus Osteuropa, die ungewollt mit einem Namen schwanger geworden ist, bezahlen, damit Sie ihren Namen haben können. Der Name ist nirgendwo registriert, also wird er auch nicht vermisst, wenn er –
Ich hob einen Finger.
Ferenc hob die Augenbrauen.
— Eine Frage, sagte ich. Was genau erzählen Sie mir da?
Er lachte. Dann sagte er:
— Die Welt ist ein kranker Ort. Es hilft nichts, wenn man sich die Finger in die Ohren steckt und Mimimimi sagt.
— Okay, sagte ich.
Er stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte, legte sein Kinn auf die Fäuste und blickte mich an. Drei, vielleicht vier Sekunden lang.
— Sie sind nicht naiv, sagte er in einem Ton, als wollte er Schach! ankündigen. Sie wissen genau, was ich meine. Für die meisten Menschen ist die Welt ein… un hypermarché du bricolage. Baumarkt. Regale, Regale, überall Regale, und jedes einzelne voller Werkzeug, das man benützen kann, bis es kaputt geht. Denken Sie nur an die Tiere. Sobald wir ein neues Tier entdecken, ist das Erste, was uns interessiert, die Frage, ob wir es essen können. Und bei uns ist es ganz gleich. Wenn ein Kind geboren wird, fangen die Leute an nachzudenken: Wozu könnte es gut sein? Wozu könnte es mir dienen?

Nach dem Essen, während dem ich Herrn Ferenc vor allem von Oliver Baumherr erzählen musste, wie es ihm ging, wie er seine Kollegen behandelte, gingen wir in seine Wohnung. Er führte mich über den Kunstberg hinauf zu einem Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich ein kleines Geschäft mit abstrakten Vogelskulpturen und Hüten im Schaufenster befand. Kleine Skulpturen und Hüte, nur diese beiden Dinge wurden dort verkauft, zu extrem hohen Preisen. Die Vogelskulpturen wirkten archaisch und hätten neben vielarmigen Götterstatuetten und erotischen Schnitzereien auf Dr. Freuds Schreibtisch in der Berggasse in Wien stehen können, während die Hüte herrenlos durch seine Träume schwebten und alles Mögliche bedeuteten, Zukunftsängste oder geometrisch beeindruckende Familienkonstellationen oder was auch immer, es gab ja keine Rettung aus der Deuterei, genauso wenig wie einen Notausgang aus der Geschichte.
Читать дальше