Während ich mich anzog, versuchte ich, wie vor einer Prüfung, noch einmal alle wichtigen Fakten über Magda T.s Relokation aufzusagen. Aber ich blieb beim Mann mit dem Pyramidenkopf hängen. Hatte ich das wirklich gelesen? Ich suchte in den Papieren nach der Stelle, konnte sie aber nicht mehr finden.
Im Frühstücksraum des Hotels trank ich einen starken Grüntee und stellte mir vor, davon immer wacher und konzentrierter zu werden.
— Herr Setz, guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?
— Ja, in gewisser Weise. Hallo –
Ich gab den beiden anderen Männern, die neben Oliver Baumherr standen, die Hand, und sie stellten sich vor. Christian. Paul. Sie waren sofort per Du mit mir.
— Du interessierst dich für Magda? fragte Paul.
— Nein, der Herr Setz hat die beiden Artikel geschrieben, du weißt schon –
— Oh, sicher, ja.
Der Mann namens Paul nickte.
— Wir haben damals ihr Bild rekonstruiert, es war nicht schwierig, weil das Kind nur ein paar Jahre weg war. Und dann hat Ferenc den Rest erledigt.
Der grüne Tee zeigte Wirkung.
— Ferenc? fragte ich. Wo wohnt er?
— Ach der, sagte Oliver Baumherr. Der ist momentan in Brüssel. Oder an einem unbekannten Ort. Je nachdem.
— Ist er ein Nachfahre von…? fragte ich. Wir haben doch gestern gesprochen über…
Oliver Baumherr und Christian Thiel wechselten einen Blick.
— Wie gesagt, Ferenc ist mehr ein Titel. Der alte Hollereith war eine Art Schirmherr für das Ganze. Die Idee ist dieselbe geblieben.
— Okay.
— Kommen Sie, wir haben uns was für Sie überlegt, Herr Setz. Eine kleine Demonstration.
Software
Am wichtigsten sei der Zeitfaktor, sagte Christian. Die Zeit spiele bei der Frage, wo sich eine gesuchte Person aufhalten könnte, wie sie jetzt aussähe oder was genau mit ihr passiert sein mochte, die allerwichtigste Rolle.
Dann erzählte er mir von einem Fall, der sich vor ein paar Jahren zugetragen hatte. Ein russischer Programmierer namens Aleksandr Archin habe, so Christian, mit einer neuen Software für simulierte Alterung für einige Aufregung gesorgt. Sein Programm habe zuverlässiger gearbeitet als die meisten anderen, die es zu dieser Zeit auf dem Markt gab, sein Algorithmus war streng geheim und der Hype in der Szene sei daher entsprechend groß gewesen. Dann seien plötzlich Stimmen laut geworden, dass das Programm zwar sehr schnell sei und auch Resultate liefere, die auf den ersten Blick überzeugend wirkten, was das hypothetische Aussehen der gealterten Vermissten anging, aber zugleich sei die Erfolgs- und Wiedererkennungsquote auffallend gering. Laut Christian hatte es sehr lange gedauert, bis diese vage denunziatorische Kritik einer konkreteren und auch um vieles verblüffenderen Einschätzung Platz machte: die gealterten Bilder glichen einander. Die Leute, denen es zum ersten Mal auffiel, hätten ihren Augen nicht getraut, so Christian, ihm selbst sei es vorgekommen, als habe er monatelang unter Wasser oder auf der erdabgewandten Seite des Mondes gelebt. Ein geradezu schmerzhaftes Erwachen aus der Hypnose. Die Bilder seien zwar eindeutig aus den Quellbildern der vermissten Per-sonen entstanden, aber bei den Wangenknochen, bei dem sich nach oben leicht verjüngenden Schwung der Lippen und, vor allem, bei den einander zustrebenden Augenbrauen habe sich immer dasselbe Muster gezeigt, das oft mit den Urbildern gar nichts zu tun hatte. Man habe natürlich bald die Lösung für dieses Mysterium gefunden: das Foto des russischen Programmierers selbst. Er hatte sein eigenes Antlitz quasi in die Morph-Technologie seiner Software hineinprogrammiert, als allem zugrunde liegende visuelle Konstante, auf die jeder hypothetische Alterungsprozess hinkonvergierte. Wenn etwa ein zwölfjähriges Mädchen, das seit fünf Jahren abgängig war, durch die Software älter gemacht wurde, bekam sie einen zweiten, fremden Blick verpasst: den von Aleksandr Archin.
— An sich ja ein ziemlich virtuoser Stunt, unterbrach Paul Christians Erzählung.
— Hm? machte Christian.
— Na ja, das da reinzuprogrammieren, das ist schon… also, an sich jetzt, schon…
— Jajaja, aber es ist doch absolut kriminell, oder?
— Weiß man, warum er das gemacht hat? fragte ich.
— Ich weiß auch nicht, sagte Paul, vielleicht wollte er die Arbeit von Leuten wie uns sabotieren. Ich meine, es gibt viele Menschen, die etwas dagegen haben.
— Na ja, sagte Christian, ja, ja, das kam auch damals alles schon…, diese Erklärungen, die… sind wirklich überall herumgegeistert. Dass er die Vergangenheit beschützen will und so. Das anonyme Heer von Vermissten, die irgendwo vielleicht noch leben, unerkannt, unter anderem Namen. Dass mehrere untergetauchte Menschen ihm Geld gegeben haben, dass er sich da selbst hineinkopiert. Oder dass er in Wirklichkeit für verschiedene Regierungen arbeitet, die in organisierten Menschenhandel verwickelt sind. Alles schwer zu sagen.
— Aber warum hat er denn dann sein eigenes Gesicht verwendet, sagte ich, ich meine, da gäbe es doch hundert andere Möglichkeiten.
Die Männer zuckten die Achseln.
— Schwer zu sagen, sagte Christian.
— Und es entspricht auch der Struktur solcher Programme, ergänzte Paul, dass man so eine Art konstante Gesichts-maske als Basis verwendet, so eine Art Standardeinstellung der verschiedenen Pivotelemente. Iris, Kinngrübchen, Nasenwurzel, Haaransatz, Wangenknochen et cetera.
— Du hast nicht wirklich eine Ahnung, was gemeint ist? vermutete Christian lachend und deutete auf meinen Notizblock, der während unserer ganzen Unterhaltung aufgeschlagen vor mir gelegen, aber dessen Seiten vollkommen weiß geblieben waren.
Um mir zu demonstrieren, wie so ein Programm funktio-nierte, wollte Christian seine neueste SimulAged-Software, die er sich vor Kurzem angeschafft hatte, mit dem Bild eines vor fast achtzig Jahren verschwundenen Kindes konfrontieren.
Der Junge hatte bis zum Dezember 1927 in der oberösterreichischen Gemeinde Kremsmünster gelebt. Kurz vor seinem siebten Geburtstag war er eines Tages auf einem Tanzfest, bei dem auch seine Eltern anwesend waren, mitten in einer Menschenmenge einfach verschwunden. Die in einem Zeitungsartikel zitierten Eltern berichteten, dass sie ihn gesehen hätten, wie er seelenruhig auf die wild umeinanderwirbelnden Körper zugegangen sei. Ziemlich geradlinig sei er gegangen, so wie es Menschen tun, die zum ersten Mal das Meer sehen und wie ferngesteuert, von uraltem Magnetismus angezogen, auf die sich am Ufer brechenden Wellen zumarschieren. Und wirklich gespenstisch sei es gewesen, mit anzusehen, wie die wirbelnden Gliedmaßen der Tanzenden ihn immer nur ganz knapp verfehlten — und wie er plötzlich nicht mehr da war, verdeckt von Musik und Bewegung und bunter Kleidung. Der Vater habe die Kapelle gebeten, für einen Augenblick mit dem Spielen aufzuhören, sein Sohn sei da irgendwo auf der Tanzfläche. Verständnisvoll und amüsiert habe der Kapellmeister auf diese Bitte reagiert, heißt es. Man begann zu suchen, aber der Junge war nirgends, immer mehr Menschen schlossen sich an, man schaute überall nach, unter jedem Tisch, sogar die Dielen des Tanzbodens untersuchte man, ob eine davon vielleicht locker war. Aber man fand nichts. Der Junge blieb verschwunden. Einige Jahre später erklärte man ihn für tot, und ein leerer Kindersarg, den statt sechs nur zwei Männer trugen, wurde in ein Grab gelegt.
Christian Thiel hatte den Artikel mit dem unscharfen Porträtfoto des Jungen durch Zufall in einer Sammlung alter Zeitungen entdeckt. Ich stand daneben, während er das Bild einscannte. Die leisen Seufzer des Scanners erinnerten an das Geräusch auseinandergleitender Lifttüren in einem exquisiten Hotel. Die Software, für die Christian fast dreitausend Euro hingeblättert hatte, um sie den verzweifelten, nach jedem Strohhalm greifenden Kunden seiner Agentur zur Verfügung stellen zu können, brauchte nur wenige Sekunden, bis sie das Ergebnis berechnet hatte. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines sehr alten Mannes. Christian probierte einige Frisuren und Barttrachten aus und entschied sich schließlich für einen dichten Vollbart.
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